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Frag nicht viel nach Haifischen, Fremdling.
Merk dir, Fremdling, es gibt Haifisch-Wachtürme, es gibt Badeplätze mit haifischsicheren Netzen, es gibt Haifisch-Alarmglocken, es gibt Berichte über Haifisch-Überfälle in den Zeitungen, es gibt das Lebensretter-Korps, mit dem Rettungsseil an der Winde, all das gibt es und dessen rühmt man sich sogar. (Mit Ausnahme der Haifisch-Überfälle.)
Aber Haifische selbst? Haifische gibt es nicht, Fremdling, und wenn es sie gibt, so sind sie nicht der Rede wert. Sogar das Shark Menace Advisory Committee von Sydney hat in seinem Jahresbericht sich selbst die Bedeutung abgesprochen, indem es erklärte, durch Auto-Unfälle kämen unvergleichlich mehr Leute um, als durch Haifische, ohne daß man darüber Zeter und Mordio schreie und von Gott und der Welt ein Einschreiten verlange; in Anbetracht der Hunderttausende von Badenden sei die Zahl der Haifisch-Opfer geradezu lächerlich gering.
In dem gleichen Communiqué, in dem der Haifischgefahr-Beratungs-Ausschuß die Haifischgefahr so kategorisch in Abrede stellt, macht er umfassende und kostspielige Vorschläge, um diese Gefahr zu bannen. Erstens: 296 Flugzeugpatrouillen, mit Radio ausgerüstet, sollen die Strandbäder und den vorgelagerten Bezirk des Ozeans beäugen, damit bei ihrem Funktelegramm ein in Bereitschaft liegendes Motorboot unverzüglich gegen den nahenden Feind ausrücke. Zweitens: Ausschreibung hoher Fangprämien für jeden im Hafen erlegten Hai. Drittens: eine permanente haifischsichere Abschließung der zwanzig wichtigsten Badeplätze; solche metallene Netze würden zwar über eine Million Pfund Sterling kosten, jedoch bei Einhebung eines Pennys per Badegast wäre die Ausgabe bald zu decken.
Aus den Debatten, die sich über die Vorschläge entspannen, ging deutlich die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den bestehenden Sicherungsmaßnahmen und mit dem Zustand hervor, daß Raubfische im Stadtgebiet auftauchen und sich von den Steuerzahlern abbeißen, was ihnen paßt.
Bislang haben nur einige bevorzugte Badeplätze ein Sicherheitsnetz. Auf den übrigen steht das Korps der Lebensretter, ein philanthropischer Sportklub, als Leibwache da. Wegen dieser freiwillig übernommenen Aufgabe und mehr noch, weil sie sonngebräunte, gutgebaute, halbnackte Jünglinge sind, erfreuen sich die Lebensretter großer Beliebtheit, und werden beim Strandkarneval und bei ihren Paraden von allen bejubelt, insonderheit von den Frauen.
Wenn die gelbsandigen Küstenstriche und das blaunasse Gebiet davor meilenweit punktiert ist von Badenden, bezieht einer der Lebensretter seinen Posten auf dem Wachturm und lugt über den Pazifik; erspäht er die graue Gefahr, so läßt er die Turmglocke, die Sturmglocke dröhnen.
Was nun folgt, ist für den, der es zum erstenmal erlebt, eine erstaunliche Massenszene. Viele Tausende, Männer, 297 Frauen, Kinder laufen aus dem Wasser uferwärts, nicht gerade panikartig, eher angenehm erregt, denn sie wissen, daß sich der Hai nicht gegen dieses Heer von spritzenden, prustenden und lärmenden Menschen wagen wird, das von der Phalanx der Brandung zurückgeworfen und gespalten wird, und endlich, wieder vereinigt, ans Land purzelt.
