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Es gibt in Melbourne ein Grundstück, für das die Eigentümer jährlich einen Pachtzins von drei Pfefferkörnern zu zahlen haben, »falls diese Bezahlung eingefordert werden sollte«. Diese Parzelle ist die Rennbahn.
Sie war es schon zu Beginn des Altertums, – ja, auch die Geschichte des Staates Victoria ist zwecks besserer Übersicht in Altertum, Mittelalter und Neuzeit eingeteilt, wenngleich natürlich in einem just hundertjährigen Lande jedes dieser drei Zeitalter nur mit dreiunddreißig Jahren bemessen sein kann.
Von 1840 an ritten regelmäßig hier auf dem Grundstück, das damals wirklich nicht viel mehr als drei Pfefferkörner wert war, die ersten Siedler eine Strecke von drei Meilen um die Wette, und die Boundary-Rider, die australischen Brüder der amerikanischen Cowboys, sonst damit befaßt, die endlosen Grenzen der Schaffarmen abzureiten, machten mit, angefeuert von Berufskollegen, einem sachverständigen Publikum.
Ein Sportberichterstatter von 1848 behauptet, fünfhundert Zuschauer auf dem Turf gezählt zu haben. Das war eine enorme Menge für Zeitläufte, in denen es keine anderen Verkehrsmittel als Ochsenkarren gab, und Giftschlangengezücht jeden ansprang, der die Unverletzlichkeit des Dschungels zu verletzen wagte. 265
Doch diese Zuschauerzahl wuchs, sie schoß empor in den brüllenden Fünfzigerjahren. Wer auf den neuentdeckten Goldfeldern Glück gehabt hatte, kam nach Melbourne zum Rennen, um das Glück von neuem auf die Probe zu stellen. Zum Unterschied von den anderen Australiern verstanden die Diggers nichts vom Pferd, sie verstanden nichts vom Reiten, sie interessierten sich weder für Pferd noch für Jockey, sie setzten nur, um zu gewinnen, und sie setzten hoch. In jener Zeit hörten die Pferderennen auf, Bravour und Sport zu sein, und wurden, was sie noch heute sind: eine Lotterie mit vierbeinigen Losen.
In Ballarat, unter vergilbten Porträts und Akten aus der Goldgräberzeit, fanden wir die Papiere von William Cross Yuille, dem ersten Farmer und lange Zeit dem einzigen von Ballarat. Friedlich hatten seine Herden geweidet und seine Felder gereift, ehe der Goldstrom das Volk der Goldsucher und Glücksucher heranschwemmte, die ihn vertrieben. Erging es nicht ebenso dem General Suter, vor dessen gebrandschatztem Schloß wir vor einigen Jahren im Lande Kalifornien, in der Stadt Sacramento standen? General Suter war wie William Cross Yuille Alleinherrscher über unermeßliche Ländereien gewesen, dann fand sich Gold, Menschen kamen, schlachteten die Herden, zerwühlten die Felder, verbrannten die Forste und verjagten den General Suter aus Sacramento, wie sie Yuille aus Ballarat verjagten.
Von hier an hört die Analogie auf. Suter starb in Elend und Wahnsinn, Yuille hingegen gründete nach seiner Vertreibung ein Wettbüro in Melbourne und später einen Rennstall, und nahm den Diggers alles Gold ab, das sie auf seinem ehemaligen Gebiet gefunden hatten. 266
Lola Montez, die Geliebte des Königs Ludwig von Bayern, die schönste Frau der Welt, kam nach Victoria, weil dort die reichsten Männer der Welt waren, und war fest entschlossen, sich für das größte Nugget der Welt zu verkaufen. Keiner der Goldgräber durfte sich ihrer rühmen. Rühmen durfte sich ihrer nur der Eine, der im Goldsucherbezirk nicht nach Gold suchte und es im Rennbetrieb fand, William Cross Yuille.
