Egon Erwin Kisch
Landung in Australien
Egon Erwin Kisch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wissen Sie, was Poppy-Day ist? Poppy-Day ist in britischen Landen der 11. November, jedermann trägt zur Erinnerung an den siegreichen Waffenstillstand eine papierene Mohnblume, die Herren im Knopfloch, die Damen auf dem nördlichen Abhang der östlichen Brust. Passagierinnen mit Sammelbüchsen verschleißen das Abzeichen an Bord, und selbst die farbige Bemannung, durch die man sonst hindurchsieht, als ob sie aus Luft bestünde, selbst sie genießt heute die Ehre, als Käufer geworben zu werden. Das einzige menschliche Wesen ohne rotes Abzeichen ist unser Mann; vor einer Woche hätte er vielleicht eines angesteckt, um nicht aufzufallen, heute, als Kriegsgegner entlarvt, kann er nicht mehr mitmachen.

Ohne Blume erwartet er den angekündigten Angriff Italiens. Er hat die Absicht der Gegner dem Stanley Quinlan anvertraut. Stanley Quinlan ist einer von den Riesen, die die australischen Ponnies zur indischen Armee gebracht haben, und nun ins Mallee zurückkehren, die Weidenlandschaft von Victoria. Allsonntäglich folgt Stanley Quinlan dem Ruf der Glocken von Westminster, deren Klang, aus London drahtlos übermittelt, die Passagiere der Touristen-Klasse zum Gottesdienst in den Salon der Ersten Klasse lädt, – einmal in der Woche ist auf der »Strathaird« der 52 Klassencharakter der Gesellschaft aufgehoben. Auch wochentags, bevor Stanley Quinlan aus der ihm viel zu kurzen Koje rollt, betet er laut, sonst flucht er, wie eben ein Bauernbursch aus dem Mallee flucht, und ertränkt die Reue über sein gotteslästerliches Fluchen im Whisky.

Manchmal werden an der Abendtafel Kopfbedeckungen aus Papier verteilt, auf daß köstliche Karnevalsstimmung hervorgerufen werde. Stanley Quinlan sammelt nachts die zerknüllten Papiermützen vom Deck auf. »Für meine kleinen Neffen,« sagt er verlegen, als ihn jemand dabei antrifft, »ich wollte ihnen eigentlich etwas anderes mitbringen, aber ich habe mein Geld vertrunken.«

An ihn, Stanley Quinlan, hält sich unser Mann, seit er vor dem italienischen Angriff gewarnt ist, wie an einen großen Bruder, unser Mann kann sich in keine Prügelei einlassen, ihn zu einem Rowdy stempeln zu können, wäre just das, was die Gegner an Bord, die Gegner an Land wünschen.

Leider sitzt Stanley Quinlan beim Essen nicht an unseres Mannes Tisch, und dort passiert es. Im Speisesaal ist das Rauchen nicht erlaubt, doch wenn die Mahlzeit zu Ende ist, fragt man die Ladies am Tisch, ob sie etwas dagegen einzuwenden haben, sie haben nichts einzuwenden, und man steckt sich eine Zigarette an.

Mitten in der heutigen Zigarette stürmen die Italiener heran, und einer schreit auf englisch, von den anderen mit Rhabarber-Rhabarber untermalt, hier darf nicht geraucht werden, Steward, schmeißen Sie den Kerl hinaus. Mit erhobener Stimme antwortet unser Mann, nehmen Sie sich in acht, in bin Boxer, und werde Ihnen die Kinnbacke zerschlagen, und schielt dabei in die entlegenen Distrikte 53 des Saals, ob die Antwort auch laut genug gegeben war, daß Stanley Quinlan sie höre.

Unschlüssig steht der farbige Steward da, er traut sich nicht recht einzuschreiten, aber schon stoßen ihn die Italiener gegen unseren Mann, go on, go on, andere Passagiere umdrängen die Szene, da stapft endlich, endlich, der große Bruder heran, da zertrennt er gewaltig den dichten Chor, schiebt den schlotternden Steward zurück und die Italiener zur Seite, und winkt dem Rädelsführer: »Komm aufs Deck, ich will mal verdammt mit dir sprechen, du verdammter Feigling.«

Es erweist sich jedoch, alle Zeugen sehen es bewundernd, daß der verdammte Feigling kein Feigling ist, sondern darauf brennt, sich mit Stanley Quinlan, dem Riesen, zu messen. »Ja, komm' hinaus, komm' aufs Deck, ich werde dir schon zeigen, wer ein Feigling ist,« brüllt der Italiener, krempelt die Ärmel hoch und eilt kampfbegierig zur Tür, Stanley kann kaum mit ihm Schritt halten, der Italiener wendet sich höhnend um, »mach schneller, mein Junge, ich werde dir schon zeigen.« Seine Freunde umgeben ihn, Stanley Quinlan geht hinter ihnen, die Passagiere drängen nach. Da sie aber hinauskommen, um den Fight zu sehen, sehen sie nur Stanley Quinlan, der verlegen wie ein Kind dasteht und murmelt: »Sie sind weg, sie sind weg.« So endete die Provokation mit Gelächter.

Es geht Melbourne zu, der Geburtstagsstadt. Sie hatte ursprünglich den König erwartet, erfuhr aber schon vor Jahresfrist, daß an seiner Stelle sein ältester Sohn, der Fürst von Wales, nach Australien kommen werde. Kurz darauf wurde offiziell verlautbart, nicht der Kronprinz von England, der Fürst von Wales, sondern der Herzog von Kent 54 werde den König bei der Hundertjahrfeier des Staates Victoria vertreten; die Änderungen nahm der Konkurrenzstaat Neusüdwales mit größerer Freude zur Kenntnis als der Staat Victoria, nämlich mit Schadenfreude.

Also Herzog von Kent. Emailabzeichen mit seinem Bild wurden in hunderttausenden von Exemplaren fabriziert, Schokoladenpackungen mit dem Herzog von Kent, Fähnchen mit dem Herzog von Kent, Ansichtskarten mit dem Herzog von Kent, Bilderbücher über den Herzog von Kent.

Da wird der Herzog von Kent unvermutet mit einer anderen Aufgabe betraut, Marina von Griechenland zu heiraten, und Australien kriegt den Herzog von Gloucester. Was wird nun aus den Abzeichen, den Konfektpackungen, den Ansichtskarten und den übrigen Dingen mit dem Herzog von Kent?

Immerhin, die Feier wird imposant werden, wenn nichts dazwischen kommt, sagen sich die Veranstalter. Und was sollte dazwischenkommen, fügen die Veranstalter ihrem Selbstgespräch hinzu, der Antikriegs-Kongreß etwa? Lächerlich. Die beiden Überseedelegierten werden ja fehlen. Gerald Griffin hat sich nach Neuseeland zurückschicken lassen und ist schön artig dort geblieben, der andere wird unbeachtet an der Stadt vorbeifahren. Wäre nicht das Aufsehen mit dem Landungsverbot gewesen, hätte man sogar den ganzen Kongreß totschweigen können.

*

Von der Roten Hilfe Australiens ist in Melbourne ein Prozeß anhängig gemacht worden, eine Klage wegen Menschenraub: der Kapitän eines Schiffes habe nicht das Recht, einen Mann, dem in einem Land die Landung verweigert 55 wird, als Gefangenen durch die sieben Meere zu schleppen. Hat sich der Kapitän der »Strathaird« überzeugt, ob dieses Landungsverbot zu Recht erfolgte? Australien hat Gesetze, unliebsame Personen abzuschieben, aber landen lassen muß es jeden, gegen dessen Einreise nicht »von der Regierung einer befreundeten Macht durch offizielle Kanäle Einspruch erhoben wurde«. Gab es einen solchen Einspruch und von welcher befreundeten Macht? Wurde er dem Kapitän übergeben? Wenn nicht, so hat er an dem Weltdelegierten kidnapping begangen, Menschenraub.

Nach britischem Recht gibt es nur eine einzige Person, die wegen Verletzung des britischen Rechts Klage erheben kann: der König von Großbritannien. Der denkt schwerlich daran, den Kapitän der »Strathaird« wegen Verschleppung eines Kriegsgegners vors Gericht zu ziehen. An des Königs Stelle und in des Königs Namen darf es der Geschädigte tun. Wo aber der Kläger ist, nämlich auf hoher See, ist kein Richter, und wo ein Richter ist, nämlich auf dem australischen Festland, ist kein Kläger, weder König George V., noch sein Klagevertreter Kisch, und keiner von beiden hat jemandem eine Vollmacht zur Klage gegeben.

Allerdings kann das Oberste Gericht des Staates Victoria das nicht vorher wissen. Es muß augenblicklich zusammentreten, wenn eine Klage eingebracht wird wegen Verletzung der Magna Charta und ihres Gebots: Du sollst deinen Körper haben, und über deinen Körper verfügen können, solange er nicht durch gerichtliche Entscheidung in Haft genommen ist. Also wurde auf Grund der Klage wegen Bruchs der Habeas Corpus Acte die Verhandlung angesetzt, und erst bei Beginn dieser Verhandlung wird das Gericht feststellen, ob eine Klagelegitimation vorliegt. 56

Nun, auch von diesem Prozeß brauchen die Veranstalter der Jahrhundertfeier keine Beeinträchtigung des Festes zu fürchten. Der Regierungsvertreter wird einfach die Note vorlegen, mit welcher eine befreundete Macht, und zwar England, sich durch offizielle Kanäle die Landung unseres Mannes verbeten hat, und dann wird der Kapitän freigesprochen werden und das Schiff mitsamt dem Kläger nach Sydney weitersegeln.

Vorläufig fährt die »Strathaird« erst in Port Phillip ein, dem Hafen von Melbourne; aus einer Barkasse steigt eine Dame an Bord und stellt sich unserem Mann als Mrs. Rosenove vor, seine Rechtsanwältin im Prozeß gegen Mister Carter wegen kidnapping . . . habeas corpus . . . Sehr erfreut, sehr erfreut, murmelt unser Mann und denkt, was für ein Prozeß?, wer ist Mister Carter?, kidnapping ist amerikanisch, habeas corpus ist lateinisch, und das ganze kommt ihm spanisch vor.