Hernach geben sich alle neuerlich und unbesorgt dem Surfing hin, dem Sport, sich auf den Rücken der Wellen zu schwingen und von ihnen aufs Festland schleudern zu lassen. Die Bereitschaftsmänner aber hocken am Strand im Sand neben ihrer Kanone, die eine Winde ist. Ein vierhundert Meter langes Seil ist um sie gerollt, ihr Ende an einem Korkgürtel befestigt.
Jemand im Wasser stößt Hilfeschreie aus, weil ihn die Wogen abdrängen und ihm die Rückkehr verwehren, weil ihn ein Krampf oder ein Haifisch befiel. Im Nu ist einer der Lebensretter in den Korkgürtel gesprungen und rennt in die See, durch Lauf und Schwimmen das Seil von der Winde abrollend. Er nimmt den Bedrohten oder Verletzten in die Arme, ums Zurückschwimmen braucht sich der Retter nicht zu sorgen, der Kork hält ihn über Wasser, und ans Land ziehen ihn mit schnellen, regelmäßigen Griffen die anderen Bereitschaftsmänner.
Allerdings, vor dem Biß des Haifisches können auch die flinkesten und kühnsten Retter kein Opfer bewahren. Bevor ein Retter an der Mordstelle anlangt, ist sie ein roter See in blauer See, ein See von Meersalz und Menschenblut. Den Torso des Unglücklichen vermag man manchmal zu bergen, den Hai erwischt man niemals auf frischer Tat; so plump und träge er scheint, so schnell weiß er zu 298 enteilen; nur ein kleiner Leichenfledderer, der Saugfisch, treibt sich am Tatort umher. Tagelang ließ er sich, am Haifischleib festgesaugt, durch die Wasser tragen, um in dem Augenblick, da seines Wirtes Gebiß irgend etwas krachend zerknackt, ins Wasser zu gleiten und an dem Rest des Mahls schmatzend zu schmarotzen.
Einer der Fälle, deren Zeitgenosse wir in Sydney waren, war der des dreizehnjährigen Mädchens Elsie Morrin. Die Kleine hatte an der Mündung des St. George River Schwimmübungen gemacht, als ein Hai frontal auf sie zukam und ihr mit einem Biß beide Arme abriß. Elsie Morrin wurde geborgen, eine Zeitung sammelte 3000 Pfund Sterling zu ihren Gunsten.
Von einem vierzehn Tage später, nahe der Sydneyer Vorstadt Bankstown, ins Netz gegangenen Hai wurde behauptet, es sei jener, der das Mädchen verstümmelte. Vielleicht hat die Zeitung diese Identität des Täters mit dem Verhafteten nur erfunden, um die von ihr veranstaltete Kollekte zu beleben, vielleicht hat Warren Digby das ausgeheckt. Warren Digby hatte den Hai gefangen, und wir wollten ihn darüber ausfragen und über sein Gewerbe im allgemeinen. Wir läuteten und klopften am Tor seiner Haifischfängerei in Rushcutters Bay, niemand öffnete, so öffneten wir selbst und stolperten allein über den Hof, der zugleich Landungsbrücke ist.
Alte Netze aus Messingdraht lagen auf einem Haufen, Angelhaken aus Nickelstahl, schon mehr Ankerhaken als Angelhaken, lagen auf einem anderen Haufen. Angelstöcke lehnten an der Wand, schwere Stangen, die kann ein Angler nicht einfach mit den Händen festhalten, die muß er in der Düse des Ledergürtels aufstützen wie einen 299 Fahnenstock. Auf jeder Angel ist eine Messingwinde, mittels der der gefangene Hai emporgerollt wird.
»High and dry«, das heißt ans Land gezogen, lagen einige Boote. Auch Haifischflossen und Haifischzähne sahen wir, und Haifischhäute, Skalps der Gegner, die Warren Digby vom Kriegspfad heimgebracht hat. Sonst aber kriegten wir in der Haifischerei Warren Digbys kein Aas zu Gesicht, der Meister war wohl mit seiner Bemannung auf der Jagd, und so konnten wir niemanden fragen, wodurch die Identität des Hais von Bankstown mit jenem festgestellt wurde, der das Mädchen Elsie Morrin überfallen und beraubt hat.
