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»Was ist das doch für ein originelles (originalnaja) kapitalistisches Land,« sagt Lenin, da er Australien anläßlich der Parlamentswahlen 1913 einer Analyse unterzieht, »wo die Arbeiter das Oberhaus beherrschen und vor kurzer Zeit auch das Unterhaus beherrscht haben, ohne daß dadurch das kapitalistische System in irgendeiner Weise gefährdet war?«
Das Problem war auch für Europa wichtig. Vom deutschen Kaiserthron herab war wenige Jahre vorher das Volk aufgerufen worden, zwischen sich und den Sozialisten, diesen vaterlandslosen Gesellen das Tischtuch zu zerschneiden. In Rußland wurden Sozialdemokraten verfolgt und verbannt, in anderen Ländern wurde die Unmöglichkeit eines sozialistischen »Zukunftsstaats« zu beweisen versucht, völliger Zusammenbruch der Wirtschaft und offene Anarchie beschwörend prophezeit.
Inzwischen aber rückte in Australien die Arbeiterpartei zur Parlamentsmehrheit auf und übernahm sogar die Regierung. Und was geschah? Nichts geschah, keine von den düsteren Voraussagen erfüllte sich. »Seht hin, die sind anders als unsere Sozialisten,« riefen die europäischen Regierungen und ihre Parteien, »die sind staatserhaltend und national.«
»Jawohl,« antworteten die reformistischen Arbeiterführer, »in Australien ist gezeigt, daß wir Sozialisten zu 341 regieren verstehen, ohne den Staatsapparat und das Eigentum anzutasten.«
Diese Auffassungen wehrt Lenin mit der Feststellung ab, daß die australische Labor Party keine sozialistische Partei sei, nicht einmal nominell. »Sie ist in Wirklichkeit eine liberalbürgerliche Partei, während die sogenannten australischen Liberalen Konservative sind.«
Lenin weist darauf hin, daß eine solche Verschleierung von Parteizielen durch sonderbare und unrichtige Parteinamen nicht vereinzelt dasteht: in Amerika nennen die Sklavenhalter von gestern ihre Partei »demokratisch«, und in Frankreich seien die kleinbürgerlichen Feinde des Sozialismus als »Radikal-Sozialisten« zusammengeschlossen. Nicht nach ihrem Aushängeschild also sei die wahre Bedeutung einer Partei zu beurteilen, sondern man müsse ihren Klassencharakter und die historischen Bedingungen ihres Landes untersuchen. Er tut das selbst, und schreibt in seinem (deutsch bisher nicht erschienenen) Artikel in der »Prawda« vom 26. Juni 1913:
»Der Kapitalismus in Australien ist noch immer sehr jugendlich. Das Land beginnt erst, sich zu einem selbständigen Staat zu entwickeln. Die Arbeiter sind meist Einwanderer aus England. Sie haben England zu einer Zeit verlassen, als die liberale Arbeiterpolitik in diesem Lande fast uneingeschränkt herrschte, und die Masse der englischen Arbeiter aus Liberalen bestand. In England besteht noch heute die Mehrheit der qualifizierten, geschulten Fabrikarbeiter aus Liberalen und Halb-Liberalen, was ein Ergebnis der außergewöhnlich vorteilhaften Monopolstellung ist, die England in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts besaß. Erst jetzt beginnen die Arbeitermassen Englands (wenn auch langsam), sich dem Sozialismus zuzuwenden.
Und wenn in England die sogenannte »Arbeiterpartei« 342 ein Bündnis zwischen den nichtsozialistischen Gewerkschaften und der äußerst opportunistischen »Unabhängigen Arbeiterpartei« darstellt, so stellt in Australien die Arbeiterpartei eine reine Vertretung der nicht sozialistischen Gewerkschaften dar.
Die Führer der australischen Arbeiterpartei sind Gewerkschaftsbeamte, also ein Element, das allenthalben ein äußerst gemäßigtes und dem Kapital gehorsames (»kapitaloposluschni«) ist, aber in Australien ganz friedlich und rein liberal.
Die Verbindung der einzelnen Staaten Australiens zu einem einheitlichen Australien ist noch sehr lose. Der Arbeiterpartei kam es zu, auf die Festigung dieser Verbindung, auf die Schaffung einer Zentralregierung hinzuwirken.
Die Arbeiterpartei in Australien hat das durchgeführt, was in anderen Ländern die Liberalen durchführten: einen gemeinsamen Zolltarif für das ganze Land, ein gemeinsames Schulgesetz, eine gemeinsame Grundsteuer und eine gemeinsame Fabrikgesetzgebung.