Wie viele Besucher das Derby damals hatte, ist unbekannt. Die Achtzigtausend von heute können es auch nicht annähernd gewesen sein, aber die Zahl Fünfhundert vom Beginn des australischen Altertums war längst überschritten; vorbei die Zeiten, da man um Sechser wettete, vorbei der Siegeslohn von 25 Pfund, die Stakes gingen in die Tausende.
Ohne Zweifel besaß der Staat das Eigentumsrecht an dem einträglichen Grundstück, aber die Rennveranstalter weigerten sich, einen Kaufpreis oder eine Pacht zu zahlen. Konnte man gegen ein so populäres Unternehmen mit einer eviction vorgehen, einer Zwangsausmietung, wie sie gegen Kleinbauern und Arbeiter und Kriegsinvaliden im Schwange ist? Das ging nicht an. Deshalb bestand die Regierung nur auf einem Anerkennungspreis. Sie erließ den »Victoria Racing Club Act«, laut welchem dem jeweiligen Vorsitzenden dieses Rennklubs die Parzelle im Stadtteil Flemington für einen Betrag von sage und schreibe drei Pfefferkörnern jährlich vermietet wird.
Mehr als tausend Menschen stehen heute im ständigen Dienst des Victoria Racing Club, auf dem Dreipfefferkörnerplatz, den einst fünfhundert Sportbeflissene an den spärlichen Renntagen umstanden. In ganz Australien sind etwa 267 Zwanzigtausend im Pferderennbetrieb tätig: Jockeys, Trainer, Züchter, Stallpersonal, Tierärzte, Hufschmiede, Rennbahnarbeiter, Platzanweiser, und vor allem konzessionierte Buchmacher. Wenn man aber die Zahl der unkonzessionierten Buchmacher angeben wollte, einschließlich jener, die diesen Beruf vor dem Melbourne Cup in ihrem Freundeskreis ausüben, müßte man beinahe die halbe Bevölkerungszahl Australiens hinschreiben.
Gastwirte, Kellner, Friseure, Gemüseladenbesitzer, Sportberichterstatter, Tabakhändler und Frauen »machen ein kleines Buch«, und werden von der Polizei dafür mit drakonischer Strenge verfolgt, erstens weil diese ungesetzliche Beschäftigung den gesetzlich zugelassenen Buchmachern vorbehalten bleiben muß, und zweitens, weil bei solchen unmoralischen Wetten die moralische Wettsteuer verlorengeht. Viele der Unbefugten betreiben S. P., und S. P. bedeutet Starting Price Betting, und dieses wiederum bedeutet Wetten, die mündlich oder telefonisch abgeschlossen werden, auch wenn der Start bereits vollzogen, ein Teil der Rennbahn durchlaufen ist.
Wieso aber erfahren die Wettlustigen fern vom Turfplatz, daß der Start bereits vollzogen ist, und wie er vollzogen ist? Antwort: das Radio gibt vom Verlauf jeder Sekunde in jedem Rennen und auf jeder Rennbahn nach jeder Wohnung und jeder Hütte Australiens genaue Kunde.
Funktion des Funks scheint vor allem: dem Rennsport zu dienen. Wir bitten den Leser, sich einen Mann in einem australischen Hospital vorzustellen, der noch keinen Schritt auf australischem Boden gemacht hat, nichts vom australischen Leben gesehen hat, etwa jemanden, der von einem einlaufenden Schiff zur Polizei gefahren und aus einer 268 Einzelzelle direkt ins Krankenhaus gebracht wurde. Neben ihm liegen Arbeiter, denen ein Kranhaken auf die Beine fiel, oder die in einen Schacht stürzten, Motorradfahrer, die sich überschlugen, Lastträger, die sich eine Wirbelsäulenverletzung zugezogen haben, über allen Betten hängen Schnüre, Scharniere und Schlingen, die Besuchsstunde ist vorbei, die Kranken sind unbeweglich und still, zuweilen wimmert einer leise.
