Egon Erwin Kisch
Landung in Australien
Egon Erwin Kisch

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Der König von Großbritannien hat (unter anderem) darauf zu achten, daß in seinem Reich keine Einmengung in ein schwebendes Verfahren, keine Beeinflussung des Gerichts und keine Beleidigung des Obersten Gcrichtshofs erfolge. In des Königs Namen und beraten von Mister Piddington verklagt unser Mann den »Sydney Morning Herald«, der seine Kampagne angesichts des neuerlichen Verfahrens zur Hetze steigert.

Kopfschüttelnd wird diese Klage überall diskutiert. Das Organ des Ministeriums! Das Organ der Konservativen! Das Organ des Kapitals! Unermeßlich reich an Einfluß und Geld, hatte es, selbst als die Labor Party in der Regierung saß, seine scharfmacherische, reaktionäre Politik fortgesetzt, jeder falschen Nachricht durch seinen würdigen Ton und seine seriöse Aufmachung den Stempel der Wahrheit aufgedrückt. »S. M. Herald« vor Gericht zu stellen, das ist, als ob man in Hitlerdeutschland den »Völkischen Beobachter« vor Gericht stellen wollte . . .

Bevor aber diesem mächtigen Inländer der Prozeß gemacht wird, wird er dem nicht ganz so mächtigen Ausländer gemacht. Diesesmal wurde gegen ihn alles noch »wasserdichter« vorbereitet als bisher, diesesmal vertritt die Klage der Generalstaatsanwalt von Neusüdwales, Mister Manning (Menzies ist Generalstaatsanwalt des Staatenbundes), und als Kronzeuge erscheint der Innenminister höchst persönlich, Thomas Paterson mit Namen, mit dem Angeklagten weder verwandt noch verschwägert, danke.

Zeuge sagt aus, die australische Regierung habe nach dem erfolgten Freispruch des Angeklagten an die britische Regierung die Bitte gerichtet, ihre Stellungnahme zu der 140 Ausweisung unchiffriert zurückzukabeln. Als Antwort traf aus London folgende unchiffrierte Depesche des Staatssekretärs für die Dominions ein: »Die Lage ist die, daß dem Egon Erwin Kisch im September 1933 im Hinblick auf seine bekannte subversive Tätigkeit die Landung im Vereinigten Königreich verwehrt wurde. Die Erlaubnis, das Vereinigte Königreich zu betreten, würde ihm auch jetzt verweigert werden.« Dieser »durch offizielle Kanäle von der Regierung einer befreundeten Macht« eingelaufenen Information zufolge, habe er, Minister Paterson, das neuerliche Verfahren verfügt.

Zeuge verneigt sich, will sich zurückziehen. »Einen Augenblick.« Mister Piddington hat an Minister Paterson Fragen zu stellen, sie prasseln wie Hagel hernieder: »Ist Ihnen bekannt, daß europäische Faschisten Maßregeln gegen den Delegierten verlangt und erzwungen haben? Ist Ihnen bekannt, daß gedroht wurde, Deutschland werde sich vom australischen Wollmarkt zurückziehen und sogar einen bereits abgeschlossenen Kauf in der Höhe von 10,000 Pfund rückgängig machen, wenn das Einreiseverbot nicht erlassen, beziehungsweise die Ausweisung nicht verfügt werde? Ist der Herr Minister bereit, den chiffrierten Depeschenwechsel vorzulegen, der der Bitte um das unchiffrierte Telegramm vorangegangen ist?«

Nein, der Herr Minister ist dazu keineswegs bereit. Er verschanzt sich hinter das Amtsgeheimnis und erklärt, daß er auch den Ministerialbeamten Jones, der von der Verteidigung als Zeuge für die Nazi-Intervention geführt wird, nicht von seinem Dienstgeheimnis entbinden werde. Zeuge verneigt sich, zieht sich zurück.

An den Generalstaatsanwalt Manning richtet Piddington 141 die Frage, wann und wo der Angeklagte sich des Verbrechens schuldig gemacht habe, dessen er angeklagt ist.

Darauf ist der Generalstaatsanwalt Manning sehr wohl vorbereitet. Er hat zwei amtliche Zeugen dafür zur Hand, daß der Angeklagte unbefugt in Australien war. Der eine, der Zollbeamte, der unseren Mann vor zehn Wochen mit dem Landungsverbot so peinlich überrascht hat, ist eigens aus Fremantle geholt worden, von wo es nach Sydney ebensoweit ist, wie von Madrid nach Stockholm. Als zweiten Zeugen für die Hunderttausenden bekannte Tatsache, daß unser Mann sich in Australien befindet, führt der Generalstaatsanwalt einen Sydneyer Polizeibeamten, der unter Eid bezeugt, unserem Mann die Vorladung zur Gerichtsverhandlung eingehändigt zu haben.

»Wann war das?« fragt Piddington.

»Am 5. Januar.«

»Aber die Vorladung trägt das Datum 3. Januar. Beide Aussagen könnten viel besser beweisen, daß der Angeklagte nicht in Australien war, denn nach der einen ist der Angeklagte in Fremantle nicht gelandet, und der andere Zeuge hat ihn am 3. Januar überhaupt nicht gesehen.«

Manning: »Dann war es eben am 5.«

Piddington: »Sie können doch nicht am 3. jemanden eines Verbrechens anklagen, das er erst am 5. begehen wird?!«

Ach was, darüber soll sich das Oberste Gericht den Kopf zerbrechen, – wenn es überhaupt zu einer Berufungsverhandlung kommen sollte. Hier wird verurteilt.

Generalstaatsanwalt Manning fordert Schuldigsprechung. Er fordert sie nicht etwa im Interesse der australischen Rechtssicherheit, denn von nun an werde der Angeklagte 142 Australien ohnehin bloß aus dem vergitterten Fenster einer Kerkerzelle oder aus dem Bullauge eines davonfahrenden Schiffes erblicken. Aber im Interesse anderer Staaten möge ihm das Kainszeichen der Verurteilung aufgedrückt werden, so zwar, daß »his future movements might be subject to scrutiny whereever he went, and so that people in other countries might know the status he has acquired in Australia.« (». . . seine künftigen Handlungen überall Grundlage einer Maßnahme bilden können, wohin immer er sich begebe, und damit die Leute in anderen Ländern erfahren, welchen Stand er während seines australischen Aufenthalts erworben hat«) – nämlich den Stand eines Zuchthäuslers.

Nicht das Geringste ist dem Herrn Generalstaatsanwalt an der Abbüßung der Strafe gelegen. Im Gegenteil. Er ist bereit, dem Angeklagten die Aussicht aus dem Gitterfenster zu ersparen, wenn dieser seinerseits bereit ist, aus dem Bullauge des nächsten abfahrenden Schiffes zu gucken. In diesem Fall würde der Generalstaatsanwalt auch für die sofortige Rückgabe von Paß und Schiffsbillett Sorge tragen.

Unser Mann will in vierzehn Tagen abreisen, aber damit ist dem Generalstaatsanwalt und seinen Auftraggebern durchaus nicht gedient. Warum nicht? Der Prozeß S. M. von Großbritannien gegen »S. M. Herald« ist angesetzt, die Regierung befürchtet, die klägerische Partei habe alle Pseudonyme gelüftet. Hohe Herren sind darunter und von Gefängnisstrafen bedroht. Nur wenn der Kläger außer Landes wäre, würde der Prozeß nicht steigen. Er darf nicht steigen, um keinen Preis.

*

Im Sydneyer Arbeiter-Kunstklub wird Theater gespielt, Kabarett gemacht, referiert, viel diskutiert und noch mehr 143 getanzt, insbesondere am Sonntag. Matrosen aus aller Herren Länder verkehren dort.

Seit ein paar Tagen liegt die »Mosel« am Circular Quay, ein deutsches Schiff, und ein paar Jungs ihrer Bemannung sind im Klub schon von früher her wie zu Hause. Wenn man sie fragt, ob sie politisch organisiert sind, so antworten sie: »Solche Nazis sind wir,« und heben lachend die Faust in Schulterhöhe, um zu zeigen, welcher Art Nazis sie sind. Ihrer zwei kommen am 18. Januar in den Klub mit der Nachricht, der Kapitän habe den Schiffsarrest inspiziert und befohlen: »Wir segeln halb Sieben. Sobald der Gefangene an Bord ist, sind sofort die Taue zu lösen.« Die Matrosen glauben, daß es sich um den Antikriegsdelegierten handelt.

Am gleichen Tag hat ein wohlmeinender Konstabler einem Taxichauffeur zugeflüstert: »Fahr' zu Piddington und sag' ihm, daß Kisch heute um sechs Uhr auf ein Boot gebracht werden soll.«

Zweifellos will man unseren Mann heute verurteilen und gleich abtransportieren. In der Nachmittagsverhandlung erhebt sich der alte Piddington, zitternd vor Erregung, zu einer Mitteilung: »Die Tatsache, die wir erfahren haben, ist so unglaublich, so . . . so . . .« stößt er hervor und fällt mitten im Satz bewußtlos zu Boden.