»Ein Notar wird kommen, um Ihre Identität festzustellen. Mrs. Arens wird bestätigen, daß sie Sie kennt, von Berlin her, vom Januar 1932, aus der Wohnung des Abgeordneten Münzenberg in der Friedrichstraße . . .« Ah, da sind sie schon, ein Notar und eine Frau, und der Notar fragt unseren Mann, ob er diese Frau kenne. Freilich, erwidert der, freilich kenne er diese Dame, das ist ja Mrs. Arens, nicht wahr?, und er sei mit ihr in der Wohnung des Abgeordneten Willy Münzenberg in der Berliner Friedrichstraße beisammen gewesen. – Wann das gewesen sei, fragt der Notar streng und hält ein Protokoll in beiden Händen, wie ein Herold die kaiserliche Bulle. Das sei im Januar 1932 gewesen, äußert unser Mann, ohne mit der Wimper zu zucken, und damit ist alles in 57 Ordnung; genau so steht es nämlich auch im Protokoll von Mrs. Arens, das nun notariell gefertigt und gesiegelt werden kann. Unser Mann ist behördlich als derjenige agnosziert, der er wirklich ist, obwohl er ebensogut im Januar 1932 in Shanghai statt in Berlin gewesen sein könnte, und Herr Willy Münzenberg möglicherweise niemals in der Friedrichstraße gewohnt hat. Aber nur auf solche Art ist die Wahrheit gerichtsordnungsmäßig zu beweisen.

Es treten ab der Notar, die Anwältin und die Zeugin, sie müssen zum Gericht, es treten andere auf. Zwar hat die Polizei den Kai abgeriegelt, keine Abordnung und kein Einzelbesucher darf zu unserem Mann, aber sie kommen doch. Denn zu den anderen Passagieren darf man, man muß nur den zu Besuchenden nennen, und die Konstabler schauen in der Schiffsliste nach, ob der wirklich darin steht. Er steht immer wirklich darin, die Freunde unseres Mannes haben sich die Schiffsliste beschafft, und jeder nennt einen unanfechtbaren Namen.

Parlamentsmitglieder werden durch jeden Kordon gelassen. Erstaunt schüttelt unser Mann dem Senator Arthur Rae und dem Abgeordneten Dr. Maloney die Hände. Als er auf der Überfahrt in dem Buch »Australia's Awakening« diese Namen las (mit ihnen traten die ersten Arbeitervertreter in die frühkapitalistische Urzeit Australiens ein), dachte er, die beiden nur noch auf Denkmälern zu finden, aber hierzulande liegt ja nichts sehr weit zurück, da stehen die zwei Sagenhaften in persona.

»Haben Sie einen Entwurf Ihres Referates oder so etwas?« fragt der Sekretär des Kongresses unseren Mann. Ja, so etwas habe er, erwidert unser Mann und freut sich, daß seine Arbeit nicht vergeblich war; mit dem Konzept 58 der Rede eilt der Sekretär davon, um sie von der Tribüne zu verlesen.

Auf dem Schiff gibt es viele Wände und auf den Wänden kleben viele Zettel und auf den Zetteln ist der fromme Wunsch gedruckt: »Kisch must land«, und ein Exemplar wurde unserem Mann an den Rock geheftet, was die Fotografen zur Großaufnahme seines Knopflochs veranlaßt. Boote, mit antifaschistischer Jugend bemannt, umkreisen die »Strathaird«, ihre Fahnen und Banner tragen Losungen gegen die Nazibarbarei, für die Freilassung der politischen Gefangenen im Dritten Reich; Burschen und Mädel heben die Ruder, schwingen die Fahnen, rufen im Sprechchor: »We want Kisch«, und unser Mann kann darauf nur antworten: »I want you

Unter den Gästen an Bord sind Schriftsteller, die gegen das Landungsverbot protestiert haben. Berufsfragen werden diskutiert und eine Zusammenkunft verabredet, aus der die Writers' League hervorgehen wird, australische Sektion der Schriftsteller-Internationale.

Gleichzeitig wickelt sich vor dem Obergericht von Victoria der Prozeß ab; Menschenraub oder legale Abschiebung, das ist die Frage. Was dort und überhaupt auf dem Festland vor sich geht, darüber berichten die rasch einander folgenden Ausgaben der Abendblätter, Meldungen vom Kongreß, vom Prozeß, von Szenen am Kai und von Verhaftungen wegen Flugblattverteilung, wegen Zettelklebens, wegen Nichtbefolgung der Polizeibefehle, wegen Amtsehrenbeleidigung.

Größer und größer ist das Getriebe an Bord geworden, alles drängt und stößt durcheinander, Einzelgespräche sind unmöglich geworden. Organisieren wir ein Meeting! Es wird ein dreistöckiges Meeting. Vom Oberdeck leitet es 59 der Präsident der Eisenbahnergewerkschaft, T. M. Gleeson, und von dort sprechen die Redner, auf dem Verdeck darunter, backbords und steuerbords, bilden die Besucher und die neugierig hinzutretenden Schiffspassagiere das Auditorium, aber beileibe nicht das ganze; Versammlungsteilnehmer, meist Hafenarbeiter, stehen bis zum Wasserrand am Kai, Versammlungsteilnehmer, meist Jugend, lauschen in den rotbeflaggten Booten zu Füßen der »Strathaird«.

Seit Schiffe die Welt durchsegeln, haben wohl noch niemals Bewohner des Festlands ein Schiffsdeck als Lokal für eine politische Massenversammlung gewählt. Filmoperateure kurbeln die Revolution auf dem Meer, eine Polizeiabteilung marschiert die Landungsbrücke empor, aber sie schreitet nicht ein, so scharf auch die Redner losziehen gegen die Regierung.

. . . gegen die Regierung. Die tagt in Canberra, dort tagt auch das Parlament, dort schlägt die Erregung Wellen. Ein Minister gibt sogar in seiner Eigenschaft als Schriftsteller eine Erklärung ab.

Der Minister für Zollwesen, Mr. White, drückte heute seine Überraschung und Mißbilligung über den vom Präsidenten des Schriftstellerverbandes Mr. Bernard Cronin verfaßten Protest gegen die Verbannung von Kisch aus, der ohne Befragung der Mitgliedschaft erfolgte. »Ich selbst bin Mitglied«, sagte Minister White, »und ich wurde nicht befragt. Wie man der Angabe Kisch's Glauben schenken kann, daß er Schriftsteller sei, ist mir unerfindlich. Die Werke, die er geschrieben zu haben behauptet, scheinen der Welt unbekannt zu sein. Jedenfalls steht fest, daß keines seiner Bücher jemals in die englische Sprache übersetzt wurde.«

Es mag für einen Autor recht bitter sein, solchen Hohn über sich ergehen lassen zu müssen, aber der zu 60 Kränkende hat keine Zeit, sich zu kränken. (Vielleicht später.)

Generalstaatsanwalt Menzies läßt sich wieder vernehmen, alle Aktionen für den Ausgewiesenen seien sinnlos und zwecklos, denn ebenso wie der neuseeländische Antikriegsdelegierte Gerald Griffin rücksichtslos dorthin zurückexpediert wurde, woher er kam, werde es dem Weltdelegierten ergehen. »Er wird, so erkläre ich zum dritten und letzten Male, seinen Fuß nicht auf den Boden des australischen Gemeinwesens setzen.«

Es mag für einen Delegierten recht bitter sein, solche Verdammung über sich ergehen lassen zu müssen, aber der zu Entmutigende hat keine Zeit, entmutigt zu sein. (Vielleicht später.)

Die Entscheidung, ob unser Mann seinen Fuß auf australischen Boden setzen darf, liegt vorläufig noch in den Händen des Obersten Gerichts von Victoria. Am frühen Morgen begann der Prozeß. Mrs. Arens hat ausgesagt, der Kapitän der »Strathaird«, Mr. A. E. Carter, halte ihren Berliner Freund widerrechtlich an Bord fest, obwohl dieser ein ordnungsgemäßes Einreisevisum vom britischen Generalkonsulat in Paris besitzt. Mrs. Rosenove, die im Namen unseres Mannes dasteht, der seinerseits im Namen des Königs von Großbritannien und Irland dasteht, verlangt ein »order nisi«, die Aufhebung der unrechtmäßigen Festhaltung an Bord. Dagegen wendet der angeklagte Kapitän ein, er sei dafür verantwortlich, daß die Befehle der Commonwealth-Regierung auf seinem Schiffe durchgeführt werden. Allerdings kann er die Befehle der Commonwealth-Regierung, die die Festhaltung des Klägers verfügen, derzeit nicht vorweisen. Vertagung des Prozesses auf morgen. 61

Auch der Tag vertagt sich, und der Abend sinkt über Port Phillip und die Stadt Melbourne, die Wellen werden müde und die Fenster finster, jedoch der Besucherwirbel auf der »Strathaird« flaut nicht ab, er währt die Nacht hindurch, setzt sich ohne Unterbrechung am nächsten Morgen fort.

Schon gestern abends hätte die »Strathaird« in See stechen müssen, wenn sie ihrem Fahrplan gefolgt wäre. Aber sie ist festgehalten und wird festgehalten bleiben, so lange, bis das Gericht entscheidet, ob einer ihrer Passagiere mit Recht festgehalten wird.

Unseres Mannes Besucher reden selbstverständlich nicht nur mit ihm, sondern auch miteinander; ihre Gespräche, die sich überschneiden, sind Gespräche des Alltags, allerdings des Alltags von Melbourne.

»Sind Sie nicht mehr in der Radwerkstätte . . .?« – »Ihre Kleine geht mit unserer Nell zur Schule, ich hab' das erst vor ein paar Tagen gehört . . .« – »Trinken wir nachher einen Cocktail bei Menzies . . .« – »Nein, ich arbeite schon über ein Jahr bei Ruskin Limousines . . .« – »Ist unser John Fisher wirklich der Sohn vom Prime-Minister Andrew Fisher . . .?« – »Am besten fahren Sie von Flinders Street mit der Deepdene bis Kew . . .« – »Wir wohnen jetzt in Heidelberg . . .« – »Sie müssen am Montag auf unserem Meeting in der Unity Hall sprechen, wenigstens ein paar Worte.« – »Kommen Sie um sechs zum Geigenmacher Bill Dolphin, ein Glas Bier trinken.« – »Bourke Street . . . Collins Street . . .« – »Rufen Sie mich vorher an, Ivanhoe 4646; das ist leicht zu merken . . .«

Ja, ja, sagt sich unser Mann, das ist leicht zu merken, aber schwer zu verstehen. Alles ist so schwer zu verstehen. 62 Wieso geben sich meine Freunde bei meinem Feind Menzies, dem Staatsanwalt, ein Rendezvous zum Cocktail? Wieso wohnen Melbourner Familien in Heidelberg und sind doch hier? Seit wann kehrt man bei einem Geigenbauer ein, wenn man ein Bier trinken will? Was mag Deepdene sein?