Selbstverständlich wird sich mit der schließlichen Entwicklung und Konsolidierung Australiens zu einem selbständigen kapitalistischen Staat die Lage der Arbeiter verändern, und ändern wird sich die liberale »Arbeiterpartei«, indem sie einer sozialistischen Arbeiterpartei Platz machen wird. Das Beispiel von Australien bildet bloß eine Illustration zu den Bedingungen, unter denen Ausnahmen von der Regel möglich sind. Die Regel ist eine sozialistische Arbeiterpartei in einem kapitalistischen Land. Die Ausnahme ist eine liberale Arbeiterpartei, und sie kann sich, dank besonderer, für den Kapitalismus im allgemeinen nicht normaler Bedingungen, nur eine Zeitlang entwickeln.
Jene Liberalen in Europa und Rußland, welche versuchen, das Volk die Überflüssigkeit des Klassenkampfes zu »lehren«, indem sie auf das Beispiel Australiens hinweisen, betrügen nur sich selbst und die anderen. Es ist lächerlich, zu glauben, man könne die australischen Bedingungen (die einer unentwickelten jungen Kolonie, besiedelt von liberalen britischen Arbeitern) verpflanzen 343 in Länder mit längstgegründeter Staatsmacht und entwickeltem Kapitalismus.«
Noch heute besteht in Australien der von Lenin betonte Einfluß der eingewanderten englischen Arbeiter, – die verschiedenen ökonomischen Epochen, in denen die Arbeiter das Mutterland verließen, sind im Tochterland wie Schichtenlinien erkennbar. Schon vor der manchesterliberalen Periode, schon in der Zeit, da die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals abschloß und die industrielle Revolution, der Übergang von der Manufaktur zur Industrie sich vollzog, hatte England den zwei Menschenalter währenden Sträflingstransport nach Australien begonnen.
In dieser Kategorie der ersten weißen Bewohner Australiens fanden sich unfreiwillige Abgesandte der vielfach schattierten englischen Arbeiterbewegungen, Mitglieder von Thomas Hardys Londoner Korrespondierenden Gesellschaft, die schottischen Menschenrechtler Muir, Gerard und Margarot, Anhänger der französischen Girondisten und Anhänger der Jakobiner, ludditische Maschinenstürmer, Kämpfer für die irische Unabhängigkeit, die Bristoler Chartisten Frost, Jones und Williams, und Männer der 1838-Charte aus anderen Industriebezirken, Pioniere des Trade-Unionismus und Kommunisten.
Sie brachten ihre Lehren in das weltenfern entlegene Inselexil mit, wo sie sich tiefer verankerten als, um die Formulierung Lenins anzuwenden, »in den Ländern mit längstgegründeter Staatsmacht und entwickeltem Kapitalismus«.
Die freiwillige Einwanderung, die der Lohnarbeiter, »die England zu einer Zeit verlassen hatten, als die liberale Arbeiterpolitik in diesem Lande fast uneingeschränkt herrschte«, 344 senkte neue Saaten in den australischen Boden. So sproß und wuchs es auf den jungfräulichen Fluren, aber nicht von einheitlicher Frucht, sondern Kraut und Rüben durcheinander, und selbst die waren Kreuzungen.
Die Labor Party, die einander oft widersprechenden Ideen in sich vereinigend, war schon bei ihrer Gründung liberal und ist es geblieben. Sie läßt jedes ihrer Mitglieder nach seiner Fasson selig werden, und jedes Nichtmitglied auch, und wenn die Seligkeit ausbleibt, dann ist es eben keineswegs Schuld der Partei. Von einer theoretischen Schulung ihrer Mitglieder entdeckt man auch nicht die leiseste Spur, und wie sollte auch eine theoretische Ausbildung vorgenommen werden, wo keine Theorie vorhanden, die Partei eine Partei ohne Doktrin ist? Wohl interessiert sich mancher Labor-Mann für Gesellschaftskunde, fast jeder aber hängt einem anderen System an. Bei manchen Diskussionen glaubt man, im Chaos des Frühsozialismus zu Gaste zu sein, und kaum ist dieser Gedanke aufgetaucht, da holt auch schon ein verspäteter Frühsozialist vergilbte Blätter hervor, eine Broschüre, aus der er seine Weisheit schöpft, ein Familienerbstück.