Einen Arzt! Einen Arzt! Alles rennt durcheinander, man bemüht sich um den Ohnmächtigen; mit einem Achselzucken zum Generalstaatsanwalt hin unterbricht der Richter die Verhandlung, vertagt sie auf morgen. Während die Abendblätter den neuesten Zwischenfall melden, »Piddington K. C. im Gerichtssaal zusammengebrochen«, fährt die »Mosel« aus dem Hafen, und ihr Schiffsarrest ist leer. 144

Bei der nächsten Verhandlung ist Piddington, der Wackere, wieder auf dem Posten, doch kann er die Verurteilung unseres Mannes nicht verhindern. Drei Monate Zwangsarbeit wegen unbefugten Aufenthalts und weitere 106 Tage für die Gerichts- und Berufungskosten, – der Richter rechnet sie gleich in Haftzeit um, weil er (mit Recht) ihre Nichteinbringlichkeit annimmt.

Die Unkenntnis der gälischen Sprache war seinerzeit mit sechs Monaten Zwangsarbeit bestraft worden, jetzt, ohne dieses Verbrechen, beträgt das Urteil sechseinhalb Monate!

Im Parlament von Neusüdwales bringt der Labor-Abgeordnete Gorman ein Interpellation ein, weil der Generalstaatsanwalt vor einem ihm direkt unterstellten Richter plädiert, ihm also den Urteilsspruch von Amts wegen befohlen hat. Der Ministerpräsident antwortet, Mister Manning sei nicht in seiner Eigenschaft als Generalstaatsanwalt und Vorgesetzter des Richters, sondern als Rechtsbeistand der Krone vor Gericht erschienen. Diese Antwort löst Tumulte aus, die Sitzung muß unterbrochen werden.

Gegen das Urteil hat Piddington abermals Berufung eingelegt, und das Oberste Gericht anerkennt die angegebenen Gründe als zureichend für die Ansetzung einer Berufungsverhandlung.Die juristische Seite des Falles ist in der Broschüre behandelt »How the Kisch-Griffin Ban was smashed« by P. Thorne. (Sydney 1935, Intern. Labor Defense.) Unser Mann ist auf freiem Fuß, diesmal gegen ein Pfand von 200 Pfund.

Der Vorsitzende und andere Vorstandsmitglieder des Schriftstellerverbandes, die unseren Mann nicht zum Masefield-Dinner einladen wollten, haben ihre Demission 145 geben müssen; des neuorientierten Verbandes erste Veranstaltung ist ein Festabend zu Ehren der aus Westaustralien eingetroffenen großen Romanschriftstellerin Katherine Susannah Prichard und unseres Mannes, eines eben zu Zwangsarbeit Verurteilten.

Zu dieser Veranstaltung hat sich der Vorsitzende P. R. Stephenson eine literarhistorische Überraschung ausgedacht: die authentische Biographie über den umstrittenen Gast. Er hatte aus dem tschechischen Konversationslexikon im tschechoslowakischen Generalkonsulat den betreffenden Artikel heraussuchen und übersetzen lassen, und liest ihn jetzt feierlich vor.

Ach, du meine Güte! Es war eine ganz alte Auflage des Lexikons, eingefrorene Posthornklänge tönen hervor, errötend und erblassend vernimmt sie der Betroffene, mit heiterem Hallo vernimmt sie Australien; denn das Lexikon beschränkt sich im Grunde darauf, zu attestieren, K. gilt als Kenner des Prager Nachtlebens und ist mit den Verhältnissen der Prostituierten- und Verbrecherkreise intim vertraut . . .

Andere Reminiszenzen, bessere und nicht so weit zurückliegende, gibt es bei anderen Veranstaltungen. So nähert sich nach einem Vortrag in der Sydneyer Vorstadt Balmain ein Mann von kleiner Statur, vor Schüchternheit noch kleiner, dem Podium. »Sie werden sich meiner nicht mehr erinnern, ich war einmal im City Hospital bei Ihnen, von der Vincent de Paul-Sozietät. Sie haben mir damals gesagt, ich soll zu dem Meeting in der Domain gehen.«

»Waren Sie dort?«

»Mein Gott, das vergesse ich mein Lebtag nicht. Ich war ohnehin aufgeregt, ich habe ja vorher noch nie eine 146 Volksversammlung mitgemacht. Kaum war ich dort, starb der alte Rivett vor meinen Augen, dann trug man den Kisch hinauf, und ich traute meinen Augen nicht: das war doch der Mann, mit dem ich vormittags gesprochen hatte.«

»Na, und haben Sie bei der Vincent de Paul-Gesellschaft den Antrag gestellt, die Rote Hilfe zu unterstützen?«

Der Alte lächelt: »Das war ja nur ein Witz von Ihnen. Jetzt verstehe ich das schon. Früher habe ich gar nichts davon gewußt, daß Menschen im Kerker sind, nur wegen ihrer Überzeugung. Ich bin Mitglied der Roten Hilfe geworden, die Vincent de Paul-Sozietät weiß nichts davon. Aber privat spreche ich mit den Mitgliedern darüber, und ich habe schon sechs für die Rote Hilfe angeworben.«

»Das ist wirklich schön.«

»Ja, ja. Ich bin hergekommen, um es Ihnen zu sagen.«

*

Wieder liegt ein deutsches Schiff im Hafen vor Anker, die »Leuna«, wieder gehören der Bemannung solche Nazis an, die die Faust heben, um zu zeigen, welcher Art Nazis sie sind. Am Tag, da die »Leuna« absegeln soll, erscheinen zwei Detektive in einer Wohnung von Potts Point, und fragen nach unserem Mann. »Wer? Der verbotene Emigrant?« – »Ja, der.« – »Wieso soll der bei mir wohnen? Bei mir wohnt überhaupt niemand.« Die Detektive überzeugen sich, daß das stimmt. (Unser Mann ist schon am Vormittag aus dieser Wohnung übersiedelt.)

Auf neutralem Boden, sei es in der Freimaurerloge oder in einem wissenschaftlichen Zirkel, werden einem Minister Vorwürfe gemacht: »Den Mann auf ein Nazischiff zu 147 verschleppen, bedeutet doch Mord!« Für eine derartige Ahnungslosigkeit in Sachen des Völkerrechts hat der Minister nur ein überlegenes Lächeln übrig: »Kein Haar darf man ihm krümmen. Er ist ja tschechoslowakischer Staatsbürger, untersteht also gar nicht der deutschen Gerichtsbarkeit, außer, wenn er an Bord etwas anstellt . . .«

Soll man lachen oder weinen darüber, daß das Unvorstellbare unvorstellbar ist? Soll man weinen oder lachen darüber, wenn Worte wie »Völkerrecht« und »Gerichtsbarkeit« im Zusammenhang mit den Nazis ausgesprochen werden?

*

Gerald Griffin, auch er bis zu seiner Berufungsverhandlung gegen Kaution auf freiem Fuß, hält in Queensland Versammlungen ab. Unser Mann war dort gleichfalls angekündigt gewesen, hatte aber wegen der Prozesse absagen müssen. Jetzt läßt sich's nicht mehr aufschieben, obwohl wieder Pläne bestehen, ihn unterwegs anzuhalten und auf ein Schiff zu bringen.

Er fährt also nicht aus Sydney ab und nicht mit dem angekündigten Zug. Ungestört verläuft die Reise in den hohen Norden, der, dem Äquator näher, ein heißer, tropischer Norden ist. Ungestört von Freund und Feind kommt er am Morgen in Brisbane an. Wie schön ist ein leerer Bahnsteig, die Luft ist rein, der Ankömmling atmet sie in vollen Zügen. Nur zwei Krücken sind an seiner Seite, sonst niemand, dieweil er die Stadt durchstelzt.

So lange man auf zwei gesunden Beinen geht, merkt man nicht, wie viele ihrer sind, die es nicht tun. Sie, die Männer auf Krücken, bilden eine besondere Gemeinschaft, sie blinzeln sich auf der Straße zu, mustern gegenseitig 148 Gliedmaßen, Krücken und allfällige Kriegsabzeichen, prüfen einander. Machst du deine Schritte, indem du die Hände auf den unteren Quergriff stützest oder indem du deine Achselhöhlen auf die Krücken drückst? Setzest du die Krücken voran und ziehst die Beine nach oder machst du es umgekehrt? Sind deine Krücken alt oder neu, hölzern oder aus Aluminium, hast du einen verkürzten Fuß, ein Holzbein oder gar kein Bein, bist du ein Lebenslänglicher oder nur ein Gast in der Welt der Krücken und Krüppel . . .?

Unser Mann hat sich zu der Adresse durchgefragt, die ihm mitgegeben wurde. Nun öffnet er die Tür des Raums, einige Leute halten eine Sitzung ab, aber angesichts des im Türrahmen stehenden Mannes stockt die Debatte jäh, die Gesichter ziehen sich in die Länge. Unser Mann hat sich ohne Zweifel in der Adresse geirrt, ist irgendwohin geraten, wo er stört, vielleicht zu Feinden. Was hilft's, es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich vorzustellen.

»Ja, wir wissen,« wird ihm erwidert. Pause.

»Und wer sind Sie, bitte?« fragt er, weil man es ihm nicht von selbst sagt, fragt er es nicht ohne Befürchtung.