Da unten, ein paar Schritte von hier, liegt eine Riesenstadt. Ist dieses Melbourne so wie Berlin, dieses Australien so wie Europa? Wie gerne möchte er alles sehen und beschreiben, seinen Auftrag ausführen, zu sprechen und zu warnen vor der Barbarei, deren Zeuge er war, und er darf nicht hinunter von dem vermaledeiten Dreckschiff da. Nie werde ich in Bill Dolphins Violinwerkstätte Bier trinken, nie erfahren, was Heidelberg auf australisch bedeutet, nie Bourke Street betreten noch sonst eine Straße, so denkt unser Mann inmitten des Rummels, der vom Land in ihn einmündet und von ihm ins Land.

Am nächsten Tag erscheint ein Vertreter der Bundesregierung vor Gericht und verliest eine Erklärung des Innenministers Paterson:

»Am 18. Oktober 1934 hat in Verfolgung von Abschnitt 3, § GH des Einwanderungsgesetzes, der für besagtes Gesetz zuständige Minister auf Grund einer von einem anderen Teil des britischen Imperiums durch offizielle Kanäle erhaltenen Information den Egon Erwin Kisch als einen unerwünschten Besucher oder Bewohner des Commonwealth erklärt.«

Die Vertreterin unseres Mannes bezeichnet die Angaben dieses Dokuments als falsch; am 18. Oktober war dem Minister unbekannt, daß der Delegierte kommen werde. Der Befehl an die Hafenbehörde in Fremantle besagte, »Kisch, der laut Melbourner Zeitungsnachrichten zu Vorlesungszwecken eintreffen werde, ist an der Landung zu 63 verhindern.« Aber die ersten Zeitungsnachrichten über die bevorstehende Ankunft erschienen erst vierzehn Tage nach jenem 18. Oktober. Das Verbot erfolgte auf Wunsch der deutschen Nationalsozialisten in Australien, und die Behauptung des Ministers, es liege eine durch offizielle Kanäle eingelangte Information von seiten eines anderen Teiles des Empire vor, trage den Stempel der Unwahrheit. Wo ist diese Information? Wie ist ihr Wortlaut?

Die Fragen werden nicht beantwortet. Um ein Uhr mittags erhebt sich der Oberrichter und verkündet, er werde, entgegen der Gepflogenheit, das Urteil der Urteilsbegründung folgen zu lassen, diesmal das Urteil voranstellen, damit die »Strathaird« nicht länger als notwendig im Hafen bleibe. Und also laute das Urteil: Die Klage wird abgewiesen, die Festhaltung des Klägers an Bord ist rechtsgültig; die Kosten des Verfahrens gehen zu seinen Lasten.

Telefonisch meldet man die Nachricht an Bord, die Signalpfeife schrillt, alle Besucher müssen das Schiff verlassen. Unser Mann verabschiedet sich und verspricht, auf dem Vorderdeck zwecks Winke-Winke zu erscheinen. Einem jungen Reporter, mit dem er über dessen politische Zweifel diskutiert hat, gibt er zum Abschied den Rat, nach Abstoßen des Schiffes noch ein paar Minuten am Ufer zu bleiben.

»Das kann ich nicht, ich komme ohnehin schon zu spät in die Redaktion.« – »Riskieren Sie fünf Minuten.«

Einige Tage später bekommt unser Mann einen überschwenglichen Dankbrief des jungen Reporters, er habe gewartet, »hätte ich Ihrem Rat nicht gefolgt, wäre ich mit Schimpf und Schande entlassen worden, denn ich hätte alles versäumt, was sich ereignet hat.« 64

Was hat sich denn ereignet? Die »Strathaird« stieß ab, ein Meter Wasser war schon zwischen dem Schiffsrumpf und dem Uferrand, da sah die Menschenmenge auf dem Kai mit Entsetzen, wie sich fünfeinhalb Meter hoch über ihr ein Mann auf die Reeling schwang; um Gotteswillen, er wird sich doch nicht herunterstürzen?

Man wird verstehen, daß wir nicht selbst sagen, was sich ereignet hat, sondern es weniger Beteiligten, unberufen Berufeneren zu sagen überlassen. Im Berliner »Angriff« zum Beispiel wird es folgendermaßen gesagt: »Jüdische Frechheit des Rasenden Reporters. – Gerechte Strafe: Kisch bricht sich die Beine.« Ohne Zweifel ist dieser »Angriff« übertrieben; so groß war die jüdische Frechheit denn doch nicht, sie begnügte sich damit, ihm ein Bein zu brechen, allerdings doppelt.

Wer dem Tatort näher ist, kommt dem Tatbestand näher. Kleben wir einfach die Titelseite irgendeiner australischen Zeitung hierher:

»Erfahrend, daß das Gericht den Antrag auf seine Freilassung abgelehnt hat, sprang Egon Erwin Kisch, der verbannte tschechoslowakische Schriftsteller und Vortragende, vom 18 Fuß hohen Achterdeck der ›Strathaird‹, als diese eben im Begriff war, nach Sydney abzusegeln. Auf eine Stahlschiene des Piers fallend, verletzte er sein Bein und brach, nachdem er einen Schritt gemacht hatte, zusammen. Freunde wollten ihm helfen, aber von allen Seiten herbeieilende Konstabler ergriffen ihn und trugen ihn unter Führung zweier Detektiv-Inspektoren trotz aller seiner Proteste in der Richtung zum Schiff.

›Wenn Sie mich an Land verhaftet haben‹, schrie er unterwegs mit gellender Stimme, ›dürfen Sie mich nicht auf ein Schiff bringen.‹ Diesem Protest wurde jedoch nicht stattgegeben, und Kisch auf das Schiff gebracht, das Gegendampf gegeben hatte, zum Kai zurückkehrte 65 und eine Landungsbrücke auswarf. Jenes Teils des Publikums, der in der Nähe des Achterdeckes stand, bemächtigte sich ungeheure Erregung, die sich in verschiedenartiger Weise Luft machte und auch nach Wiederabfahrt der ›Strathaird‹ nicht verstummte. Zur Stunde ist die Polizei dabei, den Station Pier zu räumen.

Der Sprung war die Folge der an Bord gelangten Mitteilung, daß Oberrichter Irvin die Klage abgewiesen habe. Kisch, obzwar er vorher Freunden und Besuchern versichert hatte, daß er nicht erwarte, in Melbourne befreit zu werden, war sehr betroffen über die gerichtliche Entscheidung. Seine Besucher begaben sich ans Ufer und warteten auf ein Abschiedswort. Als er an der Reeling erschien, riefen einige: ›Warum kommen Sie nicht ans Ufer?‹ Er deutete auf einen Mann, der sich mehr oder minder an seiner Seite hielt und ihn zu bewachen schien. Dann entfernte sich Kisch, worauf die meisten seiner Freunde den Pier verließen, da sich das Schiff zu bewegen begann.

Kaum drei Minuten später erschien er auf dem Achterdeck, schwang sich auf das Geländer und sprang hinab. Er stürzte auf den Pier, erhob sich, machte einen Schritt vorwärts und brach mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Im selben Augenblick hatte ihn schon der Konstabler I. B. Weller erreicht und fragte ihn in freundlicher Weise, ob er sich verletzt habe. Er antwortete, er habe sein rechtes Bein gebrochen. Man trug ihn fort, und zwar auf Weisung der Detektive, trotz seines lauten Protestes, auf das wieder anlegende Schiff zurück.

Vom Hauptquartier der Polizei werden wir informiert, daß der Kornmandant der ›Strathaird‹, Capt. Carter, für den sicheren Gewahrsam Kisch's haftbar ist, und im Augenblick der Rückkehr des Schiffes von der Polizei verlangte, daß man den Flüchtigen zurückschaffe.

Ehe die ›Strathaird‹ von neuem abstieß, beklebten Demonstranten den Bug mit Zetteln, auf denen die Worte gedruckt waren: ›Kisch, deportiert von Hitler 1933 – von Lyons 1934. Kisch muß landen!‹ Zwei Frauen wurden beim Zettelkleben festgenommen.

Weitere Nachrichten über die Szenen an der 66 Landungsbrücke S. 2 und 4. – Der Fall Kisch vor Gericht S. 5. – Die Fälle Kisch und Griffin vor dem Bundesparlament S. 5. – Ein tschechoslowakischer Beethoven (Smetana) S. 8.«

*

Sich in Schmerzen windend, ist unser Mann vor den Schiffsarzt gebracht worden, der seine Achselklappen zuckt: ohne Röntgenstrahlen könne er nichts machen, und es gäbe keine Röntgenstrahlen auf dem Schiff. Damit etwas als geschehen erscheine, gibt er den Auftrag, das Bein zu verbinden. Der Patient wird durch eine Gasse gezückter Spießruten in seine Kabine getragen.

Freund O'Hara, der Steward, hilft unserem Mann aus den Kleidern. Unser Mann kann sich nicht bewegen. Aus Leintüchern macht O'Hara eine Schlinge und zieht sie durch die Bettstatt, die über der unseres Marmes liegt und seit Melbourne leer ist. An dieser Schlinge kann er sich ein wenig hochziehen, aber auch das schmerzt unbeschreiblich. Er hat hohes Fieber.

O'Hara sagt: »Was haben Sie da getan! Das hätten Sie nicht machen sollen, alle Passagiere sind jetzt gegen Sie.«

Unser Mann denkt an die Proklamation, er werde seinen Fuß nicht auf den Boden des australischen Gemeinwesens setzen. Nun hat er seinen Fuß auf Australien gesetzt und ihn dabei gebrochen. Mister Menzies kann lachen. Und auch der Nazi-Diplomat, der durch seine Intervention das Landungsverbot veranlaßt hat, und die Gestapo in Berlin lachen sich ins blutige Fäustchen.

Keine Röntgenstrahlen an Bord, ohne das Bein einzurenken oder zu gipsen, wird man ihn auf der »Strathaird« lassen, die keineswegs bereits umkehrt. Im nächsten Jahr, 67 wenn sie wieder in Europa landet, wird er längst zum Krüppel geworden sein, ohne Zweifel.