Plötzlich fangen alle an zu sprechen, zu rufen, aber keiner spricht zu einem Mitpatienten und keiner ruft einem Mitpatienten etwas zu, und keiner auch spricht mit sich selbst, sondern sie sprechen, rufen, schreien, feuern an, irgendwohin in ein fernes Weltall der Fieberphantasie. Ist es möglich, daß Menschen mit gebrochenen Armen gleichzeitig genau die gleiche Fieberphantasie vor sich gegaukelt sehen, wie Menschen mit gebrochenen Hüften oder mit gebrochenen Rippen?
Doch muß es das gleiche Traumland sein, bevölkert von den gleichen Märchengestalten und dem gleichen Spiel, denn alle Betten stoßen gleichzeitig die gleichen Rufe aus und nennen die gleichen Namen. – – – Nach und nach beginnt der australienfremde Patient das seltsame Gebaren seiner Mit-Knochenbrüche zu begreifen: sie machen, den Kopfhörer umgeschnallt, ein Pferderennen mit.
Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war er weit weniger darüber im klaren, welcher Art die Unfälle waren, denen die Knochen seiner Nachbarn zum Opfer fielen, oder wie die Chancen der Heilung stehen, als darüber, wieviel jeder beim Melbourne Cup verlor und wer die unfehlbaren Favorits der nächsten Renntage sein werden.
Um übrigens die Wahrheit zu sagen: ganz unvorbereitet 269 war der Krankenhausinsasse nicht gewesen; schon ehe er Australien betrat, bekam er einen Vorgeschmack vom Rennfanatismus der Australier. Das war auf dem Schiff gewesen.
Eines Nachts trat in der Schiffsbar einer der australischen Pferdemänner, die der indischen Militärverwaltung Ponies für Polospiel und Geschützbespannung abgeliefert hatten, etwas angeheitert und mit zwei Gläsern Stout in der Hand auf uns zu: »Wollen Sie nicht ein verdammtes Glas mit mir trinken? Ich höre nämlich, daß Sie ein verdammter Schriftsteller sind . . . da müssen Sie also verdammt etwas über die verdammte Sache mit Phar Lap schreiben.«
Wir fragten, verdammt, wer denn das sei, dieser verdammte Phar Lap, und erfuhren es allmählich und seine ganze verdammte Geschichte.
Und jetzt, in Melbourne, sehen wir ihn sogar persönlich. Schön, edel und schlank ist er, wie bald kein zweiter, wir werden nicht müde, ihn zu betrachten. Aufrecht steht er da, sein Auge glänzt, es ist, als wollte er, als könnte er aufbrechen zu neuen Ruhmestaten.
» . . . als wollte er . . .« » . . . als könnte er . . .«, nur Konjunktive . . . Er will nicht und er kann nicht, denn er ist tot. Ein gläsernes Mausoleum umgibt ihn, und das Auge, das glänzt, ach, auch dieses Auge ist nur aus Glas. Sein Körper aber, der schöne, edle und schlanke Körper, ist der echte Körper Phar Laps.
Keinem anderen Pferd – oder haben wir zu sagen vergessen, daß Phar Lap ein Pferd war? – keinem anderen Pferd ist es vergönnt, nach seinem Umstehen aufzuerstehen und sich in öffentlicher Halle, im Melbourner 270 Museum, emporzurecken, Monument seiner selbst, ein Reiterstandbild ohne Reiter sozusagen.
Zwar hat in einem gläsernen Schrein gegenüber das Pferd Carbine Aufstellung genommen, das hat jedoch keine glänzenden Augen, sondern überhaupt keine Augen, es hat keine goldstrahlende Haut, sondern überhaupt keine Haut, es hat keine samtgleiche Mähne, sondern überhaupt keine Mähne, es ist nicht gebügelt und gestriegelt, und gibt nicht die Illusion, als sei es bereit, auf neue Ruhmestaten auszureiten, das Pferd Carbine ist nur als Skelett aufbewahrt.