»Wir sind der Kisch-Begrüßungsausschuß.«

»Seid Ihr das? Schön begrüßt Ihr mich.«

»Wir stellen eben das Programm für Ihren Empfang zusammen . . . Vertreter der Betriebe werden auf der Bahn sein, und der sozialistischen Gemeinden, und . . . was sollen wir jetzt machen, Sie sind ja schon hier!«

»Das ist doch nicht so schlimm, ich gehe einfach zum Bahnhof zurück und werde dort auf meinen Empfang warten.« So tat er auch.

Am Ausläufer des Bahnsteigs, es ist schon mehr freie 149 Strecke als Bahnhof, sitzt in sich gekauert unser Mann auf einer Bank, unter der Bank liegen die Krücken. Zwei Eisenbahner neben ihm essen ihre Stullen, gehen dann weg, ohne ihn auch nur mit einem Blick zu streifen.

Ohne ihn auch nur mit einem Blick zu streifen, versammelt ein Polizeiherr seine Mannen an diesem entlegenen Bahnhofsende und gibt ihnen die letzten Instruktionen: ». . . energisch . . . auch beim geringsten Anlaß . . . wenn er mit jemandem stehen bleibt, stört er den Verkehr . . .«

Ein Zivilist und zwei Konstabler werden bestimmt, am ersten Waggon zu stehen. Ein Zivilist und zwei Konstabler werden bestimmt, am zweiten Waggon zu stehen. Ein Zivilist und zwei Konstabler werden bestimmt, am dritten Waggon zu stehen.

Etwas abseits von dieser operativen Gruppe hält sich ein Mann in blauer Bluse, eine Gesichtshälfte ist eine gewöhnliche Gesichtshälfte, die andere ist verstümmelt, wie weggerissen. Der Inspektor ruft ihn zu sich: »Fitzpatrick!«

»All right, Sir.«

»Sie haben den Wagen hier?«

»All right, Sir. Einen Milchwagen.«

»Fahren Sie nicht allzunah hinter ihm her. Er wird wahrscheinlich in Camphill wohnen, bei einer Frau Hussie in Stephen Street.«

»All right, Sir.«

Dem Bahnhofsportier wird eingeschärft, auf den Polizei-Inspektor zuzutreten und mit lauter Stimme zu sagen: »Der Stationsvorsteher erlaubt nicht, daß auf dem Bahnhof ein Banner entrollt wird.« Die Szene wird geprobt.

Den Kopf in die Hände gestützt, schielt unser Mann nach den vollen Gesichtern der Detektive und dem halben 150 von Fitzpatrick dazu, der ihm nachfahren soll zu einer Frau Hussie, Camphill, Stephen Street. Am fernen Ausgang des Bahnsteigs sieht er eine Menschenansammlung sich vergrößern und verdichten, über ihr ragen die Staffeleien der Fotografen und die Stangen eines zu entrollenden Banners, gegen das der Portier mit lauter Stimme im Namen des Stationsvorstehers protestieren soll, Signal zum Einschreiten der Polizei.

Endlich fährt der Zug mit dem Erwarteten ein, der nicht darin ist, sich aber dergestalt unter die Ankömmlinge mengt, daß ihn jedermann für einen von ihnen halten muß. Vor der Ausgangstür Empfang, keiner schreit so laut »Hurra« und schwingt so hoch den Hut wie einer, auf den unser Mann mit dem Finger weist: »Sie sind ein Polizei-Agent, ich kenne Sie.« Ein Hochruf bleibt im Mund, ein Hut in der Luft stecken.

Leise sagt unser Mann zu den Fahnenträgern, sie mögen das Banner einrollen und es erst entfalten, wenn er das Zeichen dazu gebe. Ansprachen werden gehalten, die unseres Mannes schließt mit den Worten: »Und nun laßt uns das Banner der Antikriegs-Bewegung entrollen, und wir werden sehen, wie jener unbeteiligte Mann dort herbeieilen und den Polizei-Inspektor im Namen des Stationsvorstehers mit lauter Stimme auffordern wird, es zu verbieten.«

Der Bahnhofsportier kann diese Prophezeiung nicht hören, er steht etwa 20 Meter entfernt, jetzt aber schießt er auf den Inspektor zu: »Der Bahnhofsvorsteher erlaubt nicht, daß hier ein Banner entrollt wird,« und begreift nicht, warum diesem ernsten Satz ein so homerisches Gelächter folgt. 151

Vor dem Bahnhof parkt ein Milchauto, am Volant döst ein Mann in blauer Bluse, man sieht nur sein Profil. Unser Mann stellt sich vor ihn hin und sagt zu seinen Freunden: »Das ist ein Spitzel.«

»Ich? Ein Spitzel?« entrüstet sich der Chauffeur, »was fällt Ihnen ein?«

»Aber, Kamerad . . .« Die Freunde sind erschrocken über das Verhalten unseres Mannes. Der kommt zum erstenmal hierher, beleidigt einen harmlosen Chauffeur, kann uns einen saftigen Skandal an den Hals hetzen. »Aber, Kamerad, wie kommen Sie darauf? Dieser Mann ist doch kein Spitzel.«

»Doch,« beharrt unser Mann, »er hat nur eine Wange und nur ein Ohr, wie ihr von der anderen Seite sehen könnt, heißt Fitzpatrick, ist ein Spitzel, und soll mir zu Frau Hussie nachfahren, nach Camphill, Stephen Street.«

Alle schauen den Spitzel Fitzpatrick en face an, und unseren Mann, den übersinnlich Begabten, von der Seite. Gestern hat das Empfangskomitee vertraulich den Beschluß gefaßt, den Gast bei Frau Hussie einzuquartieren; wieso weiß er das?

Fitzpatrick protestiert nicht mehr, er gibt Gas und weg ist er mitsamt dem Milchwagen. Das Auto mit unserem Mann fährt statt nach Camphill aus der Stadt Brisbane hinaus, hinter das Dorf Granville, auf die Farm des Freundes Sintivalla.

Die Tournee durch Queensland beginnt, die Versammlungen finden in Stadien, in Theatern, in Hochschulen, in Kinos und Kriegergedenkhallen statt, aus den Dörfern, die noch die alten Namen aus der Buschnegerzeit tragen, und aus den Dörfern mit englischen und deutschen Namen kommen die Bewohner in geschlossenen Trupps. 152

In fast militärisch ausgerichteten Viererreihen, mit einer goldbestickten schwarzweißroten Fahne des Vereins »Germania«, marschieren die deutschen Bauern, Schafzüchter und Arbeiter aus Minden heran, aus Marburg, Kirchheim, Hessenberg und wie die deutschen Orte hier alle heißen. Von 11.000 Einwohnern im Lockyer Distrikt, einer Landschaft von 80 Meilen Durchmesser, sind nicht weniger als 10.000 Deutsche. Drei Generationen hindurch sprachen sie nicht englisch, sodaß englische Firmen für Queensland deutsche oder deutschsprechende Reisende anstellen mußten, die australischen Woll- und Vieheinkäufer ihre Geschäfte im Lockyer Distrikt und in den Darling Downs nur deutsch abschlossen.

Erst seit Beginn des Weltkriegs zeigt sich ein Riß in der Tradition. Damals wurden deutsche Schulen geschlossen, die Jugend hörte auf, deutsch miteinander zu reden, und will als »dinky die Aussies«, als waschechte Australier gelten. Und doch ist auch in jenen, deren Väter als »Anzacs« gegen Deutschland standen, in jenen, die kaum mehr deutsch verstehen, in jenen, die am Sonntag nicht mehr in die lutheranische Kirche kommen, und doch ist auch in dieser Nachkriegsjugend ein liebevolles Interesse an Deutschland wach, eine Sehnsucht nach dem Land von Großmütterchens Märchen.

Dort, in der Welt des »Es war einmal«, hat sich wieder etwas begeben, was an den Lindwurm und an die Hexe erinnert, ein grusliger Spuk, davon haben sie gehört und gelesen. Jetzt fragen sie den, der von dort kommt, Alte, die stolz sind, Deutsche zu sein, und Junge mit dem Traum von der Märchenheimat: ist es wahr, daß man politische Gegner nackt auspeitscht, politische Gegner ohne Urteil 153 erschießt, erhängt und zu Tode martert? Ihre Fragen scheinen zu flehen: »Sag' uns, daß das alles nicht wahr ist.«

Polyglott geht es zu in und nach den Versammlungen von Wynnum, Toowoomba und anderen Städten, am Rand der Darling Downs ließe sich der Turmbau von Babel auch nicht vollenden. Eine Gruppe russischer Arbeiter fragt, wie es jetzt in Rußland sei, ob der Delegierte etwas gehört habe über Artem; Gerüchte über sein Leben und seinen Tod sind hierher, zu seiner alten Arbeitsstätte, gedrungen. »Er lebte nämlich hier mit uns, und als im siebzehner Jahr in Rußland die Revolution ausbrach, wollte er, wir sollen alle zurück, jetzt gebe es keinen Zaren und keinen Kapitalismus mehr, und die Arbeiter seien frei. Aber wir haben nicht geglaubt, daß so etwas lange dauern kann, und er ist allein abgefahren.«

Ja, euer Artem war Volkskommissar in Sowjetrußland, 1921 kam er durch einen Eisenbahnunfall ums Leben. Die Stadt, die seinen Namen trägt, ist die Hauptstadt des Donezbeckens, und in dem Bezirk seines Namens gibt es hunderte von modernen Kohlengruben, Montanwerken, Glasfabriken und Arbeiterstädten. Auch die Universität von Charkow heißt nach ihm. Auf dem Marktplatz seiner Stadt Artemowsk steht er aus Stein gehauen im Bergmannskleid, mit Wickelgamaschen und die Grubenlampe in der Hand, so wie ihr ihn wahrscheinlich gekannt habt, towarischtschi.