Am besten ist's, an gar nichts zu denken. Lesen aber kann er auch nicht, zu sehr peinigt ihn das gebrochene Bein. Dort auf dem Koffer flimmert, mit roter Tinte kalligraphiert, auf einem pergamentnen Einband der Name Hölderlin, das Gedichtbändchen ist das handgeschriebene Geschenk einer deutschen Genossin aus Melbourne.

Ein Bote bringt Depeschen aus Sydney und Melbourne: »warum sind sie gesprungen fragezeichen drahtet zweihundert worte stop redaktion . . .« Weg damit! Vielleicht wäre es gut, dem tschechoslowakischen Generalkonsulat in Sydney zu telegrafieren, daß das Bein einer Röntgenaufnahme bedarf; Telegramme an Konsularbehörden dürfen nicht zurückgehalten werden. »Zamini« heißt die Telegramm für mich aufschreiben? Danke bestens. Für weitere sechs Worte reicht die Barschaft noch.

Wieder kommt ein Depeschenbote. Wollen Sie ein Telegramm für mich aufschreiben? Danke bestens. Reichen Sie mir, bitte, das Büchlein vom Koffer. Danke bestens.

Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahrlang ins Ungewisse hinab.

Nein, er kann nicht lesen, seine Lippen und das Schiff skandieren in einem falschen Rhythmus mit. Die Schiffswände klopfen Schreibmaschine, immerwährend ein Wort 68 aus zehn Buchstaben, dann eine Pause, dann wieder zehn Buchstaben. Unser Mann denkt über Worte mit zehn Buchstaben nach, er fühlt wie das Fieber steigt, wenn er wenigstens schlafen könnte; der Steward tritt ein und fragt, ob er das Licht ausknipsen soll. Allright, switch off the light, O'Hara, und bitten Sie den Doktor um ein Schlafmittel. Ein alberner Schüttelreim frißt sich in unseres Mannes Hirn.

Leise kehrt O'Hara nach zeitloser Zeit in die Kabine zurück, leise, um unseren Mann nicht zu wecken, falls er eingeschlafen sein sollte. Keine Rede von Eingeschlafensein; im Bein steckt ein zerbrochener Knochen, im Kopf der Schüttelreim von einer Maus, die nicht zum Speck dringt und deshalb vom Deck springt, blödes Vieh.

Zwei Pulver für heute, zwei für morgen, hat der Arzt sagen lassen; unser Mann nimmt alle vier, und auch das nützt nichts. Es klopft an die Tür, nein, es ist nur das in eine Schreibmaschine verwandelte Schiff.

Herr Strauß ist da, der Spitzel aus der französischen Konzession von Shanghai, der auch damals am Bett stand, als unser Mann einen Anfall von Malaria hatte. »Ich soll Sie im Namen von Herrn Ussakowski einladen, mit ihm und Herrn Trebitsch-Lincoln heute im Cathai-Hotel zu dinieren; er wird Ihnen sein Auto schicken.« Unser Mann herrscht ihn an, nun habe er ihm doch wirklich oft genug gesagt, daß er ihn nicht mehr sehen wolle. »Wenn andere Leute hier sind,« antwortet Strauß, »kann ich auch da sein, ich habe noch niemanden an den Galgen geliefert.«

Die kleine, dicke Frau neben ihm ist Madame Denise vom Hotel in Versailles, wo unser Mann wohnt. Sie sagt mit piepsender Stimme, sie brauche das Zimmer im dritten 69 Stock für einen Flieger. Es klopft, und Herr Strauß fragt, was er Herrn Ussakowski bestellen soll und sagt eindringlich, machen Sie sich ihn nicht zum Feind, der weiß ganz genau, mit welchen Chinesen Sie sich gestern in Tschapei getroffen haben.

Wieder klopft es, und unser Mann ruft »entrez«, weil Madame Denise eben auf französisch erklärt hat, ein Flieger müsse doch im dritten Stock wohnen wegen der Luft und der Höhe; aber die Frauenstimme, die eintritt, fragt auf englisch, ob sie das Licht anknipsen darf. Allright, sagt unser Mann, switch on the light, und da steht ein wunderwunderschönes Mädchen, wie man es leider nur sieht, wenn man hohe Temperatur hat.

Kamerad, sagt sie, die Kongreßleitung hat mich beauftragt, mich auf der »Strathaird« einzuschiffen, damit wir mit Ihnen in Kontakt bleiben.

Sehr schön, sagt unser Mann, sehr schön vom Kongreß und von Ihnen, meine Dame. Schade, daß die Ozeandampfer nur in Fieberträumen Küstenpassagiere aufnehmen, sonst wären Sie wirklich vorhanden, meine Dame. Sie heißen natürlich Diotima, nicht wahr?

Ich heiße Gwendolyn. Ich mußte eine Schiffskarte nach Neuseeland lösen, weil die Ozeandampfer keine Küstenpassagiere aufnehmen.

Ist es nicht schön, Fieber zu haben? Wenn sich die Logik gegen irreale Erscheinungen wehrt, so antworten die Fieberphantasien mit logischen Begründungen. Man muß seinen Zweifel gar nicht aussprechen, man denkt ihn bloß, und schon ist die Phantasiefigur dabei, ihn zu widerlegen.

Hier ist mein Ticket von Melbourne nach Wellington, damit Sie mir glauben, Kamerad. Und hier meine 70 Parteilegitimation; ich bin Org.-Leiterin des Unterbezirks in X. Die Freunde haben mich an Bord geschickt, bevor noch der Prozeß zu Ende war, ich habe Sie aber auf dem Verdeck nicht angesprochen, um nicht mit Ihnen gesehen zu werden. Deshalb bin ich auch nicht bei Tag gekommen. Ich bleibe an Bord, solange Sie an Bord bleiben.

Ja, Kameradin Gwendolyn, bleiben Sie ewig mit mir auf dem Schiff, aber Sie sollten mir das nicht gerade vor Herrn Strauß sagen, der ist nämlich ein Polizeispitzel.

Ich habe noch keinen an den Galgen geliefert, sagt Strauß.

Wer? Ich kenne keinen Herrn Strauß, sagt Gwendolyn.

Entschuldigen Sie, ich habe nämlich ein wenig Fieber, sagt unser Mann, ich weiß natürlich, daß niemand hier ist, auch Sie nicht, du schönster aller Fieberwunschträume.

Ich will Sie nicht stören, Kamerad, wenn Sie zu große Schmerzen haben.

Verweile doch . . .

Ich soll Ihnen dreierlei bestellen, Kamerad. Erstens ist gestern beschlossen worden, den Prozeß, falls Sie ihn in Melbourne verlieren, in Sydney noch einmal angängig zu machen.

Und dann kann ich sofort nach Melbourne zurückfahren und beim Geigenbauer Bill Dolphin ein Glas Bier trinken . . . Nur schade, daß das nicht möglich ist. Es war ja das Oberste Gericht, das gegen mich entschied, und eine höhere Instanz gibt es nicht.

Es war das Oberste Gericht von Victoria. In Sydney aber ist das Oberste Gericht von Neusüdwales, und außerdem ist dort das Oberste Gericht für das ganze Commonwealth . . .

 . . . und das wird mich gleich an Land lassen und sich feierlich bei mir entschuldigen, nicht wahr? 71

Jedenfalls sind die Aussichten in Sydney viel günstiger; dort gibt es keine Jahrhundertfeier und keinen königlichen Besuch, die von Ihnen gestört werden können, man tut in Sydney in der Regel das Gegenteil von dem, was in Melbourne getan wird, und das Oberste Gericht ist ziemlich demokratisch. Vielleicht läßt man Sie wirklich an Land.

Dann kann ich mein Zimmer hier abgeben, c'est entendu, Madame Denise.

Wie bitte? Also das war das erste, was ich Ihnen zu bestellen habe.

Und das Zweite, du Herold der Freude, namens Gwendolyn? Was geschieht dann, wenn die Maus nicht an den Speck dringt?

Zweitens erscheint Ihr Referat als Broschüre. Es wird heute nacht in Melbourne gedruckt, das andere Exemplar des Manuskripts nimmt das Rote Hilfe-Auto nach Sydney mit, damit die Broschüre dort noch vor dem Eintreffen der »Strathaird« erscheinen kann.

Ich habe ja nur einen Entwurf abgegeben, und an Stelle der Namen habe ich immer X. geschrieben.

Seien Sie ganz ohne Sorge. Ich habe es abgetippt. Wir wußten schon, wo statt X. der Name »Hindenburg« und wo der Name »Hitler« einzusetzen war.

Sie haben es abgetippt? Sind viele Worte mit zehn Buchstaben darin, verzeihen Sie . . .

Es ist eine ganz gute Analyse des Nazifaschismus, und viel Konkretes darin, das wir bisher nicht wußten.

Und was ist das Dritte, das Sie mir zu verkünden haben, Genossin Gwendolyn?

Das Dritte! Das Dritte ist so konspirativ, daß ich es 72 selbst Ihnen nicht vor elf Uhr nachts sagen durfte. Sie wissen doch, wer Gerald Griffin ist?

Natürlich, der Kongreßdelegierte, den man nach Neuseeland abgeschoben hat.

Ja. Er ist zurückgekehrt. Unter falschem Namen. Heute abends spricht er bei den Kohlenkumpels in Newcastle.

Wird man ihn nicht verhaften?

Wir haben Vorsichtsmaßnahmen getroffen . . . außerdem wird die Polizei in einem Bergarbeiter-Meeting nicht so leicht eine Verhaftung wagen. Griffins Landung ist ein Schlag gegen die Reaktionäre. Weite Kreise sind empört über die beiden Landungsverbote, die Bewegung gegen Krieg und Faschismus wächst, – wenn jetzt auch noch Sie landen würden . . .

Das mit Griffin ist wirklich herrlich, jetzt fühl' ich mich viel besser.

Wirklich? Das ist schön, Kamerad. Ich soll auf Sie aufpassen, ob man Sie nicht heimlich auf ein anderes Boot bringen will oder sonstwohin, um Sie von der Öffentlichkeit abzuschneiden. Wenn Sie Telegramme aufgeben wollen, kann ich das selbstverständlich für Sie tun, ich habe auch Geld für diesen Zweck bekommen. Oder wenn Sie sonst etwas brauchen?

Und so verging die Nacht trotz aller Schlafmittel als eine Nacht ohne Schlaf, und so verging die Nacht trotz aller Schmerzen als eine Nacht ohne Schmerzen.