Vielleicht tat man dem Pferd Carbine unrecht, es nicht in ebensolcher Weise einzubalsamieren wie Phar Lap. Denn das Pferd Carbine, Gott hab' es selig, war gleichfalls groß, als es lebte, sonst hätte es nicht einmal als Skelett in der Melbourner Walhalla Aufnahme gefunden, und Carbines Porträt hinge nicht in allen Kunstgalerien von Australien.
Auch Carbine hat Großes geleistet in langer Laufbahn – nein, das Wort »Laufbahn« ist zu schwach für einen Champion seines Tempos, man muß da wohl schon »Rennbahn« sagen. Siebenundzwanzigmal Sieg und fünfmal Platz, allen ihm auferlegten Handicaps zum Hohn.
Beim Melbourne Cup von 1890 wurde ihm ein Ballast von 10 Stone 5 Pfund angehängt, ist gleich: 65 Kilogramm, größtes Handicapgewicht, das je ein Rennpferd südlich des Äquators zu schleppen hatte. Neununddreißig andere Vollblüter erschienen am Start, tänzelnd und wiehernd vor Ungeduld, dem gefesselten Titanen um eine Nasenlänge den Sieg vor der Nase wegzuschnappen. Carbine legte vor, Carbine machte die drei Meilen in drei Minuten achtundzwanzigeinviertel Sekunden, Carbine siegte mit zweieinhalb Pferdelängen vor Highborn, der nur mit der Hälfte der 271 Gewichte belastet war, und Carbine trug die 10.000 Pfund in Geld ebenso leicht heim, wie die 10 Stone 5 Pfund in Gewichten.
So siegte Carbine Jahr um Jahr, und starb hochbetagt in den Sielen, soweit man von einer solch proletarischen Todesart bei einem Pferd des königlichen Sports sprechen darf.
Phar Lap dagegen starb nicht in den Sielen, er starb nicht, weil seine Zeit um war, er starb, kaum sechs Jahre alt, als Märtyrer.
Bewegt und bewundernd stehen wir vor ihm, schauen ihm ins gläserne Auge und streicheln ihm im Geiste das goldgelbe Fell. Er war in Timaru, Neuseeland, geboren, am 4. Oktober 1926, sein Vater hieß Night Raid und seine Mutter Entreaty, und er wurde auf den Namen Phar Lap getauft, was auf singhalesisch »Blitz« bedeutet.
Ein goldenes Grabtäfelchen nennt das Ergebnis seines Lebens: »Total Stakes: 66.783 Pound Sterling.« Phar Lap hat diese sechsundsechzigtausend Pfund Sterling seinen Herren eingebracht, die ihn als Jährling von Mister F. Frankville, Seadown Studio, Timaru, für 160 Guineas gekauft haben. Mister F. Frankville, der Züchter, war ein reicher Mann, und durch den bald einsetzenden Ruhm seines Züchtlings hat sich auch der Ruhm seines Gestüts bedeutend vermehrt.
Hat also Mister F. Frankville stolz und zufrieden die australischen Rennberichte verfolgt? Nein. Was ein rechter Kapitalist ist, freut sich nicht nur über das, was er verdient hat, sondern kränkt sich noch mehr über das, was er hätte mehr verdienen können. Mister F. Frankville wurde immer trübsinniger, je siegreicher sein zu billig verkauftes 272 Füllen Phar Lap wurde, und just an dem Sonnabend des November 1930, als in Timaru das Resultat des Melbourne Cup eintraf, hat sich Mister F. Frankville entleibt.
Er schien nicht der einzige zu sein, der damals den Lauf des hippischen Blitzes feindselig verfolgte. Am Mittwoch vor dem Melbourne Cup von 1930 wurde Phar Lap nach seiner Morgenarbeit nächst dem Rennplatz Caulfield aus einem Wagen mit Schrotgewehren beschossen. Phar Lap sprang erschreckt hinter einen Zaun, und dadurch, sowie durch die Tatsache, daß ein Pony in die Schußrichtung rannte, wurde er gerettet.