Die Labor Party hat schon vor dem Kriege ihr Glück errungen, das den europäischen Sozialdemokraten erst nach dem Krieg beschieden war: das Glück, die Regierung bilden zu dürfen. Aber der Zeitunterschied ist nicht der einzige Unterschied.
In Europa erteilte der Kapitalismus den Sozialdemokraten die Prokura, wenn er seine Existenz durch revolutionäre Wellen bedroht sah; in diesem Falle suchte er sich Prokuristen aus, die ebensolche Feinde der Revolution waren, wie er selbst, und die sich nach beendigter Gefahr verabschieden ließen. 345
Anders in Australien. Die 1890 in Stadt und Land und auf dem Meer (den Wollschiffen und Küstendampfern) einsetzenden großen Lohnbewegungen und die Erregung darüber, daß die Regierung alle Machtmittel zugunsten der Unternehmer anwandte, gebaren den Wunsch der Arbeiter nach einer eigenen politischen Vertretung.
Vorher schon waren drei Arbeiterführer als Vorpatrouille der Labor Party am politischen Horizont erschienen; Dr. Maloney wurde 1889 in Melbourne gewählt, Frank Cotton und Arthur Rae kandidierten in Sydney.
Gegen diese Arbeiterkandidaten läutete insbesondere der Klerus der »Orange«, der protestantischen Nordirländer, die Sturmglocke und zeterte von den Kanzeln gegen die Hetzer, die sich an Gesetz und Obrigkeit versündigen, die sparsamen Bürger zwingen wollen, ihr durch Fleiß erworbenes Vermögen mit müssiggängerischen Habenichtsen zu teilen.
Ein Priester nur stellte sich an die Seite der drei Vorkämpfer. Er blieb auch in den weiteren Kämpfen ihr Freund, und wir sahen sie, Frank Cotton, Dr. Maloney und Arthur Rae, schmerzerfüllt dabeistehen, als fünfundvierzig Jahre später, er, der Friedenspriester Arthur Rivett auf der Rednertribüne in Sydney Domain starb.
Für die nächsten Wahlen gründeten die Gewerkschaften eigene Wählerligen, und beim ersten Wahlgang fielen ihren Kandidaten 36 Sitze im neusüdwalisischen Parlament, 10 im victorianischen und 16 im queenslandischen zu.
Nach diesen Siegen erklärte sich die Wählerliga jedes Bezirks unter dem Namen »Labor Party« in Permanenz, ohne sich mit den Labor Parties der anderen Bezirke zu vereinigen, und bis zum heutigen Tage gibt es nur selbständige Ortsgruppen der Labor Party, aber keine zentrale Labor Party. 346
Einige Jahre lang unterstützten die Labor-Abgeordneten als »reine Vertretung der nichtsozialistischen Gewerkschaften« die bürgerlichen Regierungen, wofür sie Konzessionen auf gewerkschaftlichem Gebiet erhielten. Um die Jahrhundertwende erlangten sie in den Staatsparlamenten die Mehrheit, bildeten Regierungen und 1904 zum erstenmal die Bundesregierung.
Die Wahlsiege der Labor Party waren nicht Siege über eine andere Massenpartei, es gab keine. Bislang hatten sich Einzelpersonen zur Wahl gestellt, teils Anhänger von Schutzzöllen, teils Anhänger des Freihandels, im Parlament in zwei einander scharf bekämpfende Gruppen geschieden. Auf beiden Seiten gab es Konservative und Liberale, die Liberalen waren in der Mehrheit, denn liberal war die Mehrheit der Wähler, Kleinfarmer und Arbeiter.
Im Augenblick, da die Labor Party ins Parlament einzog, waren freilich die mörderischen Gegensätze zwischen Freihändlern und Schutzzöllnern keine mörderischen Gegensätze, überhaupt keine Gegensätze mehr, Konservative und Liberale reichten einander die Bruderhand, handelten konservativ und nannten sich liberal. Gemeinsam ging es gegen die neuen Liberalen, die sich Labor Party nannten.
Mit besonderer Heftigkeit wurde das »Caucus«-System der Labor-Abgeordneten angegriffen. Auch der Bundesministerpräsident Australiens, Deakin, den die Labor-Abgeordneten mit ihrem »Caucus« so oft unterstützt hatten, machte ihnen diesen Caucus zum Vorwurf, allerdings erst, nachdem er seinen Platz einem Labor-Mann geräumt hatte und in Opposition stand.