Da die Wellen in goldbesticktem Hellgrau am Glas des Bullauges vorübereilen, ist der Morgen gekommen und kein Gast mehr in der Kabine, und der Tag meldet sich von überall her, auch von Europa: drahtet ob schwer verletzt. 73 Mittags, während alle im Speisesaal sind, schlüpft Gwendolyn herein und bringt eine an sie eingelangte Depesche: konzert großartig ausgefallen, liebe an die familie. Mit »Konzert« ist das gestrige Auftreten Griffins gemeint, die »Familie« ist unser Mann, die Liebe tut ihm wohl.

Aus dem blau und rot angelaufenen, geschwollenen Bein dringt der Schmerz in den ganzen Körper, aber nicht weiter, nicht ins Bewußtsein; ein Paradox: der Schmerz ist vorhanden, aber er wird nicht gespürt.

Am nächsten Morgen erscheint der Obersteward und eröffnet unserem Mann, er müsse ihn einschließen. »Was?« ruft unser Mann, »sind Sie wahnsinnig geworden? Ich bin doch nicht verhaftet.« – »Befehl vom Capt'n.« – »Bestellen Sie dem Capt'n, daß ihm das teuer zu stehen kommen wird und die Schiffahrtskompanie auch. Auf Freiheitsberaubung steht Zuchthaus. Ich habe mein Billett bezahlt wie jeder andere Passagier und habe das Recht auf die gleiche Behandlung, solange ich kein Verbrechen begehe. Bestellen Sie das dem Capt'n.« – Der Obersteward geht, hinter ihm dreht sich der Schlüssel in der Tür.

Schiffshaft ist eine scheußliche Art von Haft; selbst wenn du aufstehen und an die Tür trommeln könntest, niemand würde dich in dem Geknatter nahe dem Maschinenraum hören, niemand hält sich tagsüber hier unten auf. Warum diese Maßregel? Zur Vereitelung eines Fluchtversuchs würde eine Wache vor der Kabine genügen. Jedenfalls befürchtet man, daß die Arbeiter unseren Mann gewaltsam vom Schiff holen könnten. Jedenfalls hat die Rückkehr Gerald Griffins solches Aufsehen hervorgerufen, daß die Regierung eine zweite Schlappe vermeiden will. Jedenfalls soll verhindert werden, daß sich in Sydney der 74 Besucheransturm von Melbourne wiederholt, abermals eine Versammlung auf Deck organisiert wird.

Plötzlich heult die Alarmsirene auf. Unser Mann hört, wie sich die Schotten schließen. Höchstwahrscheinlich ist es nur ein Probealarm; unterwegs wurden mindestens sechsmal Feuerproben abgehalten, das ist jetzt strenge Vorschrift, Mannschaft und Passagiere werden für künftige Torpedo-Angriffe geschult. Aber kann es nicht diesmal ein wirklicher Schiffbruch oder eine wirkliche Feuersbrunst sein? Unser Mann denkt an Albert Londres auf der »Georges Philippar«.

Im Fall einer Katastrophe hat ein Schiffshäftling nur die Wahl, zu verbrennen oder in verschlossener Zelle langsam zum Meeresgrund zu sinken, hu. Schiffshaft ist eine scheußliche Art von Haft, sagt unser Mann zu sich, einem anderen kann er es ja nicht sagen. Gwendolyn wird nun auch nicht mehr kommen, denn sie ist keine Fieberphantasie.

Die Maschinen der »Strathaird« stoppen. Ob sie schon am Sydneyer Ufer vertäut wird oder ob ein Tender an sie anlegt, weiß unser Mann nicht, eines von beiden muß der Fall sein. Eine Ärztin aus Sydney, von der Roten Hilfe gesandt, wird in die Kabine gelassen, der Schiffsarzt begleitet sie. Der Konsul erscheint, – nein, nur ein Beamter des Konsulats, nicht der Herr Generalkonsul persönlich, den wird unser Mann auch in Zukunft nicht zu Gesicht bekommen, der Herr Generalkonsul kompromittiert sich keineswegs; er wird selbst auf die ihm von der Öffentlichkeit gestellte Frage keine Antwort geben, ob unser Mann wirklich ein Schriftsteller ist oder das nur behauptet.

Die Ärztin stellt Knöchelbruch und Schienbeinbruch fest, und sagt kopfschüttelnd zum Schiffsarzt: »Wie 75 konnten Sie es unterlassen, den Mann in Melbourne sofort ins Hospital zu schaffen?!« Kleinlaut stammelt der Schiffsarzt, er habe den Patienten erst untersuchen können, als das Schiff schon fuhr. Der Herr vom tschechischen Konsulat fragt, was er für unseren Mann tun könne, und der erwidert: danke schön, es ist schon gut.

An der Kabinentür warten der Obersteward und zwei Unterstewards auf das Ende der Ordination, um durch eine Schlüsseldrehung die Kabine in ein Gefängnis zurückzuverwandeln. Aber die ärztliche Untersuchung hat sich zu lange ausgedehnt, die »Strathaird« ist schon in Sydney, sie liegt am Pyrmont Quay, Leute sind an Bord gekommen. Bevor die Ärztin und der Konsulatsbeamte das Krankenbett verlassen haben, drängen in stürmischem Wellengang Freunde vor und Neugierige, überrennen den Dreierposten der Stewards, Woge auf Woge strandet in dem Kabinchen. Nicht mehr als zehn, zwölf finden gleichzeitig Platz, obwohl sie hoch oben auf der leeren Bettstatt, auf dem Koffer, auf dem Waschtisch sitzen. Ungeduldig murren die Draußenstehenden, die einen müssen hinaus, die anderen dürfen herein.

Unser Mann erfährt: Gerald Griffin hat bereits in drei Massenversammlungen gesprochen, nach seiner Rede verdunkelte sich der Saal, und Griffin verschwand spurlos, von Freunden geschützt; das Land lacht, die Regierung wütet, die Polizei sucht. Die antifaschistische Bewegung gewinnt immer mehr und mehr Anhänger in allen Schichten. Reverend Rivett, ein achtzigjähriger Priester und Menschenfreund, verehrt auf dem ganzen Kontinent, predigt in der Kirche und spricht in Versammlungen zu dem Thema »Kisch muß landen«, als wäre das eine Bibelstelle. 76

Heute beginnt vor dem Obergericht von Neusüdwales unseres Mannes neuer Prozeß. Im Einvernehmen mit der Regierung hatte die Schiffskompanie beabsichtigt, unseren Mann auf die »Narkunda« zu transportieren, die heute aus Sydney nach Europa segeln sollte. Weil aber inzwischen der Prozeß angängig gemacht wurde, kann das nicht durchgeführt werden. Bevor die Verhandlung abgeschlossen ist, dürfen weder der Kapitän der »Strathaird«, der der Beklagte ist, noch die »Narkunda«, die eventuell den Kläger abschleppen wird, den Gerichtsbereich verlassen.

Eine Anwältin und ein Anwalt treten ans Krankenbett. Frau Jollie-Smith ist Sollicitor, vorbereitender Anwalt, juristische Beraterin der Gewerkschaften, sie hat schon manchen Sozialistenprozeß geführt und weiß, um was es geht. Unser Mann verständigt sich rasch mit ihr. Etwas schwieriger ist das mit dem Barrister, dem plädierenden Anwalt. Mister Piddington, K. C., d. h. Königlicher Rat, könnte von Dickens entworfen sein, ein greiser, spindeldürrer Gentleman, in seinem Innern aber brodelt ein Vulkan, bald wird er losbrechen und vier Monate lang Feuer speien. Er wird den Richtern zu schaffen machen, obwohl er vor nicht allzulanger Zeit selbst einer war. Er hat sein Amt als Rat des Obersten Gerichts, das hohe Gehalt und die hohen Ehren zum Protest gegen eine antidemokratische Maßnahme des Gouverneurs niedergelegt, er ist geachtet wegen seiner Überzeugungstreue und als Soziologe, als Kunsthistoriker, als Shakespeare-Forscher und als Linguist, der viele Sprachen spricht; im Laufe des Prozesses für unseren Mann wird er noch eine neue Sprache, das heißt eine sehr alte, dazulernen, seinen dreiundsiebzig Jahren zum Trotz.

Freilich faßt er den Fall unseres Mannes nicht so auf, 77 wie ihn unser Mann aufgefaßt wissen will; Old Piddington möchte eine scharfe Abgrenzung unseres Mannes von Griffin herbeiführen, der sich durch seine illegale Rückkehr nach Australien nicht gentlemanlike benommen habe; Old Piddington möchte, daß unser Mann den unpolitischen Charakter seiner Reise betone; Old Piddington schaudert's bei dem Gedanken, das lilienweiße Schild unseres Mannes könnte durch ein australisches Gerichtsurteil auf ewig befleckt werden; Old Piddington ist bereit, bis zum Letzten dafür zu kämpfen, daß solche Schmach vermieden werde.

*

Uff, nun müssen doch endlich alle für Foto-Aufnahmen erdenklichen Einstellungen beendet sein, unmöglich kann von dem Bewegungslosen noch eine neue Ansicht gemacht werden. Kaum aber hat unser Mann diese Überzeugung gewonnen, als er erfährt, nunmehr werde er von innen fotografiert. Ein ganzes Röntgenatelier mitsamt elektrischen Batterien ist an Bord geschafft worden, Kostenaufwand 100 Pfund Sterling, – in Sydney würde eine Aufnahme höchstens ein halbes Pfund kosten. Aber die Kronjuristen haben das weise Gutachten abgegeben, wenn man den Passagierpatienten zum Röntgen an Land ließe, wäre damit das Landungsverbot durchbrochen . . .

Man trägt den schweren Patienten in das neu installierte Röntgenlaboratorium, um sein Bein en face und en profil zu durchleuchten. Was sich weiß auf schwarz ergibt, ist ein Beinbruch, schwarz auf weiß dagegen ein schriftlicher Befund, »supramalleolare Schrägfraktur der rechten Tibia in der Länge von 6 Zoll (15 Zentimeter) vom Malleolus in der Diaphyse der Tibia aufwärts verlaufend. Querlaufende 78 Fraktur des Malleolus externus, Abrißfraktur des Prozessus posterior tali.« (Autorisierte Übersetzung von uns.)