»Ja, ja, so kannten wir ihn, towarisch. Damals hatten wir nicht den Mut, mit ihm zu gehen. Jetzt sind wir arbeitslos.«

*

Weit von hier, in Neusüdwales, steht »S. M. Herald« vor den Obersten Richtern und es ergeht ihm nicht gut. 154 »Nach mehr als einem Jahrhundert der Unantastbarkeit,« schreibt der »Labor Daily« am 8. Februar 1935, »zerfiel endlich all der Bombast und die Arroganz des ›Sydney Morning Herald‹, als er gestern in Sack und Asche, kriecherisch und liebedienerisch die ›apologia pro sua vita‹ anbot, bevor noch das Oberste Gericht ihn wegen versuchter Beeinflussung verurteilte. Niemals hat es in der Geschichte der australischen Journalistik eine beschämendere Selbsterniedrigung gegeben, als das Bekenntnis des ›Sydney Morning Herald‹: ›Wie immer der Urteilsspruch ausfallen möge, wir sprechen unsere tiefe, uneingeschränkte Reue aus über einige in den inkriminierten Artikeln enthaltene Behauptungen, welche sich bei Überprüfung als ungenau, übertrieben und unglücklicherweise sogar als beleidigend erweisen . . .‹ Doch auch diese Selbstanklage rettete das Blatt nicht vor den verwundend niederprasselnden Worten des Richterspruchs. Seit Australiens größter Patriot, der unvergessene Dr. John Dunmore Lang, vor zwei Menschenaltern ›die heimtückische alte Kröte von Hunterstreet‹ anprangerte, ward dem ›Sydney Morning Herald‹ eine solch heilsame Züchtigung nicht mehr zuteil . . .«

Bei einem Meeting in den Queensländer Eisenbahnwerkstätten von Ipswich erwähnt unser Mann, daß er nun keinen Grund mehr habe, seine Abreise aus Australien zu verzögern, nachdem die Absicht, den Prozeß gegen den »Herald« zu verhindern, vereitelt ist. »In einer Woche fahre ich.«

Schon am nächsten Tag antwortet Mister Menzies im fernen Canberra auf diese Rede im fernen Queensland, unser Mann wiege sich in trügerischen Hoffnungen. »Je länger er sich der über ihn verhängten Strafe entzieht, desto länger wird er in Australien bleiben müssen. Nicht 155 ein Tag der Haftzeit wird ihm geschenkt Das ist mein letztes Wort in dieser Angelegenheit.«

Und damit behält der Generalstaatsanwalt zum erstenmal recht in dieser Angelegenheit, es ist tatsächlich sein letztes Wort in dieser Angelegenheit.

Seit Urväter Zeiten sitzt in den unterschiedlichen Regierungen Australiens Billy Hughes, ein trockener Mann, obwohl mit allen Wassern gewaschen, taub, obwohl hellhöriger als seine Ministerkollegen; jetzt ist er zwar nur Minister für Volksgesundheit, bewahrt jedoch in diesem Portefeuille auch allerhand giftige Pillen gegen seine politischen Rivalen auf. Als Labor-Mann war er einst ins Parlament und ins Ministerium gekommen, während des Krieges trat er für die allgemeine Dienstpflicht ein, beide Volksabstimmungen ergaben »Nein«; Billy Hughes verlor die Mitgliedschaft der Labor Party, gewann aber die Ministerpräsidentschaft und 25.000 Pfund als Ehrengabe für seine Verdienste um die Landesverteidigung »von dankbaren Mitbürgern«. Vieles hat man ihm schon vorgeworfen, niemals jedoch mangelnde Schläue.

In Camera Caritatis, dem Ministerkabinett, spricht er nun seine Ansicht über die Affäre aus:

Dummheit Numero eins war es, den unerwünschten Einreisenden nicht schon von Fremantle aus nach Europa zurückzuschicken, ihn in alle australischen Häfen zu schleppen;

Dummheit Numero zwei war es, sich durch die Prüfung in keltischer Sprache ins Unrecht mitten hineinzusetzen;

Dummheit Numero drei war es, den vom Obersten Gericht zweimal Freigesprochenen zum drittenmal vor Gericht zu ziehen. Heute kann man den Mann nicht mehr 156 einsperren, die Arbeiterschaft und weite Kreise der Intellektuellen stehen auf seiner Seite.

Diese Analyse von Billy Hughes dringt in die Öffentlichkeit mit dem Gerücht, er habe gefordert, Mister Menzies habe unverzüglich zum Silberjubiläum des Königs nach London abzureisen. Zwar werde Se. Majestät erstaunt sein, ausgerechnet den Staatsanwalt als Vertreter Australiens zu empfangen, aber nur durch die Abreise könne Mister Menzies seine Erklärung wahr machen, sein letztes Wort in dieser Angelegenheit gesprochen zu haben.

Wie gesagt, das sind Gerüchte, Couloir-Gerüchte aus dem Parlament, allzu absurd, als daß man sie glauben könnte.

Da wird plötzlich die Entsendung von Lyons und Menzies nach London offiziell kundgetan.

Nie ward wohl einem Staatsanwalt ein so heiterer Abschied bereitet. Er, sein »letztes Wort« und die Abreise sind ein gefundenes Fressen für die Witzbolde. Auf einer Karikatur fragt ein Herr im Schiffahrtsbüro den Schalterbeamten: »Kennen Sie mich?« – »Nein, mein Herr.« – »Ich muß so schnell wie möglich abreisen, nur mit diesem Kisch möcht' ich nicht auf dem gleichen Schiff sein.« »Aha, Sie sind Mister Menzies.«

Australiens politischer Satiriker, Adam Mac Kay, hat eine Szene gedichtet, die der »Sydney Telegraph« veröffentlicht. Schauplatz Rom. Ein italienischer Reporter stürzt in die Redaktion: »Ich hab' eine Riesensensation!« – »Tutti piano,« erwidert der Redakteur mit dem seiner Gattung eigenen Phlegma, »hat sie den offiziellen Stempel vom Duce? Deine letzte Sensation, mein Junge, verschaffte dem Chef drei Monate Urlaub irgendwo, wohin er gar nicht reisen wollte.« – »Revolution in Australien, die 157 geflüchteten Minister sind hier gelandet mit Weib, Kind, Gefolge, den Kronjuwelen und . . .« – »Australien hat keine Kronjuwelen.« – »Nun, so haben sie das Gold aus dem Staatsschatz mitgenommen.« – »Australien hat kein Gold im Staatsschatz.« – »Egal, sie wurden davongejagt und wollen sich an Mussolini um Hilfe wenden.« – »Wer hat sie davongejagt?« – »Egon Kisch; er ist sehr streng mit der australischen Regierung.« – »Schreibe eine halbe Seite. Wie ist es mit Fotos? Im Archiv haben wir, soviel ich weiß, nur das von Kisch.«

Die beiden längst des Landes verwiesenen Delegierten fahren weder auf dem gleichen Schiff wie die beiden Minister, noch haben sie Zeit, auf den Kai zu kommen, um sich von ihnen zu verabschieden. Sie sind auf einer Vortragsreise im Newcastler Bezirk, einem schwarzen Land am blauen Pazifik, einem grauen Elend unter goldener Sonne, des Kumpels Reich.

Hier ist in jeder Stadt das Rathaus Versammlungsraum, Bürgermeister oder Abgeordnete führen den Vorsitz, die Reden werden durch den Rundfunk verbreitet, die Polizei ist unsichtbar. Niemals dürfen die Delegierten im Hotel schlafen, jeder Kumpel will womöglich beide Gäste beherbergen. Das Logis liegt gewöhnlich an der Peripherie oder gar außerhalb der Ortschaft, in später Nacht, nach der Versammlung, geht es über Halde und Hügel in die Bergmannswohnung, die Kinder müssen aus dem engen Bett oder vom harten Sofa, damit der müde Gast Platz finde. Einmal tragen Jugendgenossen unseren Mann meilenweit durch submarine Kohlenstollen, um ihm zu zeigen, wie unter dem Meeresgrund Kohle gefördert wird. Eine Welle von rührender Kameradschaft umfängt die Delegierten. 158

Aber als sie auf dem Bahnhof der Stadt Kurri-Kurri einfahren, wird ihnen etwas schwummrig zumute. Denn was sehen sie da vor sich? Sie sehen da vor sich eine militärische Abteilung in schottischen Uniformen, und vernehmen Kommandorufe. Zieht das Hochland mit bewaffneter Macht und klingendem Spiel gegen den Feind der gälischen Sprache zu Felde?