Trösten wir uns, die letzten Dinge über Haifischfang hätte Warren Digby uns kaum verraten können. Ist er doch mehr oder weniger Amateur, übt sein Gewerbe nur im Umkreis von Sydney aus, hauptsächlich im Interesse der Badenden und neugieriger Jagdgäste, die er auf seine Fahrten mitnimmt.
Die, die dem Haifisch als Rohstofflieferanten auf den Leib rücken, das sind die großen Fänger und sie kommen von weither nach Australien, wo sie keine Abgaben bezahlen müssen. Das wäre ja noch schöner, die Vertilgung eines Scheusals zu besteuern, das nicht nur Menschen frißt, sondern auch teure Fische, per Tag so viele, wie sein eigenes Gewicht beträgt, oft bis zu 500 Kilogramm. Selbiges Quantum schnappt der Hai zumeist an den Flußmündungen, an denen es von zarten Lachsen wimmelt, den fleißigen Anglern vor der Nase weg. Er ist somit das widerlichste und das schädlichste aller Wassertiere, darüber kann wohl kein Zweifel obwalten.
Andererseits kann kein Zweifel darüber obwalten, daß 300 der Hai das sympathischeste und das nützlichste aller Wassertiere ist, man muß die Sache nur vom einzig richtigen Standpunkt aus ansehen, vom Standpunkt der Ausbeutung nämlich. So restlos und so profitabel wie der tote Haifisch sich ausbeuten läßt, so restlos und profitabel läßt sich nicht so bald jemand ausbeuten.
Da ist vor allem und jedem die Haut, groß wie mehrere Kuhhäute zusammen, weit widerstandsfähiger und demgemäß teurer, zur Transfiguration in Treibriemen, Seile, chagrinlederne Reisetaschen, Aktentaschen, Damenhandtaschen und Damenschuhe vorbestimmt. Da sind die Haifischflossen, kein chinesisches Gastmahl ohne sie. Eine Leber von 40 Kilogramm hat sich der brave Haifisch angemästet, damit nach seinem Tod eine genügende Menge von Lebertran den schwachen Kindern Kräfte bringe, und Zuckerkranke bedient er aus seiner Bauchspeicheldrüse mit Insulin. Sein Fett wird zu Margarine oder Seife, sein Fleisch zu Fischkonserven und Fischkarbonaden, sein Darminhalt zu Dung, seine Gräten – welch niedliches Wort für solchen Knochenbau – zu Futtermehl.
Nichts geht verloren, und die Fiskalpolitiker, die die Abgabenfreiheit der Haifischjagd als Unrecht empfinden, sind sie im Unrecht? Sind sie im Unrecht, wenn sie erklären, man müsse von den Haifischflotten Jagd- und Gewerbesteuer verlangen, auch auf die Gefahr hin, daß sie abwandern und dann einige Menschen mehr im Haifischmagen ihr Grab finden?
Besagten Magen umschließen Wände, die nicht von Spinnweb sind. Schwerlich kann der sprichwörtliche Straußenmagen vertragen, was ein Haifischmagen nachweislich verträgt: volle Konservenbüchsen, Schiffstaue, Stacheldraht, 301 echte und falsche Gebisse, Menschenköpfe und Menschenleiber mit Haut und Haar. Nicht nur lebende Menschen, auch Leichname, verweste und unverweste, sind ihm willkommen, weshalb »Der Taucher« von Schiller den gräßlichen Hai des Meeres Hyäne nennt.
Bei dieser Gelegenheit sei ein Vorfall erzählt, weil er alle Schillerschen Balladen in den Schatten stellt, den Fisch des Polykrates zum Beispiel, der nur einen Ring im Bauche trägt, nicht aber . . . nicht aber wollen wir vorgreifen.