Die Angriffe gegen den »Caucus« spielen noch heute eine Rolle in den Parlamentsdebatten, die Konservativen 347 verlangen sein Verbot, weil er die freie Meinung der Abgeordneten vergewaltige; die parlamentarische Rede werde überflüssig und sinnlos, denn der durch den Caucus gebundene Abgeordnete dürfe sich nicht von ihr überzeugen lassen.
Wer aber, zum Teufel, ist das, dieser Wauwau, der verfluchte Caucus? Er ist nichts anderes als der Fraktionsbeschluß. In der Klubsitzung der Labor Party wird das Programm der bevorstehenden Parlamentstagung durchgesprochen und über die Stellungnahme abgestimmt. Hernach hat jedes Mitglied Fraktionsdisziplin zu halten, das heißt im Abgeordnetenhaus so aufzutreten, wie es die Mehrheit seiner Parteigenossen beschlossen hat, auch wenn er im Klub zur Minderheit gehörte.
Für die australische Labor Party bedeutet der Fraktionsbeschluß allerdings mehr, als für die Parlamentsgruppen in Europa. Er ist ihr Ersatz für das nicht vorhandene Programm und die nicht vorhandene Theorie. Ohne diesen einzigen, wenig liberalen und wenig individualistischen Zwang würde der Liberalismus und Individualismus der Labor-Abgeordneten so weit gehen, daß im offenen Hause jeder eine andere Stellung einnähme, je nachdem, welches Weltanschauungssystem er sich konstruiert oder vom Urgroßvater her ererbt hat.
Labor, im Parlament die Mehrheit bildend und dort durch den Caucus zu taktisch fester Einheit zusammengeschlossen, im Lande auf einer starken, der stärksten Massenbasis fußend, auf den Gewerkschaften, schien den Regierungsapparat dieses reichen, von keiner kriegerischen Invasion bedrohten Landes für alle Zeiten in den Händen zu halten und sich zu ungeahnter Blüte entfalten zu wollen.
Die Labor-Führer hätten Lenins Urteil überlegen 348 belächelt, das ihrer Partei nur eine kurze Spanne der Entwicklung zugestand. Sie waren überzeugt, ein ewiges Arbeiterparadies zu schaffen, aus dem die Arbeiter niemals vertrieben werden können.
Dieweil sie es schufen, lockte die Schlange: Iß diesen Apfel und du wirst sein wie Gott Kapital und anerkannt von allen Bürgern um deiner Weisheit und Milde willen. Die Labor-Regierung erlag der Lockung, sie führte genau das durch, »was in anderen Ländern die Liberalen durchführten: einen gemeinsamen Zolltarif für das ganze Land, ein gemeinsames Schulgesetz, eine gemeinsame Grundsteuer und eine gemeinsame Fabrikgesetzgebung.«
Ähnliche Regierungsbeschlüsse folgten. Nur eine Miniatur in ihrer Galerie ist der Baby Bonus, jedoch diese Miniatur illustriert vielleicht besser als ein Kolossalgemälde die Staatskunst und den Liberalismus der Labor Party.
Der Baby Bonus ist 1912 von der Labor-Regierung Andrew Fisher zwecks Förderung der Kinderzeugung erlassen worden und bestand in einem Staatsgeschenk von 5 Pfund Sterling bei der Geburt eines Kindes. Mit Ausnahme der schwarzen Eingeborenenfrauen hatte jede zur Mutter gewordene Australierin darauf ein Anrecht, ob Millionärin oder Bettelfrau, denn die Arbeiterregierung lehnte es ab, einen Klassenunterschied zu machen, sie huldigte dem von Anatole France formulierten Grundsatz: »Das Gesetz in seiner erhabenen Majestät verbietet es gleichermaßen den Armen wie den Reichen, unter Brückenbögen zu schlafen und im Bäckerladen ein Brot zu stehlen . . .«
Nicht die Werktätigen verwahrten sich dagegen, daß die Wohlhabenden den gleichen Betrag erhielten wie sie, sondern es protestierten die Wohlhabenden. In Zuschriften an 349 die Zeitungen und in Beschlüssen ihrer Vereine erklärten sie, eine solche Prämie sei beleidigend, keine Frau von Ehre werde sich ihr höchstes Glück, das der Mutterwerdung, durch eine Vergütung, eine Entschädigung, eine milde Gabe, ein Trinkgeld entwerten lassen.