O nein, o nein! Es erweist sich, daß die Mannen mit Käppi und Röckchen in freundschaftlicher Absicht aufmarschierten; sie sind die Musikkapelle der schottischen Bergarbeiter von Kurri-Kurri, bewillkommnen die Delegierten mit dem Klang des Dudelsacks und geleiten sie zum Versammlungslokal.

*

Für den 27. Februar, den Jahrestag der Nacht, in der die Nazis das deutsche Reichstagsgebäude anzündeten, bereiten die Melbourner Antifaschisten einen Fackelzug vor, Kundgebung gegen den Terror in Deutschland; den Zug sollen die beiden Delegierten führen.

Bereits nach der ersten Ankündigung hat die deutsche Konsularvertretung gegen diese »beispiellose Provokation« protestiert, unter Boykottdrohungen verlangt sie das Verbot dieser Veranstaltung.

Leicht gesagt! Der Verbote hat es in dieser Angelegenheit gerade genug gegeben, sie haben den Karren nur verfahren; sollen jetzt jene Minister, die ihre Kollegen wegen der Verbote abgeschoben haben, selbst mit Verboten vorgehen? Würde sich die Melbourner Arbeiterschaft ein Verbot auf Nazi-Intervention gefallen lassen? Es gibt nur eine Lösung: dieser europäische Delegierte müßte einfach »freiwillig« vor dem 27. Februar abreisen, lautlos verduften, sich 159 davonschleichen, und niemand dürfte erfahren, daß seine Abfahrt von der Regierung veranlaßt wurde.

Die Kronanwälte rufen die Anwältin Jollie-Smith an und schlagen vor: Ihr Klient verpflichtet sich, mit dem nächsten Schiff abzureisen, das über Neuseeland geht und keinen australischen Hafen anläuft. Ihr Klient verpflichtet sich, bis zu seiner Abreise an keiner Kundgebung teilzunehmen, nicht öffentlich zu sprechen und keinerlei Mitteilungen an die Presse zu geben. Dafür kommt die Regierung für die Kosten des Strafverfahrens und der Verteidiger auf, und in seinem Paß wird das australische Landungsverbot nicht vermerkt. Sollte auch nur eine dieser Bedingungen abgelehnt werden, so wird er zur Abbüßung der Zwangsarbeitsstrafe verhalten, für die Bezahlung der Kosten haftbar gemacht, und in seinem Paß Strafe und Ausweisung eingetragen.

Nicht nur eine dieser Bedingungen wird abgelehnt, sondern alle. Die Vertreterin unseres Mannes teilt es den Kronanwälten mit, und die antworten: »Ihr Klient soll machen, was er will, wir kümmern uns nicht mehr um ihn. Wir zahlen die Kosten und schicken ihm seinen Paß, damit er abfahren kann. Hoffentlich geschieht das recht bald.«

Verflucht hoch sind die Kosten, einschließlich derjenigen des seinerzeit verurteilten Kapitäns der »Strathaird«, machen sie 1524 Pfund aus, also ungefähr so viel, wie vor einem Menschenalter die große Melba zahlte, um ihre tschechische Konkurrentin Emmy Destinn am Betreten Australiens zu verhindern. Erinnerst du dich, Leser, daß wir bei Erwähnung dieser Primadonnen-Tragödie ein Zitat anführten, demzufolge alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen, das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce . . .? 160

Gerald Griffin und unser Mann fahren nach Melbourne, geradenwegs zum Fackelzug. Vor dem Gewerkschaftshaus steht die Spitze des Zuges, in den Querstraßen formieren sich die Organisationen und Betriebe zu Kolonnen, die beiden Delegierten werden aufgefordert, am Mikrophon des Gewerkschaftssenders eine Ansprache zu halten. Unser Mann würde gern die Gesichter der Herren vom deutschen Generalkonsulat sehen, während er Hitler und Thälmann, Göring und Dimitroff, Goebbels und Ossietzki einander gegenüberstellt.

Zum erstenmal in der Geschichte Ozeaniens nehmen Eingeborene geschlossen an einer Demonstration der Weißen teil; auf dem denkbar primitivsten Instrument, einem Blatt des Kautschukbaums, das sie an die Lippen pressen, spielen sie revolutionäre Lieder; wie Urwaldbrausen tönt ihre Marseillaise.

Zwölfhundert Fackeln wurden ausgegeben, zehnmal so viel Menschen bilden den Zug; laut zustimmend oder still ablehnend oder nur neugierig stehen dreißigtausend Spalier. Zwischen Zug und Zuschauern marschiert Polizei und Gendarmerie des Staates Victoria, vorneweg die Detektive des Political Squad.

An der Ecke von Bourke Street, einer ansteigenden Straße, und Swanston Street macht die Tete wegen irgendeiner Stockung halt. Auch auf dem Firmament scheint ein Fackelzug innezuhalten, fünf besonders hell flammende Fackeln stehen oben einander gegenüber, und tief unter ihnen, dem Kreuz des Südens, schaukeln die irdischen Fackeln wie Lichter einer schwimmenden Flotte.

Weit und hoch spannen sich ihre Segel, und wenn ein Lichtschein sie trifft, kann man Worte lesen: »Befreit« und wieder »Befreit« oder »Thälmann« oder »Ossietzki«. 161 Rufe schallen im Sprechchor, und dann singen die Matrosen dieser Flotte.

Nacht des 27. Februar. Wo sind sie hin, die Freunde, Kollegen, Genossen, die, heute sind's zwei Jahre her, in den Keller des Berliner Polizeipräsidiums hinabgestoßen, dann in den Polizeiwagen verstaut wurden, »zur Erschießung«, wie man ihnen sagte, schwere Fahrt in den vermeintlichen Tod. Damals kam der Tod noch nicht, er kam erst später, langwieriger, qualvoller. Wie viele wurden am Fenstergitter erhängt, auf der Flucht erschossen, im Sack ertränkt, mit dem Beil hingerichtet, zu Tode geprügelt, im verlöteten Zinnsarg den Angehörigen zugestellt! Und wie viele noch in den Kerkern, jeden Tag, jede Nacht des gleichen Endes gewärtig!

»Befreit . . .! Befreit . . .!«

Mit Fackeln und Fahnen bewegen sich die Kolonnen, du siehst sie bis zur Straßenbiegung, fast eine Meile lang, aus Russell Street stampfen neue nach, und du weißt, der Strom ist unendlich, nicht nur in den Straßen Melbournes erzwingt er sich den Weg, er fließt durch Europa, Amerika, Asien, Afrika.

Ein mächtiger Strom. Ein mächtiger? Sind nicht weit mächtiger die ererbten, die erbeuteten Vorrechte, der starre Besitz, die Interessen des Profits, der Cäsarenwahn der Staatsmänner, die Verbreiter der Volksverdummung, die korrupten Politiker, die glatten Diplomaten?

Du siehst die australische Nacht erhellt und du weißt, auch anderswo und überall sind Fackeln entfacht. Und . . .? Und darf nicht dennoch ein spitzbäuchiger Gouverneur in Boston Unschuldige hinrichten, um seine persönliche Energie hervorzukehren, um zu zeigen, er lasse sich in 162 seine Befugnisse nicht hineinreden? Und . . .? Und kann nicht ein General nach Gutdünken einen Kanzler ernennen, der ein Sechzigmillionenvolk versklavt? Und darf ein Ölmagnat, ein Rüstungsmagnat, ein Zeitungsmagnat nicht Order geben zu bewaffneten Interventionen? Und . . .? Und dieser Strom von arbeitenden Menschen – ihre Fäuste und Fahnen und Fackeln heben sich durch die Nacht, rufen nach Befreiung der gefangenen Genossen – diese Tausenden von Melbourne, mit denen Millionen in aller Welt marschieren, haben noch nicht die Macht, das Mauerwerk der faschistischen Bastillen zu sprengen.

Es ist so, aber es kann nicht so sein. Und . . .? Und es wird nicht so sein. »Hurra! Hurra!« grüßt eben eine Gruppe aus dem Spalier, Hurra, Hurra, Jugendgenossen, für eine Welt, der wir Hurra zurufen werden.

Ziel des Fackelzugs ist eine weite Au am Yarra Yarra-Fluß, auf ihr kauerten vor einem Jahrhundert Australneger friedlich um ein Lagerfeuer, als der weiße Mann auftauchte. Er war gekommen, um auch diesen Teil Australiens in Besitz zu nehmen, er hat die herrliche Stadt Melbourne und den reichen Staat Victoria gegründet, dem schwarzen Mann jedoch weder Herrlichkeit noch Reichtum gebracht.