James Smith, Besitzer eines Billardsalons in Sydney, vorbestraft, sagte am 8. April zu seiner Frau: »Ich gehe mit einem Freund angeln.« Dann verließ er die Wohnung und kehrte nicht mehr zurück.
Zehn Tage später wurde bei Coogee Beach ein viereinhalb Meter langer Tigerhai gefangen und ins Aquarium gebracht. Dort lehnte er eine Woche lang jede Nahrung ab, was bei Haien in der Gefangenschaft üblich ist. Hernach aber tat er etwas, was bei Haien in der Gefangenschaft nicht üblich ist, etwas, was in Widerspruch zu seinem eben gerühmten guten Magen steht, etwas, was künftige Verwerter des Balladenstoffes als ekstatische Erfüllung einer übernommenen Rachepflicht hinstellen können.
Unser Tigerhai schien urplötzlich vom Veitstanz befallen zu sein, er schoß durch das Bassin in unvorstellbarem Tempo, peitschte das Wasser wütend mit seinem Schwanz, warf sich hoch. Bestürzt und geängstigt sahen solches die Wächter und das Publikum. Auf einmal hielt der tollgewordene Hai inne, wie die Musik im Zirkus innehält, damit die Menge den Atem klemme vor dem großen Coup. Eine Sekunde, zwei Sekunden. Dann bäumte sich der Tigerhai auf 302 und spie eine unheimliche Sache aus, einen Menschenarm, mit einem tief ins Fleisch einschneidenden Strick um das Handgelenk.
Auf dem Arm waren zwei einander gegenüberstehende Boxer tätowiert, das aber gab keinen Hinweis auf seinen Besitzer. Erst als die Polizei die Haut des Armes spannte und die Fingerabdrücke abnahm, stellte sie fest: der Arm gehört dem abgängigen Billardsalonbesitzer James Smith.
Acht Detektive wurden auf die Spur gesetzt und sie ermittelten, ein Bootsbauer namens Reginald Holmes habe jemandem anvertraut, James Smith sei von Patrick Brady ermordet worden. Die Polizei kannte Patrick Brady, einen 42 Jahre alten Wollscherer, und sie kannte zufälligerweise auch den Bootsbauer Reginald Holmes. Holmes war nämlich ein paar Tage vorher von der Wasserpolizei angehalten worden, weil er, wie von Erynnien gehetzt, demnach mit vorschriftswidriger Geschwindigkeit auf seinem Motorboot durch den Hafen raste. Er blutete aus einer, offenbar von einem Streifschuß herrührenden Stirnwunde, doch da er angab, sich selbst verletzt zu haben, forschte man nicht weiter nach, belegte ihn nur mit einer Geldstrafe wegen Schnellfahrens.
Als die Polizei nun erfuhr, Holmes beschuldige den Brady des Mordes an Smith, wurde Brady verhaftet. Dem Holmes, den die Detektive nicht zu Hause antrafen, hinterließen sie eine Vorladung. Holmes konnte ihr nicht Folge leisten, man fand ihn am selben Abend unter der Rampe der Hafenbrücke, tot, von drei Revolverschüssen durchbohrt.
So war das also! Nicht aus Mutwillen hatte Holmes vor einigen Tagen die Verkehrsvorschriften und seine Stirne verletzt; ohne Zweifel hatten ihn schon damals die 303 Mörder von James Smith als einen gefährlichen Mitwisser umlegen wollen, und Holmes war auf der Flucht vor ihnen, als die Wasserpolizei ihn anhielt. Mit der Verhaftung Bradys wurde die Beseitigung von Holmes noch dringlicher, jemand lockte ihn unter irgend einem Vorwand auf die Brückenrampe und erschoß ihn, während ein Eisenbahnzug über die Brücke ratterte und jeden Lärm verschlang.