Das Labor-Ministerium war sehr betroffen. Es hatte eigens darauf verzichtet, den Baby Bonus als Anspruch jeder werktätigen Frau oder jeder Frau eines Werktätigen, jedes Steuerzahlers niedrigerer Kategorie im Gesetz zu verankern, es hatte den kostspieligen und ungerechten Weg der Gleichheit gewählt, nur um jeden Hauch von Voreingenommenheit für eine Klasse zu vermeiden. Und nun schrieen die Begüterten, der Baby Bonus sei ein Almosen und entwürdigend, und proklamierten geschlossen, ihn nicht anzunehmen.
Auf den Sturmwellen des Boykotts steuerte die Kriegsflotte der bürgerlichen Opposition im Bundesparlament gegen die Fisher-Männer. Deren Boot drohte zu kentern. Es kenterte nicht. Denn Andrew Fisher vermochte eine Statistik vorzulegen, derzufolge der Baby Bonus bei allen Neugeburten abgehoben worden war, zu hundert Prozent, also einschließlich der Boykotteure.
Zwanzig Jahre lang wurde der Scheck an jeden Säugling ausgegeben, erst die Regierung des Anti-Labor-Mannes Lyons schränkte die Prämie auf Familien mit einem Jahreseinkommen von weniger als 260 Pfund Sterling ein, und auch diese bekamen statt fünf Pfund nur vier. Nun protestierte die Labor Party. Aber sie protestierte nicht gegen den Abzug von einem Pfund, sie protestierte dagegen, daß man den Bonus den Reichen wegnahm, wodurch »the maternity allowance is now in the nature of charity«, die 350 Mutterschaftsbegünstigung jetzt den Charakter von Wohltätigkeit trägt. (Labor Year Book, 1934–1935.)
Wenn die Labor Party über das, »was in anderen Ländern die Liberalen durchführten«, hinauszugehen versuchte, wie zum Beispiel in Queensland, wo sie einen Teil der Nahrungsmittelindustrie und des Nahrungsmittelhandels verstaatlichte, geschah es, ohne die privatkapitalistische Konkurrenz anzutasten. Binnen wenigen Monaten gelang es den Privatunternehmern, die neuen Betriebe zu korrumpieren, die Angestellten der staatlichen Fleischerläden und Bäckereien tauschten ihre Ware gegen die schlechtere des privaten Händlers um, der ihnen dafür eine Provision zahlte, die Produkte der staatlichen Konservenfabrik wurden von den Privatfabriken unterboten, und die staatliche Lebensmittelversorgung endete mit einem Kladderadatsch.
Auf der Linie der Arbeiterpolitik setzte die Labor Party die alten Einwanderungsbeschränkungen gegen ausländische Arbeiter (die zünftlerische Forderung der Trade Unions), vor allem gegen farbige, energisch und mit der patriotischen Begründung fort: Reinhaltung des britischen Charakters von Australien.
In der Tat wurden während der Konjunktur die Löhne hochgehalten, und so »den Liberalen in Europa und Rußland, welche versuchen, das Volk die Überflüssigkeit des Klassenkampfes zu lehren, indem sie auf das Beispiel Australiens hinweisen«, die Handhabe dazu gegeben, sich selbst und die anderen zu betrügen.
Was aber war das endgültige Ergebnis dieser Schutzzölle gegen die Einfuhr von Arbeitskraft? Der größte Teil Australiens, insbesondere die heißeren Gebiete, blieb unbesiedelt, das Fabrikwesen entwickelte sich nicht, und die industrielle 351 Reserevarmee wuchs stärker, als sie durch eine vollkommen freigegebene Einwanderung je hätte wachsen können.