Das Marschorchester zieht auf den Versammlungsplatz ein, lagert sich im Kreis, mit beiden Händen drückt jeder ein Kautschukbaumblättchen an die geschlossenen Lippen, und alles ist ähnlich wie es damals war, aber nicht ganz so. Vor den endlosen Kolonnen der Weißen, die auf die Wiese zuschreiten, flieht der schwarze Mann nicht, es sind seine Freunde, von ihnen hat er seine neuen Lieder gelernt, Kampflieder für Weiß und Schwarz. 163

»O Tannenbaum, o Tannenbaum . . .« ist in angelsächsischen Ländern ein Arbeiterlied, sein Text beginnt mit den Worten: »Des Werkmanns Fahn' ist tiefstes Rot . . .«, und in den Südstaaten von Nordamerika ist sogar die Melodie, die dem Deutschen so traulich klingt, als aufrührerisch verboten. Hier spielen es die Eingeborenen vom Blatt, vom Blatt des Kautschukbaums, und obwohl Stimmen hart einfallen, glaubt unser Mann das naive deutsche Weihnachtslied zu hören: ». . . wie grün sind deine Blätter.« Dann aber – was ist das? Die Männer aus dem Busch stimmen an: »Links, links, links und links, der rote Wedding marschiert . . .«

In konzentrischen Kreisen sitzen die Massen auf dem Boden, der matte Schein der verglimmenden Fackeln läßt die Gesichter nicht erkennen. Nur die Tribüne leuchtet, hochgehoben von zwei Armen aus Licht, den Kegeln der Scheinwerfer. Aus dem Hell ins Dunkel tönen die Reden, aus dem Dunkel ins Hell tönt Zwischenruf und Zustimmung; allmählich sind auch die letzten Fackeln zu Ende gebrannt, die Versammelten vollkommen unsichtbar geworden, und nur das Gezweig der Bäume schimmert im Sternenschein.

Hinauszusprechen in die unbegrenzte Natur zum unsichtbaren Menschen ist nichts Leichtes; manchmal vergessen die Redner, daß sie Redner sind, und glauben, einsam in der Mitte einer Kuppel zu stehen, dann senken sie die Stimme, aber im gleichen Augenblick schallt es aus dem Unsichtbaren von allen Seiten her: »Lauter! Lauter!« Die Stimme muß erhoben werden, erhoben dafür, daß sich das Heer nicht auflöse, weil seine erste Schlacht gewonnen ward. 164

Auch für Gerald Griffin muß freie Abreise ersiegt werden durch nicht erlahmende Solidarität. (Sie wird nicht erlahmen, und nach zwei Monaten wird Gerald Griffin unter dem Druck der Massen freigesprochen.)

Einem letzten Rückzugsmanöver des Gegners ist noch zu begegnen. In Canberra wurde eine »private« Mitteilung ausgegeben, unser Mann habe beim britischen General-Gouverneur von Australien interveniert, woraufhin ihm die Strafe nachgesehen und die Abreise bewilligt worden sei. Der Generalgouverneur hat diese Lüge nicht dementiert, und deshalb wird von der Tribüne am Yarra Yarra das Dementi eindeutig gegeben.

Unser Mann verteidigt heute die gälische Sprache, die tausend Jahre alt und trotz jahrhundertelanger Unterdrückung nicht gänzlich verschwunden ist, sich in Bergstellungen noch behauptet. Im Kaukasus und in Mittelasien sind seit 1917 viele Sprachen und nationale Kulturen zu neuer Blüte erweckt worden, die weit weniger verbreitet und weit tiefer verschüttet waren als die schottisch-gälische. Sie als Intelligenzprüfung gegen einen Nichtschotten zu verwenden, war freilich eine heimtückische Waffe, und darum befanden sich die Anwälte unseres Mannes in Notwehr, als sie diese Waffe zerbrachen. Dem Schottisch-Gälischen, einer Sprache im Sinn des Gesetzes und der Wissenschaft, sei die Wiedergeburt zu wünschen . . . Nur der Faschismus spricht von überlegenen Völkern und unterdrückt Rassen und Sprachen.

Mit einem Schwur, den Faschismus zu bekämpfen und seiner Opfer nie zu vergessen, endet die Nacht am Ufer des Yarra Yarra. Die Eingeborenen überreichen unserem Mann einen Kampf-Bumerang, Erbstück ihres Stammes, 165 eine wahre Damaszenerklinge aus Holz. Das Geschenk soll besagen: Kehre zurück, wie ein Bumerang zurückkehrt.

Vorläufig bleibt unser Mann noch in Melbourne und besucht die Stadt Ballarat, die 1854 den revolutionären Aufstand der Goldgräber sah; in einer heftigen Schlacht eroberten Linientruppen das von Diggers verschanzte Lager »Eureka Stockade«. Aber aus dieser niedergeworfenen Revolte erhob sich die Demokratie Australiens; der Steckbrief gegen Peter Lalor, den Führer der »Eureka Stockade«, war kaum von den Straßenecken verschwunden, als Peter Lalor schon Präsident der neugeschaffenen Volksvertretung war.

Eben jetzt finden wieder Wahlen für das Parlament von Victoria statt, bürgerliche, Labor- und kommunistische Kandidaten stehen einander gegenüber. Die Organisation gegen Krieg und Faschismus hat Griffin und unseren Mann aufgefordert, in den Wählerversammlungen der Arbeiterparteien über die Notwendigkeit der Einheitsfront zu sprechen. Vorsicht ist die Mutter der Labor Party, und so beschließt ihr Parteivorstand, den beiden Delegierten dürfe in keiner Wahlversammlung der Labor Party das Wort erteilt werden; die Labor Party werde selbständige Organisationen gegen Krieg und Faschismus schaffen.

Griffin und unser Mann können also nur als Zuhörer in den Labor-Meetings erscheinen. Kaum aber sind sie erschienen, so verlangt die Versammlung im Sprechchor: »Sie – sollen – sprechen! Auf – die – Tribüne!« Die Delegierten sprechen, ohne die erzwungene Gastfreundschaft zu mißbrauchen, sie danken den Mitgliedern der Labor Party für die in der Kampagne geleistete Solidarität, und fordern auf zur Kampfgemeinschaft, zur militanten Einheitsfront gegen Krieg und Faschismus. 166

In Footscray, in Kensington, in Carlton, in Newport, in Collingswood werden die Wahlversammlungen der beiden Arbeiterparteien gleichzeitig auf dem gleichen öffentlichen Platz abgehalten, und so ist es nicht nötig, den Vorsitzenden des Labor-Meetings in Verlegenheit zu bringen; die Teilnehmer gehen zu den Nachbarn hinüber, wenn sie durch den ostentativ verstärkten Beifall von drüben erfahren, daß die beiden Delegierten angekommen sind.

Abschiedsgrüße, Einladungen und Glückwünsche in allen Sprachen erhält unser Mann, aber auch Droh- und Schmähbriefe, er sei ein Agent Hitlers, ein Agent Stalins, ein Agent der Jesuiten, einer von den Weisen Zions, Gereimtes und Ungereimtes. Ad Ungereimtes: »Es möchte sehr angezeigt sein, wann Sie bei den Umzug morgen Abends ein Plackat tragen möchten mit der Aufschrift – Wir Tschechen sind eine Nation von Lügner, Verräter und Feiglinge!! Mit Verachtungsgruß: Ein Österreicher.« O du mein Österreich.

»

Abfahrtbereit liegt der Dampfer »Orford« im Melbourner Hafen, und vom Kai, auf den unser Mann vor vier Monaten hinuntersprang, hinkt er nun die Landungsbrücke hinauf. Er wird fast umgerannt von Neugierigen, die, ohne ihn zu beachten, auf und über das Schiff jagen.

Aus Sydney sind viele Freunde zum Abschiednehmen gekommen. Ade, Tom Fitzgerald, guter Freund, ade, Percy Laidler, ade, Jean Devanny, grüß« die Kollegen von der Feder, ade, Gibson und Sharkey, grüßt die Genossen! Auch Gwendolyn ist wieder an Bord, diesmal von keiner Organisation entsendet; aus dem Traum aufgetaucht, wirst du nun wieder ein Traum. 167

Ade, Gerald Griffin, tapferer Gefährte; gemeinsam mit dir ging's quer durch halb Australien, oft unter wehenden Fahnen, oft im bergenden »Rauch«, Polizeihaft und Freundeskreis, Massenversammlungen und Nächte in einsamen Dörfern wechselten einander ab. Du, junger Genosse von der Insel Neuseeland, wußtest mehr von europäischer Literatur als der Schriftsteller aus Europa. Jede deiner Reden war voll von gutverarbeitetem Material über die ideologischen und ökonomischen Voraussetzungen der Kriegsgefahr, über die historischen Grundlagen des Faschismus, der Weltdelegierte hat von dir gelernt. (Aber sag's nicht weiter, Gerald!) Ade, all ihr Freunde, ade, Gwendolyn, was macht das Taschentuch an deinen Augen, du energische Orgleiterin?

Es rollen von den eisernen Riesenspulen die Taue der »Orford« ab, es huht die Sirene, es stößt der Rauch aus den Schloten. Ein Sängerkrieg entspinnt sich am Ufer; zu Ehren eines davonfahrenden Baptistenpriesters singt seine Gemeinde fromme Choräle; dem Dirigenten der Scotch Thistle Society, der in die alte Heimat reist, wollen seine Freunde mit Schnadahüpfelweisen, Schalmei und Dudelsack den Abschied leicht machen; aus der dritten Gruppe tönt es über Stadt und Meer: »So Comrades come rally – And the last fight let us face – The International – Unites the human race . . .« Von Signalmasten, von Kranen und von Verladegerüsten schwenken die Freunde Arme und Fahnen, rufen Grüße an die Freunde in Europa.

