Egon Erwin Kisch
Landung in Australien
Egon Erwin Kisch

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Die Ahnen

Der Januar, der heißeste Monat des Hochsommers, strahlt heute besonders freudehell den Glanz des Himmels wider, wir schreiben den 26. dieses Monats, Nationalfeiertag, Anniversary Day.

Die Kinder haben schulfrei, über den öffentlichen Gebäuden wehen Fahnen, im Hyde-Park konzertiert die Militärkapelle, die Brauereien veranstalten für ihre Angestellten Picknicks am Fluß Parramatta, die Buchten und Badeplätze sind noch menschenvoller und lauter als sonst. Verschweigen, daß heute noch mehr als üblich getrunken wird, hieße die Tatsache unterdrücken, welch frohes Verständnis für die Bedeutung des Nationalfestes besteht.

Höhepunkt ist die Regatta, sie beherrscht den Hafen den ganzen Nachmittag hindurch. Jedermann, der am Ufer wohnt, steht am Fenster. Jedermann, der ein Boot sein eigen nennt, und sei es auch nur ein Seelentränker, hat es flottgemacht, um recht nahe an die flüssige Rennbahn heranzukommen. Auf den Fähren, die nach Manly hinüberführen, bleiben die Deckstühle unbesetzt, alles drängt sich an die Reeling.

Die Passagiere der Ozeandampfer, fünf Wochen Meer haben sie hinter sich, fahren endlich den letzten Hafen an, aber sie denken nicht an die Angehörigen, die sie in 191 einer Viertelstunde mit Blumen und Papierschlangen und Küssen und Liebe und guten und schlechten Nachrichten empfangen werden, sie wollen wenigstens im Vorbeifahren einen aufregenden Moment des Wettsegelns miterleben.

In den Strandbädern trägt man heute zur Schwimmhose das Fernglas. Der Mann auf dem Turm des Badeplatzes, vom Lebensretterkorps zum Auslugen nach nahenden Haifischen bestellt, lugt statt dessen nach den windgejagten Kähnen. Zu einer Tribüne hat sich die Hafenbrücke gewandelt, in einer Länge von fast zwei Kilometern reiht sie die Zuschauer auf. Flugzeuge gucken von oben aufs Rennen.

Bewegter als sonst sind auch die Straßen der City, und draußen im Busch ist kein Lagerplatz frei, jung und alt feiert den Anniversary Day, die Wiederkehr des historisch wichtigsten Tages, gedenkt des glorreichen Ereignisses.

Wenn man nur wüßte, welcher Tag sich heute jährt, worin das historisch wichtigste Datum besteht, was das glorreiche Ereignis ist, dessen man gedenkt!

Um das herauszukriegen, haben wir, bevor wir uns zur Regatta aufmachten, die heutigen Zeitungen durchgesehen. Die Leitartikel, auf Festtagston gestimmt, tragen Titel wie »Der Tag unserer Gründung« oder schlankweg »Wir gedenken«, und sie gedenken des Kapitäns Cook und rühmen mit Recht, was menschlicher Geist und menschliche Kraft auf dem Erdenboden geschaffen, in den Cook seinerzeit die englische Fahne eingepflanzt hat.

Solchen Worten muß der Leser entnehmen, heute sei der Jahrestag dieser Cookschen Fahnenpflanzung. Das stimmt aber nicht, Cook stieg keineswegs im Januar, sondern im April 1770 in Australien ab, wie wir gelesen und uns 192 deshalb gemerkt haben, weil der Tag seiner Landung zufällig mit unserem eigenen Geburtstag zusammenfällt.

Selbstverständlich nimmt die Presse nicht nur im Leitartikel auf das Jubiläum Bezug, sie bringt auch sachliche, dokumentarisch belegte Reminiszenzen. Aus diesen geht hervor, wessen Anniversary am heutigen Anniversary Day gefeiert wird: das der Segelregatta. Am 26. Januar des Jahres 1836 wurde sie zum erstenmal gefahren (oder sagt man »gelaufen« oder »geschwommen« oder »gesegelt«?), sie sei das rangälteste maritime Sportereignis südlich des Äquators. Nächstes Jahr, 1936, werde der Nationalfeiertag nicht nur »Jahrestag«, sondern »Hundertjahrestag« heißen.