Die Frage, ob auch das Recht gebrochen ist, läßt sich nicht so exakt feststellen. Drüben im Obergerichtsgebäude bejaht Mister Piddington mit Entschiedenheit diese Frage. Es gäbe kein Landungsverbot gegen einen Mann, der bereits gelandet sei; sein Klient sei in Melbourne, also auf australischem Boden, gepackt und gegen seinen Willen mit Gewalt auf die »Strathaird« gebracht worden. Was nennen Sie Menschenraub, wenn nicht dieses? Darf man in Australien jedermann überfallen und einfach auf ein Schiff verschleppen? Ich frage, Euer Ehren, darf man das?

Die Gegenseite ist nicht verlegen, sie produziert (oh, doppeldeutiges Wort!) die aus England erhaltene Information über die aufrührerische Tätigkeit unseres Mannes. Mit dem Wortlaut dieser vom Innenminister vorgelegten, angeblich überseeischen Beschuldigung, rast der alte Piddington in der Mittagspause auf die »Strathaird« zu unserem Mann: »Was haben Sie dazu zu bemerken?« – »Ich habe dazu zu bemerken, daß diese Information nicht der Intelligence Service, sondern ein Unintelligence Service verfaßt hat.« – »Bravo, bravo, das sollen die Herren zu hören kriegen. Was ist falsch an der Beschuldigung?« – »Alles. Am Charkower Schriftstellerkongreß haben nicht nur Kommunisten, sondern Schriftsteller der verschiedensten Parteien und Parteilose aus allen Ländern teilgenommen. Ich bin kein Spezialist für ostasiatische Wirtschaftsfragen, – der Spitzel, der den Bericht schrieb, hat das daraus geschlossen, weil eines meiner Bücher China behandelt. Ich habe niemals zur Bande des Räuberhauptmanns Max Hoelz gehört, denn Max Hoelz war kein 79 Räuberhauptmann und hatte keine Bande, er war ein Führer der mitteldeutschen Arbeiter, und ich habe ihn erst nach dem mitteldeutschen Aufstand kennengelernt, – und so weiter, und so weiter; es lohnt nicht, auf dieses Geschwätz einzugehen.«

Chor der Ärzte: »Sind Sie bald fertig, Mister Piddington? Wir wollen dem Patienten ein Pariser Pflaster geben.« – »Ja, ich bin fertig. Auf Wiedersehen.«

Ein Pariser Pflaster? Das sei ein Englischpflaster auf englisch, denkt unser Mann, erfährt aber bald am eigenen Leib, daß es ein Gipsverband (plaster) ist. Solche Mißverständnisse können vorkommen; so hat unser Mann durch wiederholte falsche Anwendung des Wortes »cry« eine sentimentale Note in die Berichte hineingetragen. »Cry« heißt nicht »schreien«, obwohl er es in der Schule so gelernt hat, sondern »weinen«; »schreien« übersetzt man mit »shout«. Wie viele Australierinnen mögen Tränen des Mitleids vergossen haben, als sie lasen, wie unser Mann die Polizei anweinte, ihn nicht aufs Schiff zurückzubringen, und wie er den Steward anweinte, der ihn an Bord einsperrte. Richtigstellung: es war kein Weinen, es war ein Übersetzungsfehler.

Der Gips ist angemacht, unseres Mannes Bein wird mit der ersten Portion des Breis beklatscht, da hört man schwere Tritte.

Auf einer Bahre wird ein indischer Schiffsarbeiter hereingebracht, bewußtlos, aus seiner linken Schläfe sickert Blut. »In die Ladeluke gestürzt, 20 Fuß tief,« sagen die Männer, die ihn tragen, und legen ihn auf den anderen Operationstisch. Am Kopfende steht ein alter Inder, mit dem Transport eingetreten, seine Augen haften an dem Leblosen, seinem Sohn. 80 Die Ärzte blicken einander fragend an, antworten einander durch Blicke: gut, beenden wir zuerst die Vergipsung. Dieser Ausgang des stummen Gesprächs ist unserem Mann nicht recht und er sagt: »Bitte, nehmen Sie ihn zuerst vor.«

»Sie haben hier gar nichts zu bestimmen,« zischt ihn einer der Doktoren an, dessen mädchenhaftes Gesicht nicht so viel Energie vermuten ließ. Statt einer Antwort richtet unser Mann sich auf, zieht das angegipste Bein vom Tisch weg und läßt es seitwärts baumeln, der Gipsbrei tropft aufs Linoleum, die Doktoren wenden sich dem andern Operationstisch zu. Sie betasten den Kopf des Verletzten. Der stöhnt aus der Tiefe der Bewußtlosigkeit ein gräßliches Stöhnen. Sein Vater macht einen Schritt auf ihn zu.

Unser Mann liegt da in tiefer Scham, er möchte vom Operationstisch springen. Wozu bin ich hier? Wozu all der Rummel? Damit ich an Land komme und ein paar Reden halte? Neben mir stirbt ein Mensch, einem Vater stirbt vor seinen Augen der Sohn, dem Alten wird der Rest der Heuer ausgezahlt werden, und dann kräht kein Hahn mehr nach dem Toten.

Wann habe ich doch das letzte Mal, denkt unser Mann, ein solches Gefühl verzweifelter Ohnmacht gefühlt? Er erinnert sich. Es war 1933 in der Massenzelle am Alexanderplatz, unter 40 zerschlagenen, verstümmelten Arbeitern. Zerbrochene Kinnladen, zerbrochene Finger, zerbrochene Nasenbeine, zertretene Nieren, Rippen und Geschlechtsteile, die Rümpfe blutig und geschwollen. So waren Menschen in der Nazikaserne Papestraße zuschanden geprügelt worden, weil sie sich zum Sozialismus bekannten.

Davon will ich sprechen, nimmt sich unser Mann vor, wenn ich an Land kommen sollte, davor will ich warnen. 81 Warnen vor den Herrenmenschen, die nicht genug daran haben, daß der »Untermensch« für ihren Profit in die Ladeluke fällt und in die Grube fährt, sondern ihn noch mit Reitpeitschen und Stahlruten zum Krüppel schlagen, wenn er über seine Lage zu denken beginnt.

Ein Verband um den Schädel scheint alles zu sein, was man für den armen Inder tun kann, hernach hebt man ihn wieder auf die Bahre und trägt ihn in das angrenzende Krankenzimmer. Starr geht der Vater hinterdrein, sein Blick klebt noch immer an dem gebrochenen Auge seines Sohnes.

Hinter der Eskorte schließt sich die Tür. Dort im Krankenzimmer werde auch ich liegen, denkt unser Mann, an der Seite eines Sterbenden, eines gegen seinen Willen Geopferten, um den sich niemand bekümmert. Und um mich dreht sich eine Aktion, es ist schrecklich.

Nun ist unser Mann wieder an der Reihe. Nie ist wohl eine Gipsmasse feindseliger auf ein Bein geklatscht worden. Als er ins Krankenzimmer nebenan getragen wird, ergibt sich, daß der Inder nicht darin ist, er wurde in ein Sydneyer Hospital geschafft, nur der Weg führte durch das Zimmer.

*

Bis zum Abend ist der Prozeß nicht abgeschlossen. Sollte das Gericht auch morgen nicht zum Urteilsspruch kommen, so darf die »Strathaird« dennoch absegeln, und unser Mann muß an Bord bleiben und wird in Brisbane das Urteil erfahren. Spricht aber das Gericht schon morgen aus, daß Landungsverbot und Schiffshaft zu Recht bestehen, dann ist er auf der »Narkunda« nach Europa zu deportieren. Die dritte Möglichkeit lautet: an Land gelassen zu werden. 82

»Kopf hoch, alles geht gut bei Gericht,« berichten die Besucher, »Piddington hat die Staatsanwälte in eine Sackgasse gejagt, und Richter Evatt selbst bezeichnet die Angaben der sogenannten Information durch England als lächerlich. Aus London ist ein Telegramm da, daß England die Ausweisung nicht verlangt hat, wie behauptet wurde. Im englischen Unterhaus hat nämlich Mister Wilmot im Namen der Labour Party eine Interpellation eingebracht, ob die britische Regierung bei der australischen das Landungsverbot veranlaßt habe. Der englische Innenminister hat geantwortet: ›Über die Zulassung von Personen nach Australien haben allein die australischen Behörden zu bestimmen, weshalb die Frage eines Ratschlags oder eines Verlangens nicht auftauchen kann.‹ Es geht gut, Kopf hoch!«

Aber unser Mann hebt den Kopf nicht hoch, er erweist sich im Gegensatz zu seinem Ruf als einsilbig und mißgestimmt. Die Nacht über bleibt er im Schiffshospital, während unten in seiner Kabine dem Steward O'Hara die Arbeit blüht, die mitgebrachten Habseligkeiten unseres Mannes plus einer beträchtlichen Warenmenge von Liebesgaben im Koffer zu verstauen.

Freitag, der 16. November, ist der nächste Tag; es überstürzen sich die Boten vom Gerichtsschauplatz, Frau Jollie-Smith kommt dreimal an Bord, um Auskunft über dunkle Punkte zu heischen, die die Anwälte der Regierung im Vorleben unseres Mannes gefunden haben wollen. Die aufs Deck führende Tür des Krankenzimmers öffnet sich, und unser Mann sieht einen Tonfilmapparat auf sich gerichtet, umstanden von Neugierigen. »Würden Sie ein paar Sätze sprechen?« Unser Mann spricht einen Protest gegen seine 83 Fernhaltung von Australien und sagt ein paar Worte über die Tätigkeit des Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus und über den Naziterror. (Von morgen Abend an wird der Film in den Melbourner Kinos laufen, in Sydney aber verboten sein, so ist das in Australien.)

Die Tonfilmaufnahme ist beendet, der dicke Obersteward sperrt die Tür von außen wieder ab, das empört die auf dem Verdeck Versammelten, eine Frau springt auf den Steward zu und schlägt ihn ins Gesicht: »Wie können Sie es wagen, diesen Mann einzuschließen?« – »Aber, Madam,« stößt der Obersteward hervor, während die eine Seite seines Gesichts noch dicker wird, »das Zimmer ist doch auf der anderen Seite offen.« – »Sorry,« sagt die Frau, »das wußte ich nicht,« und verschwindet in der Menge.