Die Attentäter verschwanden. Ebenso Phar Lap. Dieser wurde in ein Versteck gebracht, »in smoke«, in Rauch, wie man in Australien sagt, obwohl man das Wort im allgemeinen nicht auf Pferde anwendet, die selten, ja vielleicht nur dieses eine Mal in smoke waren, sondern auf Menschen, die sich vor der Polizei unsichtbar machen. Die Besucher Phar Laps bekamen Phar Lap nicht zu sehen, bloß das arme Pony, das tatsächlich Schußwunden aufwies, wurde fotografiert und interviewt. Über Phar Lap, den aus Mörderhand Geretteten, wurden ganze Spalten von Vermutungen geschrieben. Ist er wirklich ohne Wunde? Ist er verstört von dem Mordversuch? Hat nicht, selbst wenn er unverletzt geblieben ist, sein Nervensystem durch Schüsse und Schrecken so gelitten, daß ihm am Sonnabend der Sieg versagt bleiben muß?
Ist die Zeit wieder angebrochen, fragte man besorgt, da die Rennstallbesitzer zu siegen fürchteten, weil die Buschklepper die Siegerpferde raubten? Ned Kelly, der sagenumwobene Räuberhauptmann, stahl den Cup-Sieger Charlie, und dieses Tieres große Schnelligkeit schützte den 273 Reiter vor Gefangennahme durch Verfolger, wie ihn ein Eisenpanzer und eine Eisenmaske vor ihren Schüssen sicherten. Ein anderer Wegelagerer, Ben Hall, raubte den Troubadour, der ihm wieder abgejagt und bald darauf in seiner friedlichen Box von sieben Kugeln gemeuchelt wurde. Steve Hart, ein dritter der großen »Bushranger«, ritt die auf der Rennbahn preisgekrönte Sappho.
Soll Phar Lap, der heilige Phar Lap, unwürdigen Nachtretern des heiligen Ned Kelly zur Beute fallen? Fragen und Gerüchte durchschwirrten die Kreise, die sich in unendlicher Zahl um die Rennbahn legen, Kreis um Kreis bis zu den Küsten des Kontinents.
Am Sonnabend erlebte der Turfplatz von Flemington seinen Rekord an Rennbesuch. 92.000 zahlende Gäste harrten atemlos, ob und wie Phar Lap erscheinen werde. Sie wurden nicht enttäuscht. Niemals zuvor hatte ein Sterblicher aus dem Pferdereich einen ähnlichen Einzug gehalten. Berittene Polizei geleitete ihn zur Wage, umringt von dieser Gardekavallerie begab er sich zum Start. Nur Führer zeigen sich solchermaßen geschützt dem geliebten Volk.
Vier Tage vorher war Phar Lap der Favorit der Favoriten gewesen, alle anderen Pferde klägliche Outsider. Inzwischen hatte sich das geändert, jeder glaubte, der Falbe habe mehr oder weniger gelitten, und seine Odds lagen vier zu eins.
Um eine lange Strecke kurz zu machen, sei einfach gesagt, daß Phar Lap siegte, wie er wollte. Jene, die bis vor vier Tagen all ihr Vertrauen auf ihn gesetzt hatten und auch all ihr Geld auf ihn setzen wollten, jedoch letztere Absicht wegen des Überfalls aufgegeben hatten, 274 gerieten in Zorn. Sie vertraten wohl als erste die Auffassung, das Attentat sei fingiert gewesen.