In der Tat besteht die Teilnahme der Regierungen an dem Nationalfest darin, daß Premier und Prime-Minister mit den Kabinettsmitgliedern von einem Ozeandampfer aus dem Verlauf der Regatta folgen und die Preisverteilung vornehmen. (Für neu hinzukommende Leser: »Premier« ist der Ministerpräsident eines Bundesstaates, »Prime-Minister« der Ministerpräsident des Staatenbundes.)

So könnte jeder Globetrotter, heute mit einem erdumsegelnden Luxusdampfer in Sydney eingetroffen, seelenruhig notieren: »Australien ist so sportlich, daß es den Tag, an dem vor neunundneunzig Jahren ein paar Segelboote um die Wette fuhren, als Nationalfest begeht.« Punktum, Streusand darauf, Abreise auf den nächsten Kontinent. Schriebe der Globetrotter statt »Australien« die Worte »australischer Raum«, könnte er diese und andere Impressionen in einer geopolitischen Revue veröffentlichen.

Ist man aber kein Globetrotter, ist man im »australischen Raum« schon etwas länger festgehalten, dann wird man mit der Niederschrift der Notiz nicht so vorschnell 193 vorgehen. Insbesondere jemand, der dank seines Geburtstags die an Captain Cook erinnernden Leitartikel als unzeitgemäß erkannte, fühlt sich zur Skepsis geneigt. Wenn das mit Cook falsch ist, warum sollte nicht auch das mit der Segelregatta falsch sein? Vielleicht hat sie deshalb heute Geburtstag, weil sie bereits das erstemal zu Ehren des Nationalfestes vonstatten ging. Will sagen: nicht wegen des Preissegelns ist der Anniversary Day da, sondern das Preissegeln wegen des Anniversary Day.

Das scheint klar und logisch, aber leider kann man mit Klarheit und Logik allein nicht leicht herausfinden, aus welchem Anlaß ein Jubiläum begangen wird.

»Aus welchem Anlaß wird der Anniversary Day begangen?« fragen wir Mister Barches (lies: Börtschiß). In Tel-Awiw, Palästina, war Barches (lies: Barches) Religionslehrer gewesen, vor drei Jahren wanderte er nach Sydney ab, um hier »Börtschiß« zu heißen, eine psychoanalytische Praxis zu eröffnen, und alles besser zu verstehen als andere, vornehmlich über Australien.

»Sie wissen nicht, warum der Anniversary Day begangen wird?« Mister Barches lächelt: »Zusammenschluß der australischen Staaten zum Commonwealth, 1885. Es heißt ja nicht nur Anniversary Day, sondern auch Foundation Day.«

Eine gute Auskunft, fraglos. Nur hat sie einen kleinen Haken. Das Commonwealth ist nicht 1885 gegründet worden, es wurde 1901 gegründet. Wenn der eine Teil der Auskunft nicht stimmt, ist auch die Glaubwürdigkeit des anderen Teils in Frage gestellt, das scheint klar und logisch.

Nun, rasch läßt sich Gewißheit schaffen. Mister 194 Pletwichka, unser Nachbar und dem Namen nach unser Landsmann, veröffentlicht eben im »Bulletin« einen Essay »Geschichtspolitische Gedanken an unserem Gedenktag.« Mag er darin auch philosophische Solidarität mit seinem Landsmann und Mitphilosophen Hitler bekunden, – was der Gedenktag ist, muß er schließlich wissen, wenn er sich darüber geschichtspolitische Gedanken gemacht hat. Er wird uns Auskunft geben können.

Kann er auch.

Vorerst aber erklärt er, unsere Behauptung sei lächerlich, daß niemand die Bedeutung des Anniversary Day kenne. »Es gibt überhaupt keinen Australier,« sagt Mister Pletwichka, »keinen einzigen, der das nicht weiß.«

Der was nicht weiß?

»Der nicht weiß, warum am 26. Ersten der Nationalfeiertag gefeiert wird.«

Ja, aber warum wird er denn gefeiert?

Mister Pletwichka schüttelt den Kopf, anscheinend indigniert über so viel Begriffstützigkeit. Dann greift er hinter sich in den Bücherschrank und holt die Australian Encyclopædia hervor, zuerst den ersten Band und, nachdem er diesen zu Ende geblättert hat, den zweiten Band. Schon fürchten wir, zu spät zur Regatta zu kommen, aber Mister Pletwichka liest den zweiten Lexikonband nicht zu Ende. Ungefähr nach Seite 200 richtet er das Wort an uns: »Der 26. Januar ist der Tag der Entdeckung Australiens durch . . .«

. . . durch Cook? Die war doch im April.