Wann aber, wie, wo und warum war James Smith ermordet worden? Hatte Smith, da er gefesselt dem Grund des Meeres entgegensank, einen Hai erblickt, und an ihn seines Mordes Klag' erhoben? . . . Wenn dem so war, kann man dem Hai nicht absprechen, die Klage ordnungsgemäß weitergeleitet zu haben. Seltsamerweise jedoch wurde sie nicht zu Gericht zugelassen, und das Beweisstück, das er produzierte, ebensowenig.
Nein, unsere Ballade schließt, zum Unterschied von den Schillerschen, nicht mit dem Sieg der Gerechtigkeit. Sie schließt vielmehr mit einem englischen Strafgesetz-Paragraphen, demzufolge kein Mordprozeß stattfinden darf, solange der Leichnam des Ermordeten nicht aufgefunden ist. Und, wie man's auch dreht und wendet, ein Arm ist kein Leichnam. Vergeblich hat der Tigerhai so dramatisch die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, sich vergeblich angestrengt zum Kotzen. Der zu rächende Arm rief den rächenden Arm nicht herbei.
Das ist der »Shark Murder Case«, der die Sydneyer Öffentlichkeit monatelang in Atem hielt. Er und ähnliche Vorfälle machen es begreiflich, daß für das Sydneyer Aquarium jede Neuerwerbung eines Haifisches eine Attraktion bedeutet, obwohl der Haifisch sozusagen ein Haustier ist.
Auf den Plakaten nennt das Aquarium seine Haie mit 304 Namen, als ob sie auf einen Namen hören, auf einen Namen reagieren würden, als ob je ein Hai persönliche Beliebtheit beim Publikum erworben hätte oder erwerben könnte, als ob ein Hai ein Individuum mit individuellen Eigenschaften wäre und nicht ein anonymer Teil einer anonymen Gewalt. Lächerlich die Genugtuung darüber, daß das von Warren Digby in Bankstown gefangene Exemplar jenes sein soll, das die Bluttat an dem Mädchen Elsie Morrin verübte.
Dennoch drängt sich die Menge im Aquarium von Taronga Zoo Park, um die Haie zu sehen, vor denen sie draußen flüchtet. Zweistöckig und zylindrisch umgibt eine Tribüne das Raubfischbecken, Stühle und Bänke bilden einen Kreis um das Geländer, aber niemand setzt sich, alles lehnt an der Brüstung, Mütter heben ihre Kinder hoch, uns schwindelt bei dem Gedanken, ein Baby könnte hinunterfallen.
Hinter einer Säule, dem Bassin abgewandt, sitzt eine Frau mit gestärktem weißen Häubchen, möglicherweise ein Kindermädchen, sie interessiert sich nicht für Haifische und überläßt es wohl ihren Pflegebefohlenen, sich unvorsichtig über den Abgrund zu beugen.
Schulbuben, elterlicherseits täglich ermahnt, sich nicht zu weit vom Strand und von den anderen Badegästen zu entfernen, auf daß der Hai sie nicht schlucke, genießen es hier, den vielberufenen, den einheimischen Feind zu beobachten; sie schlagen Krach, wollen ihn aufscheuchen aus seiner Apathie. Ihre Altersgenossen aus Übersee, die zum Welttreffen gekommenen Pfadfinder, hegen ein exotisches Interesse an den Haien; zurückgekehrt nach Europa oder Amerika werden sie am Lagerfeuer von Kämpfen mit 305 diesen Bestien erzählen. Ein kleines Mädchen im Cape, blaß, das kastanienbraune Haar in der Mitte gescheitelt und gegen die Ohren zu gekämmt, neigt das Stirndreieck über das Reich der bösen Riesen und starrt ihnen mit großen Augen nach. Äußerlich sind die Haie nicht furchteinflößend und nicht romantisch. Grau und fettig glänzend gleichen sie eisernen Walzen, an denen die Rückenflosse wie ein Steuer oder wie der Propeller eines Torpedos sitzt. Unbeweglich bewegen sich die Eisenkörper im Kreis, als lägen sie auf einem langsam laufenden Band.