Daß die Labor-Führer den Weltkrieg nicht als einen imperialistischen erkannten und daß sie sich für die Entsendung australischer Truppen auf den Kriegsschauplatz einsetzten, war selbstverständlich; wie hätten sie, Nichtsozialisten, anders entscheiden sollen, wenn selbst die europäischen Sozialdemokraten nicht anders entschieden? Ministerpräsident Andrew Fisher verkündete bei Kriegsausbruch, Australien sei bereit, »den letzten Mann und den letzten Shilling« für die Unterstützung des Empires herzugeben, und am 4. August wurde der deutsche Dampfer »Pfalz«, als er den Melbourner Hafen verlassen wollte, durch einen Kanonenschuß daran verhindert, – der erste Schuß des Weltkrieges wurde also in Labor-Australien abgegeben.Bei dieser Gelegenheit seien zwei andere Vorfälle aus dem Weltkrieg erwähnt. Der Mann, der in der New-Yorker Hochbahn die Aktentasche Franz von Papens mit einer anderen vertauschte und auf Grund des so erbeuteten Materials die Kriegserklärung Amerikas an Deutschland mit veranlaßte, war ein Australier, Guy Gaunt aus Ballarat, jetzt Vize-Admiral. – Ferner wurde der erfolgreichste deutsche Kampfflieger Richthofen abgeschossen, während er über den australischen Schützengräben mit dem Leutnant W. R. May aus Melbourne und dem Kanadier Roy Brown in einem Luftgefecht begriffen war. Als die Australier unter dem zertrümmerten roten Fokker die Leiche erkannten, stammelten sie: »Christ, we got the bloody baron – Herrgott, wir haben den roten Baron erwischt.«
Bereits vor 1914 hatte die Labor-Regierung obligatorische Waffenübungen eingeführt, aber in dem Defense Act war nur vom Heimatschutz innerhalb Australiens die Rede. Teils um dem Gesetz nicht zuwiderzuhandeln, teils in der Auffassung, eine Freiwilligenarmee kämpfe besser als eine Zwangsarmee, wurden, so wie in England, nur Freiwillige angeworben, allerdings mit allen Mitteln. 352
Zu Zehntausenden fuhren Australier davon, beordert, den im Weltkrieg vereinzelt gebliebenen Versuch einer Landung auf feindlichem Boden zu machen; viertausend türkische Kanonen, ausnahmslos Fabrikat von Vickers-Armstrong (England), mähten die Freiwilligen auf Gallipoli nieder.
Ende 1915 trat der Labor-Mann William M. Hughes das Amt des Bundespremiers an. Auf einer Reise nach England war er von Lloyd George und den »Times« mit dem Lob bedacht worden, er verdiene Premierminister des ganzen Empires zu werden. Ob es wegen dieser Schmeichelei war, oder ob man ihm schon damals das Geschenk von 25.000 Pfund Sterling versprochen hatte, das er nach dem Krieg bekam, wie dem auch sei, Billy Hughes kehrte heim, fest entschlossen, die allgemeine Dienstpflicht (Conscription) in Australien durchzusetzen.
England und Neuseeland führten sie 1916 ein, in Australien ging das nicht so leicht. Eine Gegenagitation von mächtigem Ausmaß begann. An ihrer Spitze stand Percy Brookfield, Labor-Mitglied des Parlaments von Neusüdwales, ein Schüler des englischen Arbeiterführers Tom Man, der zu Anfang des Jahrhunderts in Australien gewirkt hatte. Brookfield entfaltete in den Silberbergwerken von Broken Hill und in der Sydney Domain eine große Anti-Conscription-Bewegung und entlarvte den Plan von Billy Hughes, jeden Streik durch Einberufung der Führer zu den Waffen unmöglich zu machen und durch Einführung der Dienstpflicht den Gewerkschaften das Rückgrat zu brechen. (Kurz nach dem Krieg fand Percy Brookfield einen plötzlichen Tod: ein Geisteskranker fuchtelte auf einem Bahnhof mit einem Revolver herum und erschoß Brookfield, der ihm die Waffe 353 entreißen wollte. Gleichzeitig erschien in den Zeitungen die Nachricht, daß Hughes von patriotischen Bürgern die Ehrengabe von 25.000 Pfund Sterling erhalten hatte.)
Eine andere Gruppe, die Industrial Workers of the World, störte die Dienstpflichtagitation durch unbeanstandbare »Werbungs«-Plakate: »Zu den Waffen! Kapitalisten, Geistliche, Politiker, Redakteure und andere Hinterlandspatrioten, euer Land braucht euch in den Schützengräben. Arbeiter, tut das, was eure Herren tun!«
Unter den Iren Australiens, den Sinnfeiners, bestand gleichfalls keine Neigung, England durch allgemeine Dienstpflicht zu unterstützen; ihr Sprecher war kein Geringerer als der Erzbischof von Melbourne, Dr. Mannix, dem man schwer zu Leibe rücken konnte.
Eklatanter als je zuvor tat sich beim Gros der Labor-Abgeordneten ihr Liberalismus kund. Krieg? Ja. Massentransporte auf die Schlachtfelder? Ja. Aber Dienstpflicht? Zwang? Nein, und abermals Nein!!