Ein Blick rügt unsere Voreiligkeit: ». . . er Entdeckung Australiens durch den Holländer Frans Thyß. Er hat am 26. Januar 1627 die Westküste Australiens gesichtet und 195 dem Cap Leeuwin als erstem Platz unseres Kontinents einen Namen gegeben.«

Wir danken und gehen zur Regatta und denken unterwegs: Hm, hm. Die Entdeckung Australiens, erfolgt am 26. Januar 1627, könnte sicherlich ein feiernswertes Ereignis abgeben, das ist klar und logisch, und jedes »hm, hm« fehl am Ort. Daß aber ein britisches Dominion seine Entdeckung durch einen Nichtbriten feiern sollte, das ist weder klar noch logisch. Deshalb unser hm, hm.

Versuchen wir einmal mit kriminalistischen Methoden selbst die Tat herauszufinden, deren Angedenken heute begangen wird, weil sie einmal begangen wurde. Vergegenwärtigen wir uns zunächst den Tatbestand: man feiert eine für das Land grundlegend wichtige Begebenheit. Das könnte erstens die Entdeckung des Erdteils sein, aber die ist es nicht, wie wir festgestellt haben. Zweitens könnte es der Beginn der Besiedlung dieses schwarzen Erdteils durch weiße Männer sein, durch freie Untertanen des freien Britannien.

Warum aber feiert man sie dann heute nicht, nennt sie nicht, verschweigt sie geradezu? Denken wir weiter nach: Wahrscheinlich – das ist die Antwort, die wir uns geben – wahrscheinlich sind diese freien Untertanen des freien Britannien gar nicht rühmenswert.

Nicht rühmenswert? Unrühmlich? So etwa, daß man sich ihrer gar schämt? Vielleicht nicht einmal freie Untertanen?

Jetzt fällt es uns wie Schuppen von den Haaren: Anniversary Day ist der Tag, an dem erstmalig eine Ladung von Kettensträflingen am australischen Ufer gelöscht wurde.

Ja, so muß es sein. Und so ist es auch. »The first fleet« 196 (Euphemismus für den ersten Sträflingstransport) warf am 26. Januar 1788 in Botany Bay Anker . . .

In den Vereinigten Staaten von Amerika ist es der größte Stolz eines echten Demokraten oder Republikaners, wenn er seine Ahnentafel bis zu den Passagieren der »Mayflower« hinaufführen kann, zu denen, die durch Massenmord, Sklavenhandel, Ausbeutung, Betrug, Vaterlandsverrat und Denunziation zu Gründern der Milliardärsfamilien wurden. Aber von den australienstolzesten Australiern kennt wohl keiner die Schiffe der Ersten Flotte, die »Sirius«, »Alexander«, »Supply« und »Scarborough«, geschweigedenn die Namen der sieben kleineren Kutter, auf denen der englische Kapitän Arthur Phillip, ein Zeitgenosse von Goethe und Maier Amschel Rothschild und wie sie, Sohn eines Frankfurter Bürgers, seine Fracht von Armesündern in den unbekannten Erdteil expedierte.

Diese »Verletzer der Gesetze« konnten hier Gesetzesverletzungen à la Astor, Morgan und Vanderbilt nicht begehen, sie hatten sie nur zu erleiden. Lange ehe die »Convicts«, die Sträflinge, zu ihrer Martyrologie auf dem jungfräulichen Grund zugelassen wurden, nahm die Martyrologie ihren Anfang.

Sie nahm ihren Anfang auf der Überfahrt. Aneinandergefesselt hockten die künftigen Pioniere Australiens acht bis zehn Monate lang in der stickigen Tiefe des umhergeworfenen Schiffsrumpfes; hungernd, durstend, schmutzig, boten sie dem Skorbut und der Schwindsucht ein widerstandsloses Objekt dar. Wer eines Murrens, eines empörten Wortes verdächtig war, dem zog oder schlug das Schiffstau die Seele aus dem Leib, je nachdem, ob er an den Top oder an den Fuß des Mastes gebunden ward. Ihrer aller, die 197 infolge Krankheit, Entkräftung, Peinigung, Hinrichtung oder Schiffbruch die Überfahrt nicht überstanden, gedenkt man ebensowenig wie derjenigen, die landen konnten und daher Anlaß zum heutigen Gedenktag gaben.