Jenseits dieser Szene liegt unser Mann, ein Brief von Reverend Rivett wird ihm gebracht: »Mein lieber Freund. Ich kann Sie nicht anders nennen, als meinen lieben Freund, wenn Sie auch meinen Namen wohl nie gehört haben. Ich bin ein sehr alter Diener Gottes, und glaube fest, im Sinne Gottes zu handeln, wenn ich dagegen auftrete, daß man Sie von meinem Vaterland fernhalten will. Sie kämpfen für den Frieden, und ich weiß auch, wie Sie das verstehen: Sie wollen die Ursachen aller Kriege ausrotten mit Feuer und Schwert. So weit wage ich nicht zu gehen, aber ich weiß, daß die Mächtigen dieser Erde mit salbungsvollen Phrasen Kriege vorbereiten. Ich hatte bestimmt gehofft, heute zu Ihnen kommen zu können, obwohl ich krank bin, – meine Krankheit und mein Alter (fast 80 Jahre) haben mich auch nicht verhindert, täglich für Ihre Freilassung zu sprechen. Eine unaufschiebbare Pflicht aber hält mich ab, Sie heute zu besuchen. Ich bete zu Gott, daß wir 84 einander dennoch sehen können. Mit besten Wünschen Ihr aufrichtiger Arthur Rivett.«

Schade, daß er verhindert ist. Ein anderer Besucher aber wird leise von Freunden angekündigt. Unser Mann verabschiedet seine Gäste, um diesen Besucher zu empfangen. Es ist Der, dessen Personalbeschreibung die Behörden in allen Blättern veröffentlicht haben, dessen Auftauchen überall Aufsehen hervorruft, den die Karikaturisten mit Tarnkappe und Siebenmeilenstiefeln konterfeien: Gerald Griffin.

Aus entgegengesetzten Richtungen waren Gerald Griffin und unser Mann auf dem Weltmeer gen Australien gefahren, zu gleichem Zweck; jeder hatte von den widrigen Wettern gehört, die den Anderen bedrängten, sie hatten nicht mehr gehofft, einander kennenzulernen, und glauben nun, diese erste Begegnung werde auch die letzte bleiben, bald werde der Eine ostwärts und der Andere westwärts davonsegeln müssen, auf Nimmerwiedersehen. Gerald Griffin nimmt ein Briefpapier der »Strathaird« vom Tisch und schreibt einen Brief an die europäischen Antifaschisten, den unser Mann mitnehmen und vervielfältigt in Deutschland verbreiten lassen wird, als Botschaft, seltsam und weltenfern von Deutschland zustandegekommen.

Inzwischen ist es zwei Uhr geworden, milde wird unseres Mannes letzter Besucher hinausgedrängt, weil die Räumung des Krankenzimmers angeordnet ist; oh, ahnten die Beamten, auf wessen Schulter sie ihre Hand legen! Gerald Griffin geht über das spitzelbesäte Deck, über die polizeibedeckte Landungsbrücke, geht in das Land, in dem überall Häscher nach ihm fahnden.

An die auf das Deck führende Tür des Krankenzimmers, an die versperrte, wird plötzlich vehement getrommelt: 85 »Mister Kisch, Kamerad Kisch! Sie dürfen ans Ufer. Hören Sie uns?« – »Ja.« – »Das Gericht hat Ihre Freilassung verfügt.« – »Hurra!«

Hurra! Das Urteil stellt fest, die Haft unseres Mannes an Bord der »Strathaird« sei ungesetzlich, da nicht bewiesen wurde, daß die »für ein Landungsverbot erforderliche Information vonseiten der Regierung einer befreundeten Macht durch offizielle Kanäle« wirklich erfolgte. Durch seinen Sprung vom Deck des Schiffes habe der Kläger nicht bloß kein Gesetz verletzt, sondern fair gehandelt; jeder Ehrenmann darf mit allen Mitteln versuchen, sich aus unrechtmäßiger Haft zu befreien, und wäre selbst dann nicht strafbar, wenn er dabei fünfzehn Menschen getötet hätte. (Warum fünfzehn, warum nur fünfzehn?) Dem beklagten Master der »Strathaird«, A. E. Carter, wird auferlegt, den Kläger unverzüglich freizugeben. Die Kosten des Verfahrens fallen ihm, dem Kapitän, zur Last.

Hurra! Unser Mann hat als Ehrenmann gehandelt, indem er wie ein Lausbub vom Schiff sprang; als Ehrenmann, das erhöht das Ansehen der Bewegung; als Ehrenmann, wahrscheinlich glaubt er nun selbst, einer zu sein. Nur nicht übermütig werden, Bürschchen, der heutige Tag ist noch nicht zu Ende, und man soll sich nicht vor dem Abend loben.

Vier Stewards heben unseren Ehrenmann auf eine Bahre, O'Hara nimmt den Koffer, und dieweil vom Ufer her Zurufe brausen und die Operateure kurbeln, daß es eine Art hat, bewegt sich der Zug langsam abgemess'nen Schrittes die Gangway hinab zum fünften Kontinent, zum heißersehnten Gestade, auf den australischen Boden.

Unser Mann sieht um sich. Trinke, Auge, was die Wimper 86 hält, von Australien, aber ach, so viele Polizisten kann die Wimper nicht halten. Aus ihrer Masse löst sich ein Zivilist und sagt zu unserem Mann: »Sie haben sich mit mir ins Polizeihauptquartier zu begeben.« – »Und mein Koffer?« – »Das braucht Sie nicht zu bekümmern.«

Während unser Mann von der Bahre in ein Polizeiauto umgeschlagen wird, umdrängt ihn die Sydneyer Journalistik: »Geben Sie uns ein paar Worte.« – »Ja, eine gute Nachricht. Eben hat mich Griffin besucht. Er hat bei mir eine Botschaft an die europäischen Antifaschisten geschrieben.« – »Gerald Griffin?« – »Ganz recht, Gerald Gri . . .,« die Autotür wird zugeschlagen. Die Hupe heult, die Fahrt auf australischem Festland beginnt.

»Könnten wir nicht über die Hafenbrücke fahren?« fragt unser Mann seinen Begleiter, »ich hab' so viel von ihr gehört.« – »Nein.«

Das Auto durchsaust eine Geschäftsstraße, die Aufschriften auf den Firmenschildern sind vertikal, schreibt sich unser Mann ins Gedächtnis, die Neon-Lichter brennen auch tagsüber, die Häuser erinnern an die von Los Angeles. »Pitt Street« ist an der Straßenecke zu lesen, dann »Liverpool Street«; der Wagen biegt in eine schmale Querstraße ein, hält dort, unser Mann sieht eine Autokolonne nachfolgen und gleichfalls hier halten. Polizisten tragen ihn in die Aufnahmehalle des Polizeipräsidiums. Was nachströmt, wird, soweit es nicht beamtet ist, aus dem Raum bugsiert, Mitglieder des antifaschistischen Komitees, der Leiter des Anwaltsbüros von Jollie-Smith, Reporter.

Umgeben von rechteckigen und dreieckigen Figuren, Detektiven amerikanischen Typs, liegt unser Mann auf dem Boden. Zwei von ihnen hatten sich an Bord als mit ihm 87 Sympathisierende vorgestellt, jetzt grinsen sie hämisch, sie haben es nicht mehr nötig zu verschleiern, wer sie sind.

Aus der Halle führt ein Fenster in die Toreinfahrt, von dort lugen die Ausgesperrten herein. Unser Mann wird hochgehoben, auf eine Bank gesetzt und sieht, wie sein Koffer durchsucht, der Inhalt teils rechts, teils links gelegt wird.

»Was ist los?« protestiert er mit der Kühnheit eines gerichtlich approbierten Ehrenmannes, »ist es in Australien üblich, jedermanns Gepäck zu durchschnüffeln? Ich bin doch kein Häftling.«

»Wird sich gleich herausstellen, was Sie sind,« erwidert der Zivilist, der unseren Mann an der Landungsbrücke zur Polizei eingeladen hat, ein Mister Wilson, Inspektor der Zollbehörde. »Was haben Sie in den Taschen?«

»Diesen Brief zum Beispiel,« kann unser Mann zu äußern sich nicht enthalten, »diesen Brief da. Den hat Gerald Griffin heute bei mir geschrieben.«

Die Gesichter ringsumher verzerren sich. Einer der Polizeiagenten will höhnisch sein und sagt: »Griffin ist nicht in Australien.«

»Ich auch nicht,« antwortet unser Mann.

Für die Aufnahme ins Detektivkorps von Sydney scheinen vor allem äußere Gesichtspunkte maßgebend zu sein. Eunuchoider Hochwuchs, abstehende Ohren, Blatternarben und Boxernasen. Alle sehen einander ähnlich, insbesondere jetzt, da sie sich mit dem Namen »Griffin« verspottet fühlen. Die uniformierten Polizisten dagegen zeigen keine Feindseligkeit gegen unseren Mann; als sie ihn trugen, fühlte er sich beinahe in Freundesarmen. 88

»Sie werden jetzt einer Diktatprüfung unterzogen,« eröffnet Inspektor Wilson unserem Mann. »Schreiben Sie mit, was Konstabler Mac Kay Ihnen in gälischer Sprache vorlesen wird.«

»In gälischer Sprache?« ruft unser Mann laut, damit das Publikum hinter dem Fenster erfahre, was sich hier begibt, – ein szenisches Hilfsmittel, in der Dramaturgie als Mauermalerei oder Teichoskopie bekannt. »In gälischer Sprache? Ich spreche zwar ein wenig keltisch, ich war einmal in Strathnaver,« (Reminiszenz an das langweilige Gespräch mit dem schottischen Kabinengenossen) »aber es ist sinnlos und unfair, mich daraus zu prüfen. Sie machen ganz Australien damit lächerlich.«

Ob das dem Inspektor Wilson unglaubhaft vorkommt oder ob es ihm gleichgültig ist, wenn er ganz Australien lächerlich macht, wie dem auch sei, er gibt dem Konstabler Mac Kay ein Zeichen. Konstabler Mac Kay schickt sich an, aus einem dicken Buch vorzulesen, und unser Mann, dem man eine Füllfeder, einen Bogen Papier und eine Schreibunterlage gereicht hat, schickt sich an, zu schreiben. Freilich, nicht mitzuschreiben. Er will seinen obigen Protest schriftlich niederlegen. Leider hat die Füllfeder die Eigenschaft der meisten Füllfedern, sie enthält keine Tinte.

»Da ist doch keine Tinte darin! Was ist das für ein Trick?« Wütend zerknüllt unser Mann das Papier, und da ein Detektiv bedrohlich auf ihn zuspringt, wirft er es diesem ins Gesicht; eine Frechheit, die hoffentlich dem Berliner »Angriff« nicht zur Kenntnis kommen wird. Eine andere Füllfeder wird unserem Mann gereicht, er nimmt sie nicht. Konstabler Mac Kay liest vor, unser Mann wendet sich ab, was ihn nicht hindert zu bemerken, daß die 89 gälischen Worte jetzt ganz anders klingen als das erstemal. Aha, aha, der Kerl kann selbst nicht gälisch!