Von 72 seiner Parteigenossen im Bundesparlament konnte Billy Hughes nur sechs für die Einführung der Dienstpflicht durch Parlamentsbeschluß gewinnen. Selbst in seinem Ministerrat (der war allerdings nicht von ihm, sondern durch den Caucus zusammengestellt) fand Hughes keine Mehrheit. Er entschloß sich, seinen Willen im Wege eines Plebiszits durchzusetzen, und dabei fiel ihm – wohl zum erstenmal – ein, sich der internationalen Arbeiterorganisationen zu bedienen. Billy Hughes erbat von den französischen und belgischen Führern der Zweiten Internationale Beschlüsse und Botschaften an die australischen Genossen: »Stimmt für die allgemeine Dienstpflicht!«
Überdies wandte sich Hughes, ohne daß seine Partei 354 davon wußte, an den englischen General Birdwood, in dessen Armeeverband die australischen Truppen kämpften, er möge diese beeinflussen, den Volksentscheid mit einem einmütigen Ja zu beantworten. General Birdwood verfaßte einen flammenden Aufruf. Es nützte nichts. Die australischen Soldaten stimmten mit überwältigender Mehrheit gegen die Dienstpflicht, die Ziffern wurden offiziell nie veröffentlicht, doch sollen 106.000 Nein- und nur 40.000 Ja-Stimmen gezählt worden sein. Die in Australien vorgenommene Abstimmung unter der Zivilbevölkerung ergab 1,160.033 Nein gegen 1,087.557 Ja.
Auf Geheiß von Hughes war in den australischen Abstimmungslokalen jeder Mann einem Kreuzverhör darüber unterworfen worden, warum er sich bisher nicht zum Militärdienst gemeldet habe.
Ermutigt durch das Mißtrauensvotum des Volkes gegen Hughes, schloß ihn die Labor Party wegen undemokratischer Beeinflussung der Abstimmung aus ihren Reihen aus. Weder aber übernahm die Labor Party die neue Regierung, noch hinderte sie Hughes daran, ein anderes Ministerium, das einer Nationalen Koalition, zu bilden; mit Billy Hughes traten einige Labor-Abgeordnete aus der Labor Party aus und vereinigten sich, ohne mit der Wimper zu zucken, mit den Konservativen zu einer bürgerlichen Partei.
Hughes ordnete abermals einen Volksentscheid an, 7. November 1917. Diesmal wurde Australien nicht offen gefragt, ob Dienstpflicht eingeführt werden solle, sondern nur, ob es mit den Regierungsvorschlägen zur militärischen Verstärkung einverstanden sei. »Nein« antworteten die Soldaten, »Nein« antwortete die Mehrheit der Bevölkerung. 355
So lieferte Australien dem Weltkrieg nur Freiwillige, und hat nicht seinen letzten Mann hergeben müssen. Der andere Teil des Versprechens von Andrew Fisher aber wurde wahrgemacht, den letzten Shilling hat Australien hergegeben. Die Regierung hatte seinerzeit mit großmannssüchtiger Geste erklärt, alle Kosten zurückzuzahlen, die England für die australischen Truppen und Schiffe im Krieg auslegen würde, und diese Schuldensumme ist bis zum heutigen Tag auf 794 Millionen Pfund Sterling angelaufen.
Dennoch wirtschaftete Australien weiter, als ob es aus dem Vollen zu schöpfen hätte. 1927 ward Canberra geboren, ein »Weißer Elefant«, eine überflüssige, defizitäre Einrichtung. Canberra ist eine Hauptstadt ohne Bevölkerung und mit ungeheuren Verwaltungskosten. Da weder Sydney seiner Rivalin Melbourne, noch Melbourne seiner Rivalin Sydney gönnen wollte, die allaustralische Kapitale zu sein, wurde auf neutralem Urwaldgebiet Canberra errichtet, nach dem Muster von Washington. Allerdings werden von Washington aus 48 Staaten mit hundertzwanzig Millionen Menschen regiert, während das britische Dominion Australien aus sechs Staaten mit kaum sieben Millionen Bewohnern besteht, und nur wenige Ressorts zentralistisch verwaltet werden.
Zwar war es keine Labor-Regierung, die diese unzeitgemäße Stadt gründete, aber Labor saß in allen Parlamenten, ohne die Rivalität zwischen den Staaten zu schlichten, ohne die kostspielige und reaktionäre Lösung des Problems zu verhindern. Der reaktionäre Grundgedanke bei der Erbauung von Canberra war: die Hauptstadt sollte weder in einem Industriegebiet, noch an einem Seehafen liegen, um dem Einfluß der Straße nicht ausgesetzt zu sein. Aus der gleichen 356 Erwägung hatte Ludwig XVI. die Stände nicht nach Paris, sondern nach Versailles einberufen, 1789 . . .