Vier solcher Stücke rollen im Aquarium von Taronga Zoo Park, ein Tigerhai, wie der, der den Arm von James Smith ans Tageslicht beförderte, und zwei graue Nurse-Sharks, von denen der eine das Mädchen Elsie Morrin um beide Arme gebracht haben soll. Ein Teppich-Hai hält sich auf dem Grund des Beckens.
Kleine silberblaue Fische schwimmen unbekümmert und regelmäßig über die Kolosse hin, unter ihnen weg, neben ihnen und vor ihnen, in Rachenweite. Der Hai tut ihnen nichts zuleide, lebt von seiner Substanz, träumt, wie die Großmächte, von der Freiheit der Meere. Die Wärter schieben ihm mit Stangen Leckerbissen geradenwegs ans Maul, tote Fische, Pferdefleisch. Pferdefleisch ist weiß, also müßte er es sehen, selbst wenn er unfähig ist, dunkle Gegenstände zu erblicken, wie die Eingeborenen behaupten und deshalb vor dem Schwimmen ihre helleren Handflächen und Sohlen schwärzen. Bescheidene Anregung an den Haifischgefahr-Beratungs-Ausschuß: sollten die Weißen nicht im schwarzen Trikot baden, das sie von den Zehen bis zum Scheitel bedeckt?
So weiß das Fleisch auch sein mag, mit dem man den 306 Hai füttern will, er beachtet es nicht, weicht aus, setzt sein Ringelspiel fort. Nach einigen Wochen wird er eingehen, und ein neuer tritt an seine Stelle, der wird statt »Skipper II« – die Namen sind angeschrieben – »Skipper III« heißen, oder »Jackie« statt »Bob«.
Pinguine nisten possierlich am Rand des Beckens und tauchen von Zeit zu Zeit ins Raubtierwasser. Da zur Fütterungsstunde Brotkrumen für die kleinen Fische ins Wasser geworfen werden, flattern vom benachbarten Zoo Vögel herbei, stoßen kreischend auf den Wasserspiegel nieder, picken auch vom Haifischrücken Brosamen auf, unbeirrt gleitet der Hai weiter, immer im Kreis, immer im Kreis, es ist schon langweilig, wir suchen andere Bezirke des Aquariums auf.
Groß hängt ein Foto an der Wand wie ein Relief, das Foto eines Delphins, und darunter seine Lebensbeschreibung wie eine Gedenktafel. Dieser Delphin hatte einen Namen wie nebenan die gefangenen Haifische, aber er hat sich diesen Namen gemacht, ohne in Gefangenschaft geraten zu sein. Er ist als einziges Individuum von allen Wassertieren mit seinem Eigennamen in der Legislatur eines Landes verankert.
Pelorous Jack hieß er, wohnte zwischen den beiden Inseln, aus denen Neuseeland besteht, und war von der Leidenschaft beseelt, den Schiffen in der gefährlichen Meerenge als Pilot zu dienen. Wann immer ein Dampfer von Wellington oder einem anderen Hafen gegen die Stadt Nelson fuhr, tauchte Pelorous Jack auf und schwamm so lange, alle Klippen und Untiefen vermeidend, vor dem Bug, bis das Schiff den French Paß passiert hatte. Dann kehrte Pelorous Jack zurück, um die Führung des nächsten 307 Schiffes zu übernehmen. Sommer und Winter, Tag und Nacht, bei friedlicher See und in hohem Sturm tat er solches dreißig Jahre lang, und darum erklärte ihn die Regierung von Neuseeland durch ein Gesetz für unverletzlich, und bedrohte jeden mit hoher Strafe, der dem Pelorous Jack ein Leid zufügen sollte.