Ein Protokoll wird aufgenommen, des Inhalts, unser Mann habe die Diktatprüfung nicht bestanden. »Sie sind verhaftet,« proklamiert Mister Wilson, und schon packen drei Polizisten unseren Mann, um ihn davonzutragen. In diesem Augenblick dringt Mister Thorne in den Raum, Büroleiter der Anwältin Jollie-Smith, und bietet Sicherstellung an.

»Die Freilassung gegen Kaution wird abgelehnt,« ist das letzte, das unser Mann noch hört, während er wie auf Engelsflügeln von dannen schwebt.

Vor einem Stehpult im Gefängniskorridor wird er gelandet, auf daß ihm die Fingerabdrücke abgenommen werden können, und nach dieser schmutzigen Prozedur hebt man ihn wieder in höhere Sphären. Aus den Gucklöchern der Zellen starren große, unheimliche Augen; Augen ohne Gesichter, Augen an sich sind immer groß und unheimlich.

In einer Einzelzelle läßt man unseren Mann zu Boden gleiten, beziehungsweise auf ein Brett, das auf dem Boden liegt. »Das sieht ja scheußlich aus,« ruft er, und so ist es auch. Die Pritsche und eine schwarze, durchlöcherte Wolldecke und eine Klosettschüssel und ein unbeschreiblicher Gestank, das ist das Inventar. »Nicht einmal ein Stuhl ist hier. Wie soll ich denn das Klosett benutzen? Ich kann doch gar nicht aufstehen von diesem Brett.«

Die Polizisten schauen einander an, sie scheinen einzusehen, daß das kein geeigneter Aufenthalt für einen Verletzten ist. »Wir werden dem Inspektor sagen, daß Sie sich beschweren.« Damit gehen sie, hinter ihnen ertönt der nachhaltige Akkord, den jeder Häftling kennt, der Dreiklang 90 aus dem Trommelschlag der zufallenden Eisentür, dem Baß des Schlüssels, der sich im Schloß dreht, und dem Zimbal des Schlüsselbunds.

Einzelhaft hat immerhin einen Vorteil: man ist allein. So hart sichs auch hier liegt und so stark es auch stinkt, nach all dem Wirbel täte es gut, ein wenig schweigen und die Augen schließen zu dürfen.

Noch sind die Augen nicht ganz geschlossen . . . ein Beamter tritt ein, geschniegelt und gestriegelt, in der Hand eine Reitpeitsche mit Silbergriff, das Abzeichen der Polizei-Inspektorswürde. Er näselt: »Wenn Sie es hier schmutzig finden, müssen Sie ein sehr reinlicher Mann sein.«

»Ich zweifle nicht daran, daß es hier ebenso rein ist, wie bei Ihnen zu Hause.«

Diese Antwort ruft bordeauxrote Flecken der Wut auf den Inspektorswangen hervor, sein Kinn schiebt sich nach vorn, sein Peitschenarm hebt sich und . . . senkt sich nach einer Sekunde wieder. Mit einem gezischten: »Ihre Frechheit wird Ihnen bald vergehen,« verläßt er die Zelle. Eisentür, Schloß und Schlüsselbund vereinigen sich zum Abgesang.

So? ». . . wird Ihnen bald vergehen.« Die wollen ihn wohl insgeheim beiseiteschaffen, wohin die Öffentlichkeit nicht dringt, wo ihm die Frechheit vergehen soll, bald, irgendwohin und lautlos.

Nein, die Gelegenheit, die Augen zu schließen und zu schweigen, scheint unserem Mann noch nicht gekommen, jetzt ist es Zeit, zu lärmen. Er kriecht über die Steinfliesen zur Tür, richtet sich mühselig auf und beginnt eine Demonstration. Er brüllt durchs Guckloch. Er brüllt, was ihm durch den Kopf geht. Er brüllt nach einem Arzt. Er 91 brüllt nach einem Rechtsanwalt, Er brüllt nach dem Konsul. Er brüllt nach einem Stuhl. Er brüllt, man möge ihn zum Klosett tragen, allein könne er sich nicht hinbegeben. Er brüllt, er werde die Zelle vollmachen. Er brüllt, er werde seinen Gipsverband zerschlagen, wenn man ihn nicht von hier wegbringe. Er brüllt, ein solches Pack von Polizeiverwaltung gäbe es in der ganzen Welt nicht.

»Bravo, bravo,« tönt es aus den Nachbarzellen, »so ist's richtig! Sag' ihnen noch mehr!«

Er brüllt, es sei eine Schande für Australien, den Gast einer großen Organisation so zu behandeln. Er brüllt, es sei ein schmutziger Trick, ihn aus keltischer Sprache zu prüfen. (Heiterkeit in den Nachbarzellen. Zurufe: »Ist das wahr?«) Er brüllt, ja, das sei wahr, man habe ihn einer Prüfung aus gälischem Keltisch unterzogen, um ihn in diese Dreckzelle werfen zu können. Er brüllt, die australischen Merinos wollen sich auf diese Weise bei den Nazi-Leithammeln beliebt machen. Er brüllt – eben gehen Polizisten vorbei – warum laßt Ihr Euch, Polizisten, gefallen, daß man so mit einem Friedensdelegierten umgeht. Er brüllt, er werde dem Inspektor die Reitpeitsche in sein Affengesicht schlagen. Er brüllt, brüllt stundenlang, von Beifallsrufen und Händeklatschen aus den Nachbarzellen begleitet.

Zwei Wächter bringen Kaffee und Brot, er versetzt der Tasse einen Fußtritt, und sagt zu ihnen: »Ihr wart doch im Krieg, warum duldet Ihr, daß man hier mit einem Kriegsgegner so umspringt?«

Dann brüllt er wieder aus dem Guckloch, bis es Abend wird und darüber hinaus. Nun aber fallen die Zellennachbarn von ihm ab, sie wollen schlafen. »Ruhe!« schreien 92 sie, »seien Sie ruhig oder wir verprügeln Sie morgen.« Unser Mann brüllt weiter.

Während er brüllt und brüllt, ist Canberra, der Sitz der Bundesregierung, auch nicht untätig geblieben. Ein Communiqué wurde ausgegeben: »Trotz der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs ist die Bundesregierung entschlossen, daß Herr Kisch entweder der Passagier eines Schiffes oder der Insasse eines von Seiner Majestät Gefängnissen sein wird . . . Das neue, nach Kisch's Landung eingeleitete Verfahren, sichert seine Deportation in wasserdichter Gesetzlichkeit.Für den englischen Übersetzer:
In spite of the decision of the High Court, the Commonwealth is determined that Herr Kisch will be either a passenger on a ship or an internee of one of His Majesty's jails . . . The fresh action taken after Kisch Ianded from the vessel ensures his deportation in watertight legality.
«

Ebensowenig wie von dieser Entschlossenheit der Regierung und von der Wasserdichtheit seiner Deportation, weiß unser Mann von einem blutigen Vorfall, der sich in Sydney abspielte.

Ernest Gustave Lamb, wohlhabender Bürger von Sydney, 51 Jahre alt, geschieden, dem Faschismus und dem Alkohol verfallen, hatte heute tief ins Glas und in die Zeitung geguckt. Das war das gleiche, was er auch sonst tat, und im Glas war gleichfalls dasselbe, was sonst darin war: Whisky. In der Zeitung aber stand, der europäische Delegierte zum Kongreß gegen Krieg und Faschismus werde in seinem Prozeß von Christina Jollie-Smith, der bekannten Anwältin aus dem Manchester Unity Building vertreten.

Christina Jollie-Smith? War das nicht die, die seine Frau beim Scheidungsprozeß beraten, alle Schuld ihm 93 zugeschoben hatte?! Und jetzt vertritt sie den Ausländer, diesen Hetzer! Von Wut gepackt, sprang er auf, rannte ins Manchester Unity Building, nicht ohne vorher von einem Bauplatz einen eisernen Haken losgerissen zu haben.

Frau Jollie-Smith war allein in ihrem Büro, als Lamb hereinstürzte. »Du wirst keine roten Ratten mehr verteidigen,« schrie er, »jetzt mußt du krepieren!« und ließ den Eisenhaken auf ihren Schädel niedersausen. Um Hilfe schreiend, vermochte Frau Jollie-Smith sich auf den Korridor zu schleppen, dort brach sie blutüberströmt zusammen.

Manchester Unity Building ist ein Bürohaus. Aus allen Türen liefen Leute herbei, sie hielten den Täter fest und übergaben ihn der Polizei. »Ich bin eigens hergekommen, um sie hinzumachen (doing her in),« wiederholte Lamb immer wieder, »damit sie keine Roten mehr verteidigen kann. Ich will wegen vorbedachtem Mord angeklagt werden.«

Vielleicht ist er einer von denen, die aus den Zellen durch Ruhe-Rufe den Wunsch äußern, nicht um den Schlaf gebracht zu werden. Denn der Klient der ins Krankenhaus geschafften Frau Jollie-Smith, unser Mann nämlich, brüllt noch immer. Er will aus der Nachbarschaft des Mörders in die der fast Ermordeten, ohne daß er von dem Mordanschlag weiß. (Der Täter ist übrigens einige Wochen später den qualvollen Tod durch Entgiftung gestorben, weil er in der Haft keinen Whisky bekam.)

Ein Polizist patroulliert auf dem Korridor und flüstert unserem Mann gutmütig zu, er möge nicht mehr schreien, man telefoniere schon mit Canberra. »Die wollen dort all das Zeug wissen, das Sie hier brüllen.« 94 Das ist Wasser auf unseres Mannes heiser gewordene Mühle, er brüllt drohend, droht brüllend.

Um Mitternacht öffnet sich die Tür, vier starke Armpaare ergreifen ihn. Will man ihn in den Dunkelarrest stecken? Nein, man trägt ihn in den Hof und verstaut ihn in einem Ambulanzwagen, der ins Krankenhaus fährt.

Gut gebrüllt, Löwe, raunt er sich ins Ohr, wir aber haben es doch gehört und mißbilligen dieses Eigenlob, obwohl wir mildernde Umstände nicht versagen.

*


 << zurück weiter >>