Cui bono – zu wessen Gunsten? Viele hatten Vorteil daraus gezogen. Da war die Rennleitung, die die wirksamste und billigste Reklame und infolgedessen das Monster-Entree geerntet hatte. Da waren Leute, die den sicheren Glauben an den sicheren Sieg Phar Laps beim Publikum erschüttern wollten, um eine höhere Quote einzuheimsen. Da waren die Besitzer Phar Laps, die ihren bevorstehenden Gewinn von zehntausend Pfund keinem Risiko aussetzen, und die Polizei zwingen wollten, das Pferd zu bewachen. Da war . . . wozu alle Gründe aufzählen, die bemüht wurden, um ein wirkliches Attentat gegen ein Pferd als unlogisch und sinnlos zu erweisen, die Nachricht von einem Attentat jedoch als logisch und sinnvoll. Nein, niemand auf der Welt wird ein Pferd morden wollen. Diese Ansicht war allgemein. Sie sollte nicht lange dauern.
Im Jahre 1932 ging Phar Lap nach Amerika. Der Mann, der Phar Lap hinberief, war Baron Wintrigham. »Baron« ist hier keine Standesbezeichnung, sondern ein Vorname, ähnlich wie »King« Taufname vieler Bürger in der amerikanischen Republik ist. Baron Wintrigham, also kein richtiger Baron, war ein richtiger King, er herrschte über Agua Calliente, einer Bootlegger-, Kidnapper-, Racketeer-, Gangster- und Gambler-Stadt an der mexikanischen Grenze, die während der alkoholverbotenen Ära Amerikas in ihrer Maienblüte stand.
König Wintrigham hatte in seiner Residenzstadt eine Rennbahn nach eigenen sportlichen Prinzipien eingerichtet, zum Beispiel standen fünf Bars von je dreißig Meter Länge dem drinklustigen Publikum zur Verfügung, und 275 an einer sollte nur Whisky ausgeschenkt werden, allerdings zwölf verschiedene Sorten. Fünfundsiebzig Schankmädchen waren engagiert worden, je eines per zwei Meter Bar.
Eigentlich hätte sich ein so großzügiges Unternehmen an der Grenze der trockenen Vereinigten Staaten glänzend rentieren müssen, aber weiß der Teufel warum, es rentierte sich nicht. Wenn an den Renntagen Baron Wintrigham von seines Daches Zinnen über die glatte Rennbahn, die nickelglänzenden Bars, die öffnungsbereiten schlanken Whiskyflaschen, die ebensolchen Barmädchen und die majestätischen Tribünen schaute, war er von ähnlichen Gefühlen beseelt wie ein indischer Elefantenzüchter, dem in seiner grauen Herde ein weißes Exemplar geboren wird. Ein weißer Elefant ist wunderschön und genießt göttliche Ehren, aber man darf das heilige Tier nicht verkaufen, darf seine Elfenbeinhauer nicht absägen, darf es nicht arbeiten lassen.
»Da hab' ich einen weißen Elefanten,« seufzte Baron Wintrigham, »was mache ich nur, um Publikum heranzubringen?«
Frucht dieses Grübelns war eine ausgefallene Idee: den Sportplatz mit besserem Sport zu retten, mit Pferdekräften zu vollbringen, was Menschenkräfte nicht vollbracht. Das schnellste und berühmteste Pferd der Welt sollte hier gastieren, der Star des Südens.
So kam es, daß Phar Lap kam und das Mexico-Handicap gewann, dem andere Rennen in Agua Caliente folgen sollten, dazwischen ein Gastspiel in Menlo Park (Kalifornien). Dorthin begleitete den Heros eine Reihe von Enthusiasten, von denen einige sich Zutritt in das Gestüt 276 von Edward Perry verschafften, dem Absteigequartier Phar Laps.
In Menlo Park geschah's. Am Morgen des 5. April 1982 wachte der Trainer Tommy Woodcock, der weder auf der Überfahrt noch seit der Ankunft in Amerika seinen Pflegebefohlenen Phar Lap aus dem Augapfel verloren hatte, von seinem Lager auf und merkte, daß das Tier fröstelnd in der Box lag.
Tommy Woodcock rief den aus Australien mitgekommenen Leibarzt von Phar Lap, Doktor W. Neilsen, der diagnostizierte, Patient sei von einer Grippe mit Kolik befallen. Einige andere Pferdespezialisten wurden mit den schnellsten Autos herbeigeholt, vereint flößten sie Medikamente ein und gaben Injektionen. Nichts half.