Im November 1916 ward der alte Lotse zum letztenmal gesehen. Sicherlich ist er – aber das steht nicht in der Biographie – mutterseelenallein gestorben, von allen Bewohnern des Meeres geächtet, weil er den Menschen, den Massenmördern am Meeresgetier gedient, sie sichere Wege geleitet hat, statt sie an den Klippen zerschellen zu lassen.
Wir setzen unseren Rundgang durchs Aquarium fort. In unserem Auge ist noch das Rattengrau der Haifische, während uns bereits ein grelles Treiben von vielen Bühnen entgegenfunkelt. Gläserne Bühnen, nebeneinander, übereinander. An den Soffitten perlt strahlendes Wasser, auf dem Boden leuchtet goldener Sand, und sie sind erfüllt von türkisblauem Glast. Darin tummelt es sich edelsteinfarben und halbedelsteinfarben, Fische aus Onyx, aus Beryll und aus Saphir, etliche wiederum sind durchsichtiges Perlmutter, Platin, Purpur oder orangerotes Metall. Lurche lauern unter Miniaturgebirgen, Tintenfische lassen langsam und heimtückisch aus ihrem Leib Gliedmaßen hervorwachsen, an deren Ende der Sauger wie ein starres böses Auge ist. Eine Aufschrift an jedem Glastheaterchen besagt, welches Stück vom Leben im Ozean hier gespielt wird, welche Prominenten auftreten.
Manch andere australische Prominenz würde hierhergehören, ebenso wie sie in die Menagerie oder ins Terrarium gehören würde, denn hierzulande ist noch die Fauna 308 einer Zeit erhalten, da es in der Tierwelt die heute herrschenden Klassen nicht gab. Säugetiere tragen Gefieder und legen Eier; Darmkanal und Harnröhre münden gemeinsam; sie brüten Eier aus und nehmen dann den Nachwuchs an die Mutterbrust, als schriebe die Naturgeschichte nicht ausdrücklich vor, daß Säugetiere nur lebendige Junge zur Welt zu bringen haben.
Auf der Veranda des Brisbaner Museums lebt in einem gläsernen Wasserbehälter der Lungenfisch Barramanunda. Er atmet mit Kiemen im Wasser und mit der Lunge in der Luft, er brauchte nicht zu erschrecken, wenn der Fluß, in dem er wohnte, austrocknete, für ihn und seinesgleichen wohnt sich's ebensogut im Schlamm.
Von einem ihrer Urtiere sprechen die Australier, die sich ihrer Haifische schämen, mit dem ganzen Stolz des Alleinbesitzers. Sie nennen es Platypus. Gemeint ist das Schnabeltier, Ornithorynchus, ein Säugetier mit richtigem Entenschnabel, zu Wasser und zu Land zu Hause, das auf dem Wasserspiegel laufen kann wie ein schwerer Seevogel und sich mit Gift und Krallen verteidigt. Ebensoviele Bücher wie über Napoleon sind über das Schnabeltier geschrieben worden, doch seinem Ruhm und seiner Vielseitigkeit zum Trotz, ist es in die niedrigste Kategorie der Säugetiere verwiesen, nur weil es seine Notdurft nicht sub utraque verrichtet, sondern in einerlei Gestalt.
Der Ameisenigel (Echidea), ihm verwandt durch Stamm und Sinn, hat einstens auch Europa bewohnt, wie Skelettfunde aus der Jura-Formation beweisen; in Australien lebt er noch, Australien ist das Land, wo die Sintflut die vorsintflutlichen Tiere nicht ertränkt hat, wo die Fossilien atmen.