Eben schwimmt die »Strathaird« hafenein, sie kommt aus London, es läßt sich nicht erkennen, ob etwa O'Hara, Freund und Steward, oder Kapitän Carter auf Deck stehen. 168

Nach zwei Tagen Fahrt naht Adelaide, auf dem Pier spielt noch immer die Familie des Kriegsinvaliden um milde Gaben, die Fahne mit dem Kreuz des Südens vor sich aufgepflanzt. Die Stadt ist nicht mehr so unerreichbar weit vom Außenhafen wie vor vier Monaten. Himmelblau schimmert ein Gebirge in der Fahrtrichtung des Autos, die Mount Lofty Ranges, zu ihren Füßen liegt die üppige Adelaide hingestreckt. Dann fährt das Auto in die Stadt ein. Eine Londoner Aktiengesellschaft hat die Hauptstadt Südaustraliens ausgeheckt, mit Reißfeder und Lineal wurde sie konstruiert, aber Blumen und Mädchen schmücken den Plan.

Zwischen Ankunft und Abfahrt des Schiffes spricht unser Mann in zwei Versammlungen; hernach geht es zum Außenhafen zurück, wieder Massenabschied. »Wer trieb den Herzog von der Titelseite?« fragt ein Sprechchor, und ein Sprechchor gibt Antwort. – »Wer besiegte die Reaktionäre des Commonwealth?« – »Wer ließ sich nicht mundtot machen?«

Montag, 11. März 1935, ist unseres Mannes letzter australischer Tag; die Schleier des Morgens hüllen die Stunde ein, zu der das Schiff in Fremantle festmacht, dem Hafen von Perth. Die Perther Freunde kamen nachts mit dem letzten Eisenbahnzug nach Fremantle.

»Eine Unze Tat wiegt mehr als eine Tonne Worte, darum grüßen dich die I. W. W.«, steht auf einem Banner, das wie ein Triumphbogen über die Landungsbrücke gehalten wird. (»I. W. W.« bedeutet »Industrial Workers of the World«, die große syndikalistische, theoriefeindliche Organisation, die während des Weltkrieges in Amerika und Australien direkte Aktionen gegen den Militarismus unternahm. Daß sie die Stadt Sydney in Brand stecken wollte, 169 ist freilich nicht wahr, – mit dieser absurden Beschuldigung nämlich wurden die Führer der australischen I. W. W. zu je 14 Jahren Zuchthaus verurteilt. Wenige Jahre nach dem Krieg hörten die I. W. W. zu bestehen auf, ihre Mitglieder, zum Beispiel jene »Sydney-Brandstifter«, sind zumeist Kommunisten geworden, wenn sie auch durch ihre Vergangenheit miteinander verbunden blieben.)

Unser Mann dankt den Trägern des Banners und spricht über die Vergangenheit der »Wobblies«. Sofort wendet sich ihr Redner an die Menge auf dem Kai: »Ihr alle habt gehört, daß der Delegierte uns zuerst begrüßt hat. Diese Würdigung muß den Arbeitern Australiens zeigen, daß die I. W. W. ihre einzige wirkliche Vertretung sind, alle Parteien und anderen Organisationen nur Irrtum und Irreführung . . .«

Ach so . . . Unser Mann begreift jetzt, weshalb ringsumher Unruhe entstanden war: diese übriggebliebene Ortsgruppe der I. W. W. steht in Gegnerschaft zu den beiden Arbeiterparteien und zum Komitee gegen Krieg und Faschismus, ihr Erscheinen hier gilt nur der Unze Tat des Delegierten.

Der hat nun die Linie wieder herzustellen, sagt in seinem Schlußwort: ohne Theorie keine Praxis, ohne Worte auch keine Unze Tat, ohne Willen zur Einigung, ohne Einheitsfront keine Möglichkeit des Sieges.

Vor und auf der Laderampe des Heuerplatzes warten 400 Schauermänner, sie wollen etwas über ihren deutschen Kollegen, den Hamburger Hafenarbeiter Ernst Thälmann, hören. Die Versammlung schickt ihm ein Telegramm nach Moabit.

Pfefferminzbäume und Scharlachbäume, Riesenfarne und 170 Riesenkakteen säumen die Straße Forest Drive, rechts unter ihr windet sich der Swan River, an einer Stelle biegt sich der Fluß so scharf, daß das Uferland wie eine Insel in der flüssigen Schlinge liegt; der konische Turm einer alten Mühle winkt von dem scheinbaren Eiland zur Straße hinauf.

Nach 14 Kilometern taucht Perth auf. Für die Mittagsstunde ist ein Meeting angesetzt, jetzt ist noch früher Morgen, und unser Mann hat Zeit, sich in Perth umzusehen. Vor der Polizeistation erhebt sich das Denkmal zweier Polizisten; sie wurden in Coolgardie von Golddieben (muß man nicht, da es sich um Gold handelt, »Räuber« sagen?) erschossen. »Die Täter wurden gehängt« ist lapidar vermerkt, Warnung für jedermann.

Lockung für jedermann: auf St. George's Terrace hängen in den Schaufenstern der Grundstücksmakler, der Banken und der Prospektoren Telegramme über Goldförderung, Berichte über Aufstellung von Maschinen, geologische Pläne und Tabellen mit den Goldkursen. Kauft Aktien! Kauft Parzellen! Die goldenen Zeiten kehren wieder.

1892, als der Farmer Patrick Hannan ahnungslos durch die Frotting Grounds ritt und auf dem Gestein etwas Rotes schimmern sah, hatten für Westaustralien goldene Zeiten eingesetzt. Mit Spekulation, mit Krediten, mit Anteilscheinen und mit Lots an der Goldenen Meile und den Minen von Coolgardie und Kalgoorlie konnte man weit sicherer Millionär werden, als wenn man selbst nach Gold schürfte. Der Digger litt Hitze und Durst, er mußte für Wasser, nicht etwa echtes Trinkwasser, sondern kondensiertes Meerwasser, mit seinem echten Leben bezahlen oder gar mit echtem Gold, er verdurstete oder wanderte ab. Letzteres störte auch die Unternehmer, und so gaben sie 171 dem Ingenieur C. Y. O'Connor den Auftrag, sein Werk zu tun, ein Wasserwerk, eine 350 Meilen lange Röhrenleitung von den Darling Ranges zum Golddistrikt. Als es vollendet war, Wasser und Arbeitskräfte zur Goldgrube strömten, machten es die Herren von Perth mit dem Wasserleiter, wie es die von Hameln mit dem Rattenfänger gemacht hatten: sie verweigerten ihm den Lohn. O'Connor beging Selbstmord, aber er bekam nachher ein Denkmal, wie auch in Hameln der Rattenfänger das seine bekam.

Wer heutzutage das Glück hat, ein Goldvorkommen zu entdecken, muß es beim Australian Gold Development Trust anmelden, und erst, wenn es vom Bergingenieur für abbauwürdig erklärt wird, teilt man dem ehrlichen Finder ein paar Aktien des künftigen Unternehmens zu. Wer das Gold zutage schafft, Erz und Stein hämmert, wird im Taglohn bezahlt, und je kleiner der Taglohn, desto ergiebiger das Bergwerk. An der Spitze der Kurse notieren die Goldlager der Fidschi-Inseln, weil dort Papuas den Abbau besorgen, die dem goldenen und teuren Produkt innewohnende Arbeitskraft schwarz und billig ist.

Wenn man für geleistete Arbeit gar keinen Lohn bezahlen muß, braucht man nicht einmal Gold, um steinreich zu werden. Vor zwei Menschenaltern war Perth eine kleine Stadt, die von dem Goldgehalt ihrer Umgebung nichts ahnte, und doch erstanden hier damals Paläste und Avenuen und Parkanlagen. Denn Perth war Verbannungsort für englische Sträflinge und blieb es noch, als sich die anderen Städte Australiens schon längst gegen die Gefangenentransporte gesperrt hatten.

Auf das massivste Bauwerk der Stadt, das Rathaus, haben 172 die Erbauer, das heißt: nicht die Bauherren, sondern die Bauarbeiter, ihr Signum gesetzt, indem sie jedem Fenster die Form eines breiten Pfeils gaben, – der breite Pfeil war das Zwangsabzeichen der Sträflinge – und in höchstem Galgenhumor den Turmgiebel mit einem aus Galgen und Schlinge gebildeten Ornament schmückten.

Die Mittagsstunde ist herangekommen. Fahnen wehen auf der weitweiten, goldgrünen Esplanade. Unseres Mannes hundertstes Meeting, letztes Meeting in Australien. Kinder bringen Blumensträuße, ein fünfjähriges Mädchen flüstert ihm zu, sie habe keine Blumen, aber sie schenke ihm dafür ihr Lolly, ihr Bonbon. Nach seiner Jubiläums- und Abschiedsrede steigt unser Mann, langsam die Krücken setzend, hinab von der Tribüne, er kostet jede Stufe aus. »So, jetzt kannst du das Lolly lutschen,« sagt das kleine Mädchen und schmiegt sich an den fremden Onkel, »ich heiße Gwendolyn, gefällt dir der Name?«

Ein weißhaariger Mann zieht den unseren beiseite: »Haben Sie von der Pariser Commune gehört?« – »My oath,« antwortet unser Mann und vibriert das erste dieser beiden Worte; »my oath« bedeutet auf australisch »das will ich meinen«, und wenn man das »my« mit leichtem Wiehern ausspricht, so besagt es, wie sehr man das meinen will. Befriedigt entnimmt der Alte einer Schachtel ein rotes Fahnentuch: »Commune de Paris, 1871. Liberté, Fraternité, Egalité ou la mort.«

Tausend Francs und Amnestie hatte General Gallifet nach der Niederwerfung der Commune öffentlich jedem zugesagt, der eine der Empörerfahnen zur Stelle schaffe, so sehr fürchtete er ihre Auferstehung. Er hat nicht alle in seine Klauen bekommen. 64 Jahre später, hier auf der 173 anderen Seite des Globus, sieht unser Mann eine Fahne der Pariser Commune, mit Stolz gepflegt und verwahrt.