Zwanzig Minuten nach zwei Uhr nachmittags wieherte Phar Lap ein ganz dünnes Wiehern und streckte die Beine von sich.
Der Tier-Leibarzt legte sein Ohr auf Phar Laps Leib, die Umstehenden schauten gespannt-angstvoll-hoffnungsvoll auf Doktor Neilsens Gesicht, auf seinen Mund. Doktor Neilsen hörte keine Herztöne, keine Atemzüge, und statt etwas zu sagen, beugte er das Haupt. Alle anderen taten desgleichen.
Diese Manifestation der Trauer, ein Nichts war sie gegen diejenige Tommy Woodcocks. Der schlang seine Arme um den Hals des Toten und schluchzte gottserbärmlich und war nicht wegzubringen und verweigerte Speise und trank. (Kleiner Anfangsbuchstabe.) Uns ist von alten Mähren Wunders viel geseit, von Leibrossen, die nach dem Tode ihres Herrn ihr Leben durch Hungerstreik beendeten, Tommy Woodcock wäre der erste Held gewesen, der das 277 Umgekehrte getan. Zum Unglück für die zukünftigen alten Epen nahm er nach einigen Tagen Vernunft und Speise an. Und trank, natürlich.
Australien war ein einziger Tommy Woodcock, man wehklagte und klagte an: »Die Yankees haben Phar Lap umgebracht!« Australien schnaubte Rache gegen die Mörder, so sicher schien es allen, daß ein Mord vorliege.
Die Obduktion Phar Laps ergab eine Entzündung der Magenwände, und die übereinstimmende Ansicht der Ärzte lautete, der Tod sei durch Nahrung verursacht. Durch welche Nahrung? Um das teure Tier nicht der Fatalität eines Nahrungswechsels im Ausland auszusetzen, hatten es zwanzig Säcke mit australischen Haferflocken begleitet, daraus es seine Rationen erhielt, und Trinkwasser kredenzte man ihm niemals unfiltriert.
Hatte Phar Lap sonst etwas gegessen? Tommy Woodcock, kaum vernehmungsfähig, schluchzte hervor, bei der Morgenarbeit habe Phar Lap vom Rasen geknabbert, Klee, auf dem möglicherweise ein paar Tautropfen hafteten. Das aber kann doch keinen Menschen umbringen, geschweigedenn eine Roßnatur.
In den Stall konnte kein Unberufener eindringen, am allerwenigsten in das dem hohen Pferd eingeräumte Fürstenzimmer. Das Fenster war hoch und abseitig, nur durch den Ventilatorschacht hätte Gift in die Futterkrippe geschnellt werden können. Tatsächlich soll an der Außenwand des Stalles, unterhalb der Ventilatormündung, eine Spur am Boden darauf hingedeutet haben, daß eine Leiter angelegt worden war.
Für ein Attentat lagen noch mehr Gründe vor, als seinerzeit für die Fingierung eines solchen. 278 Konkurrenzneid der amerikanischen und mexikanischen Rennstallbesitzer und Jockeys, Feindschaften der Unterwelt von Agua Calliente gegen Baron Wintrigham. Auch die puritanischen Kirchengemeinden, die »Wowsers«, die Duckmäuser, wurden von Australien verdächtigt. Schon vor der Ankunft Phar Laps war in den Kirchen und Betstuben Westamerikas gegen die Sünde des Rennbahnbesuchs und des Wettens gepredigt worden und verkündet: Phar Lap sei niemand anderer als der Antichrist, der diesmal Pferdegestalt angenommen habe.