Da gerade dieser, der geologisch älteste Kontinent der 309 jüngste ist, den der weiße Mensch entdeckte, hat sich die Fauna der Urzeit ein paar Jahrhunderttausende lang an die Freiheit gewöhnt, sie mag, altvorzeitisch wie sie ist, die Gefangenschaft nicht leiden, und schickt sich an, auszusterben. Nahe vom Carpentaria Golf halten sich die letzten aus dem Geschlecht der Ameisenigel und Schnabeltiere versteckt, in Sydney stehen sie nur ausgestopft und nichtssagend im Museum; im Aquarium finden wir sie nicht und kehren zu den Haifischen zurück.
Die machen noch immer ihren monotonen Rundgang im Gefängnishof. Auch sie ein altes Geschlecht, auch sie durchschwammen heil die Sintflut und hatten damals mehr Fraß, als je zuvor und je nachher; auch sie wollen lieber sterben, als in der Gefangenschaft als Schauobjekt dienen. Sie stehen im Hungerstreik, die Fütterungsstunde ist resultatlos verlaufen, und die Zuschauermenge verläuft sich ebenfalls.
Die Pfadfinder sind zum Zoo hinaufgestiegen, wo es für Bubenaugen abenteuerliche Tiere zu sehen gibt. Dingos zum Beispiel, wilde Hunde, die die verwahrlosten Nachkommen entlaufener Haushunde sind. (Sicher ist das übrigens nicht.) Auf den Bäumen sitzt der Koala, mit dem die Natur die Erfindung des Teddybären vorweggenommen hat. Lachvogel und Leierschwanz zeigen in der Voliere ihre Künste, der eine akustische, der andere optische. Riesenkänguruhs und Zwergkänguruhs hüpfen umher, und manches europäische Säugetier hat in Australien ein Beuteltier zum Vetter, der Dachs, der Maulwurf, der Wolf, der Fuchs, der Bär, das Eichhörnchen.
Vor solcher Konkurrenz können die Haie nicht bestehen, mögen sich auch grausgrausige Geschichten an sie 310 knüpfen. Nur das blasse junge Mädchen, dessen braunes Haar ein weißes Stirndreieck freiläßt, ist noch da. Ihre großen Augen starren in das Bassin, so wie sie vor einer Stunde hinabgestarrt haben, sie folgen unausgesetzt einem trägen Hai, an dem nichts besonderes zu sehen ist, dem, der dem Mädchen Elsie Morrin – – –
Und plötzlich fällt uns ein: das ist Elsie Morrin. Ihr Cape verhüllt ihre Arme, denn sie hat keine. Die Frau mit der weißgestärkten Haube, die noch immer geduldig-gelangweilt hinter der Säule sitzt, ist ihre Krankenschwester.
Vor drei oder vier Monaten hatte Elsie Morrin den runden Kopf dieses Haies hart vor sich gesehen, war sie Aug in Aug diesem Monstrum gegenüber. Dann klaffte ein Schlund auf und schloß sich wieder, während mit einem gräßlichen Krachen ihre Knochen barsten, ihr Fleisch zerriß. Verschwunden waren ihre Arme in dem Schlund.
Eigentlich sollten wir auf das Mädchen zutreten und sie fragen, ob sie Elsie Morrin ist, ob sie zum erstenmal im Aquarium ist oder ob sie täglich hierherkommt und warum sie den Hai so unverwandt ansieht. Wir unterlassen es, haben wir doch nicht einmal bei dem Fänger Warren Digby festgestellt, ob dieser Hai wirklich dieser Hai ist, und wir bringen nun auch nicht in Erfahrung, was das Mädchen denkt, dieweil ihr weißes Stirndreieck über das Bassin gesenkt ist, und ihre großen Augen den quermäuligen, rattengrauen Unhold verfolgen.
Brütet sie Rache oder glaubt sie, er werde sich unversehens in einen Ritter mit goldenem Schuppenpanzer verwandeln, vor ihr liebend niederknien und ihr als Brautgeschenk ihre beiden weißen Arme mit allen zehn Mädchenfingern daran überreichen? 311