Mit diesem Register von Schuld und Schulden konnte Australien der Krise nicht begegnen, und als nach zwölfjähriger Opposition wieder eine Labor-Regierung (Scullin 1929) ans Ruder des Commonwealth gelassen wurde, geschah es, damit sie zu einer von den Ministerpräsidenten der Bundesstaaten beschlossenen allgemeinen Lohnreduktion und zur Einschränkung sozialer Einrichtungen ihre Mitwirkung leihe und dann demissioniere.
Die von Lenin vorausgesagte Änderung in der Struktur der Labor Party vollzieht sich vor allem in der Form innerer Opposition. Von der Labor Party spaltete sich die etwas radikalere, aber nicht marxistische State Labor Party ab, deren Führer Jack Lang (äußerlich dem deutschen Abgeordneten Gustav Noske zum Verwechseln ähnlich), 1930 die Premierministerschaft von Neusüdwales erlangte.
Anderthalb Jahre darauf wurde er vom britischen Gouverneur abgesetzt. Langs Gegner beschuldigen ihn, seine Abberufung selbst eingefädelt zu haben, Langs Anhänger hingegen erklären, er habe seine Politik konsequent verfolgt, obwohl er voraussah, wegen dieser Politik abgesetzt zu werden. Jedenfalls hat der zur Vertretung der Arbeiterinteressen gewählte Lang freundlich grüßend sein Amt verlassen, als ihn ein Beamter der Krone per sofort kündigte.
Auch durch die Existenz der Kommunistischen Partei wird die Struktur der Labor Party beeinflußt. Bei den letzten Wahlen gab es 80.000 kommunistische Wähler, einige Gewerkschaften stehen unter kommunistischer Führung; das Verbot, ihre Presse mit der Post zu befördern und ihre Literatur auf den »Plätzen der freien Rede« zu 357 verschleißen, eine hohe Kaution, die für jede Wahlliste verlangt wird, die Wahlgeometrie und viele Verfolgungen erschwerten den Kommunisten die Erlangung eines Mandats.
In der wirtschaftlichen Lage der arbeitenden Klasse Australiens läßt sich, obwohl das Land von der Natur begünstigt ist wie wenige, kaum eine Spur vom Arbeiterparadies entdecken.
Lange bevor die Labor Party in Erscheinung trat, hatte Marx festgestellt, wie der Kapitalismus seine Eroberung der Welt durch die Eroberung Australiens beendet habe, »sodaß fast jedes Postdampfschiff die Hiobspost einer Überfüllung des australischen Arbeitsmarktes – ›glut of the Australian labourmarket‹ – bringt und die Prostitution dort stellenweise so üppig gedeiht wie auf dem Haymarket in London.«
Selbst während der Herrschaftsperiode der hohen Löhne gab es Arbeitslosigkeit; zu der von Marx als eine ihrer Ursachen gebrandmarkten »Konkurrenz, welche der Import englischer Waren selbst dem kleinsten Handwerker macht«, ist heute die Konkurrenz der japanischen Waren getreten, und die Arbeitslosigkeit ist seither ins Ungemessene gewachsen. Die Elendenbezirke, einst nur Lumpenproletariat beherbergend, schließen nun die Arbeitervorstädte ein; wenn auch der lokalpatriotische Bürger nichts davon wissen will, es sieht in den Stadtteilen Wooloomooloo, Pyrmont, Surry Hills, Ultimo, Redfern und Paddington schlimmer aus, als in Whitechapel zu Marxens Zeiten.
Und die Prostitution? So respektgebietend sich in London der Hurenauftrieb bei Haymarket und Piccadilly Circus in den letzten zwei Menschenaltern vergrößert hat, das nächtliche Angebot bei Little Lon (liebevoller Diminutiv für 358 Little Lonsdale Street) in Melbourne, und zwischen Palmer Street und Kings Cross in Sydney, kann sich vor London in Ehren sehen lassen.
Durch die Herrschaft der liberalen Arbeiterpartei, die sich, wie Lenin es ihr vorhergesagt, »dank besonderer, für den Kapitalismus im allgemeinen nicht normaler Bedingungen, nur eine Zeitlang entwickeln« konnte, wurde also das kapitalistische System in keiner Weise gefährdet. Sogar seine ärgsten Schwären bestehen in Australien im gleichen erschreckenden Ausmaß wie in anderen Ländern. 359