Die Presse sprach nur von einem natürlichen Tod Phar Laps, nicht davon, wovon die Leser sprachen, nicht von dem, was die Leser lesen wollten: von Meuchelmord. Bis eines Tages die größte Melbourner Abendzeitung mit der Schlagzeile erschien: »Who killed Phar Lap?«
Vor einigen Jahren war in einem Kreis von Journalisten zu Berlin die Frage aufgeworfen worden, welches wohl der aufsehenerregendste Nachrichtentitel wäre. Der Preis wurde diesem zuerkannt: »Thronfolger Franz Ferdinand lebt! Der Weltkrieg war überflüssig.« Aber dieser Titel ist geradezu unwirksam gegen: »Wer tötete Phar Lap?« Drei Worte nur (Phar Lap als ein Wort gerechnet) und jedes ein Schlager. Phar Lap ist getötet worden, da stand es im zweiten Wort endlich ausgesprochen, getötet, getötet, und das erste Wort verlangte und versprach Antwort auf die Frage, wer die grause Untat verübte. Wer tötete Phar Lap? Man riß sich das Blatt aus den zitternden Händen und erfuhr – –
– und erfuhr nichts weiter, als daß am Morgen bei Ankunft des amerikanischen Luxusdampfers »Monterey« die auf Port Melbourne Pier stehenden Werftarbeiter den 279 Schiffspassagieren zugerufen hatten: »Who killed Phar Lap?«
Immerhin, niemals war die Zeitung so viel gekauft worden. Daher gab der Chefredakteur dem Reporter eine Gehaltszulage von einem Pfund wöchentlich. Ein mißgünstiger Kollege denunzierte, der Reporter habe einigen Werftarbeitern eine Runde Bier versprochen, wenn sie die drei Worte rufen würden, die er als »scoop«, d. h. eine Nachricht im Alleinbesitz, brauche. Daraufhin erhöhte der Chef die Gehaltszulage auf zwei Pfund wöchentlich.
Wer aber Phar Lap gekillt hat, weiß man noch immer nicht. Der Film »Das Leben Phar Laps« gibt keine Auskunft. Wir haben ihn uns vorführen lassen, Aufnahmen im Stall, auf der Wage, beim Start, auf der Strecke und am Ziel, die Einschiffung zur Eroberung eines neuen Kontinents und schließlich die Heimkehr als Toter. Charlie Lawrence, Australiens Radio-Conferencier, hat den Tonfilmstreifen mit begleitenden Worten besprochen, noch drei Jahre nach Phar Laps Tod zittert Charlie Lawrence's gefilmte Stimme vor Rührung, und wir glauben gern, daß das Publikum bei den Aufführungen laut schluchzte.
Am meisten haben wohl Phar Laps Besitzer geweint, und unter ihnen wiederum am meisten Mister D. J. Davies, der die Majorität der Anteile an Phar Lap besaß. Mister Davies schätzte den Verlust auf volle 100.000 Pfund. Auf 8000 Pfund war Phar Lap versichert gewesen, aber selbst diesen Betrag erhielten seine Leibeserben nicht ausbezahlt, denn die Polizze galt nur für das Leben Phar Laps innerhalb Australiens, und der von Mister Davies vor Antritt der Amerikafahrt gestellte Antrag, sie auf diese Reise auszudehnen, war von der Versicherungsgesellschaft 280 abgelehnt worden. Kurzum: allgemein und uneingeschränkt war die Trauer, und bis zum heutigen Tag sind Schmerz und Verdacht nicht verstummt.
Jenem Australier, der uns schon auf der Überfahrt in der Schiffsbar beschwor, die Wahrheit über den Tod Phar Laps ans Tageslicht zu bringen, sind auf dem Festland viele andere gefolgt.
Wir möchten gerne. Wir stehen hier vor Phar Lap und schauen ihm forschend ins Auge, weil sich in der Pupille eines Ermordeten das Spiegelbild des Mörders erkennen lassen soll. Aber für gläserne Augen trifft das offenbar nicht zu, denn nur unser eigenes Spiegelbild erwidert unserem Blick.
Und wir, wir haben ihn nicht ermordet, Ehrenwort! 281