Der Alte erzählt seine, der Fahne Geschichte. Er heißt Roger Grenier, sein Vater, Pierre Grenier, war als Communard zum Tod verurteilt und nachher zu lebenslänglicher Deportation in Neu-Kaledonien begnadigt worden. Roger zählte damals kaum zehn Jahre. Zu dem Elend, das die ihrer Ernährer beraubten Familien in Paris litten, gesellte sich heimtückische Verfolgung. Der (bis dahin) »blutigste aller Adolfe« schonte in seiner Rache weder Witwe noch Waise, weder Greisin noch Kind; seine Journaille zelebrierte Teufelsmessen gegen die »Brut der Briganten«; niemand wollte Sohn oder Tochter eines Commune-Mitglieds beschäftigen, niemand ihnen Wohnung geben; wo immer sie Unterschlupf fanden, tauchten Spitzel und Denunzianten auf. Schließlich wurde den Familienangehörigen der Verbannten bewilligt, ihren Vätern und Gatten nach Neu-Kaledonien zu folgen, 600 Frauen und Kinder auf der Fregatte »Fénélon«. Mit ihnen fuhr der kleine Roger über das große Meer, auf seinem Körperchen barg er ein Fahnentuch. Sein Vater hatte, bevor die Häscher ihn holten, ihm aufgetragen, die Fahne gut zu verwahren, und der Junge hatte sie gut verwahrt in Paris, wo so viele Feinde und »Freunde« nach ihr fragten, und auch auf dem Schiff, wo man aneinandergepreßt im Zwischendeck lag, selbst Waschen und Notdurft sich öffentlich vollzogen, und die Augen der Späher überall patrouillierten.

Als die »Fénélon« auf ihrer Fahrt nach den Kerkerinseln 1873 in Port Jackson Anker warf, erlebten die geduckten Opfer des machtgierigen Schleichers Adolphe Thiers 174 etwas, was sie nicht erwartet hatten: Kundgebungen der Liebe und Solidarität. Hunderte von australischen Arbeitern kamen zum Schiff mit Blumen und Geschenken und Einladungen, die Frauen und Söhne und Töchter sahen sich um ihrer Väter willen geehrt, um derentwillen sie bisher geächtet gewesen waren. In Sydney wurde ein Festmahl in der Stadthalle veranstaltet, jeder australische Demokrat wollte in den zwei Tagen, da das Schiff im Hafen lag, die Familie eines Freiheitskämpfers bei sich bewirten.

Was Wunder, daß der kleine Roger Grenier das Land, das ihn und die Seinen so herzlich umarmte, zu lieben begann. Hier will ich leben, entschloß er sich. Vorerst aber ging die Reise weiter, dem Archipel der Verbannten zu.

Vater Grenier küßte seinen mutigen Jungen, und wenn er den Mitgefangenen heimlich die Fahne zeigte, unter der sie gekämpft, zuckte es um ihre Augen. 16 Jahre lang dauerte die Gefangenschaft auf Neu-Kaledonien, dann kam die Vollamnestie, Pierre Grenier kehrte nach Paris zurück, Roger aber stieg unterwegs aus und blieb in Australien, dem Land, in dem zu bleiben er sich als Kind vorgenommen. Mit ihm blieb die Fahne.

Noch heute fühlt sich Roger Grenier als Sohn der Pariser Commune, und seine Tochter und deren Tochter, die mit ihm zur Versammlung gekommen sind, müssen zeigen, wie gut sie französisch sprechen. »Ich bin Labor-Mann, aber meine Enkel stehen Ihnen näher, Genosse,« sagt er, während er mit zärtlichen Gesten die Fahne zusammenfaltet.

Die Stunden bis zur Abfahrt der »Orford« verbringt unser Mann mit einigen Freunden in den Darling Ranges, wo Katherina Susannah Prichard wohnt, mitten im Busch. 175 Nur ein Strauch Bogainvilla steht in blutigroter Blüte, sonst ist alles kahl, sieht aus, als hätte ein Waldbrand hier gewütet. Wenn aber morgen oder übermorgen Regen fällt, wird das Gras binnen wenigen Stunden mannshoch aufsprießen und das Gezweig der Bäume und Sträucher zu kompakten Körpern werden.

Unberührt von der Dürre ist die Fauna; im Garten, der keine Grenzen hat, hört man die Dingos kläffen, ein Opossum äugt von einem Ast und springt davon, ohne Seitenblick und ohne Seitensprung spielen auf einem anderen Baum zwei Koala-Bären tapsig miteinander, und zutraulich nähert sich dem kleinen Ric, dem Sohn der Dichterin, ein Känguruh und läßt sich kraulen.

In der aus Bohlen gezimmerten Laube, mehr Blockhaus als Laube, trinkt man Tee, und die Freunde tragen unserem Mann auf, sich dafür einzusetzen, daß die europäischen Kollegen die für Australien bestimmten Briefe und Materialien nicht immer nur nach Sydney schicken. »Alles geht hier an uns vorbei, tagelang braucht die Post von Perth nach Sydney, und tagelang, um von Sydney nach Perth zurückzugehen. Wir liegen doch Europa viel näher als Sydney und Melbourne, viel näher.«

Australien W. rechnet sich nur widerwillig zum Commonwealth, die Sehnsucht von Australien W. gehört Europa, die australischen Freunde möchten gleich mit nach Europa, wo nicht ein solch banaler Alltag herrscht mit heulenden Dingos, hopsenden Känguruhs, gellend blühender Bogainvilla, mit Bären und Opossums auf den Ästen des bald verdorrten, bald jäh emporschießenden Urwalds.

In Fremantle drängen sich Freunde bis hart an den Uferrand, hoffentlich fällt niemand ins Wasser; die Fahne 176 der I. W. W. beharrt auf ihrem Standpunkt, eine Unze Tat wiege mehr als eine Tonne von Worten; der alte Roger ist da, seine Enkelin schwingt das Fahnentuch, das ihr Großvater seinem Vater auf diese Hemisphäre mitgebracht hat.

Mit unbeteiligten Gesichtern, die Hände auf dem Rücken, überragen zwei stattlich gebaute Männer die Menge. Einmal – war es vor vier Monaten oder war es vor vier Jahren – schritten sie, als ein Schiff diesen Hafen anlief, auf einen namenlosen Passagier zu und nannten ihn beim Namen. Sie waren ein unheimlich großer Doppelpunkt gewesen.

Abschied, letzter Abschied. Die »Orford« löst sich vom Kai und gleitet langsam an einem deutschen Schiff vorbei, der »Justin«. »Hip, hip, hurra« grüßt die auf dem Deck der »Justin« in Reih und Glied aufgestellte Bemannung auf ein Zeichen des kommandierenden Offiziers. Und nach dieser captatio benevolentiae erfolgt die Demonstration gegen die roten Fahnen und Lieder am Kai: »Heil Hitler, Heil Hitler, Heil Hitler!« ruft die Reihe in dröhnendem Chor und mit ausgestrecktem Arm.

Das aber ist den Passagieren der »Orford« zu viel, und auch solche, die unserem Mann keineswegs grün sind, verlangen von ihm: »Sagen Sie uns ein Schlagwort gegen Nazism.« – »Hebt die Faust und ruft ›Rot Front‹.« – »Wie? Road Front?« – »Ja.«

Da heben sich die Fäuste, und so schallend klingt das »Rot Front, Rot Front!«, daß sogar die vier geknickten Beine auf dem Flaggentuch der »Justin« zu erstarren scheinen, die sich eben noch so unternehmungslustig in die Luft warfen. Ein Kommando: »Stillgestanden! 177 Horst-Wessel-Lied!« Aus voller Lunge wird gesungen, und aus voller Lunge fällt der Kontrapunkt in jedes Piano, knallt in jede Verszeile:

Die Straße frei
                          Rot Front!
die Reihen fest geschlossen.
                          Rot Front!
Der Tag für Freiheit
                          Rot Front!
und für Brot bricht an.
                          Rot Front!

Verbeißen die Sänger auf der »Justin« nicht ein Lachen? Das Gesicht des Befehlshabers ist wutverzerrt. Zwischen Chor und Gegenchor hört man plötzlich die Kommandostimme: »Wegtreten!«

Die beiden Schiffe sind aneinander vorbeigeglitten, das Ufer wird wieder sichtbar, die Freunde, die Abschied winken, ganz links die Fahne der Pariser Commune. Sie ist das letzte, das unser Mann und wir vom australischen Ufer noch erkennen können, sie ist der Schlußpunkt. 178

 


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