Die Regatta ist in vollem Gange, der menschenvolle Hafen fiebert ihr zu. Für Minuten windet sich ein amerikanischer Dampfer zwischen Ufer und Wasserrennbahn hindurch, wütende Entrüstung schallt aus zehntausend Kehlen gegen den Störer der Aussicht. Die Passagiere des Amerikaners achten nicht auf das Gebrüll, sie schauen auf das Rennen.

Kleine, schmale Boote sausen um die Wette. So klein sie sind, nur sechs Meter lang, so enorm ist der Flächeninhalt ihrer Segel. Das Besahnsegel ist rund gebläht wie ein Ballon, die anderen stehen in winkligen Konstellationen zueinander, die Hälfte der leinenen Dreiecke steckt im Wasser, tief im Wasser steckt der ganze Rumpf des Boots. Nur den Bugspriet sieht man, er gleicht einem Schwertfisch, wie toll jagt er dahin und scheint den Kahn hinter sich herzuziehen.

Schräg liegen die Boote, schräg die Segel. Die Mannschaften, sechs Männer per Boot, hängen fast außenbords, sie stemmen sich dem Wind entgegen. Dennoch kann jeden Augenblick ein Fahrzeug umkippen, und jeden Augenblick können zwei der Renner zusammenstoßen, man stelle sich das vor.

Man stelle sich aber auch die Segelschiffe vor, die die Sträflinge nach Australien brachten. Begreiflicherweise gab England für den Abtransport einer solch wertlosen Fracht nicht seine seetüchtigsten Fahrzeuge her und nicht seine erprobtesten Kapitäne, und so erlitten verhältnismäßig viele 198 von den alten Kästen auf der langen stürmischen Fahrt Schiffbruch.

Das jedoch war niemals ein Schiffbruch wie es andere sind, denn die Gefängnisvorschriften wurden strenger gehandhabt als die Rettungsvorschriften. Die ersteren besagten zum Beispiel, ein Sträflingsschiff dürfe unter keinen Umständen auf seiner Fahrt einen fremden Hafen anlaufen, – man befürchtete Aufstand und Flucht oder gar gewaltsame Befreiung. (Das Verbot war während der französischen Revolution ergangen.)

Demgemäß handelte der Kapitän des Dreimasters »Amphitrite«, der mit einer Ladung von 108 weiblichen Sträflingen von England nach Botany Bay unterwegs war. Hart an der französischen Küste, vor Boulogne, riß der Sturm die Masten fort und ein Teil des Hecks barst, aber kein Hilfesignal wurde gegeben, und das Angebot von Küstenfischern, das Schiff in den Hafen von Boulogne zu lotsen, wurde abgelehnt. Nach sechs Stunden, das Wrack war voll Wasser, befahl der Kapitän, das große Ruderboot auszusetzen, um alle Frauen, nämlich die Gattin des Schiffsarztes und die 108 Sträflinge, an Land zu bringen. Aber Frau Doktor weigerte sich, in solcher Gesellschaft wegzufahren, und da der Kapitän einerseits Boot und zwölf Ruderer nicht wegen einer einzigen Frau ausschicken, andererseits aber nicht die »Verbrecherinnen« retten und die einzige »Nichtverbrecherin« untergehen lassen wollte, zog er den Befehl zurück. Das Boot blieb an Bord, mit der »Amphitrite« versanken der Kapitän und die Besatzung, die 108 Frauen und die sittenstrenge Gemahlin des Arztes, nur drei Mann wurden gerettet.

Als die »George III« im Kanal d'Entrecasteaux in 199 Brüche ging und zu sinken begann, 21. April 1835, hatte sie 220 Sträflinge an Bord, in Käfigen eingesperrt. Darin stieg das Wasser, stieg zu ihren Knien, zu ihren Hüften, es stieg zu ihrer Brust, zu ihren Schultern, es stieg bis zu ihrem Mund. Schmiedeeisern waren die Gitter der Käfige, verwehrten die Flucht aus der würgenden Flut. Die Tobsucht! Das Rütteln am Gestänge! Die Rachedrohungen gegen den Kapitän und die Mannschaft, die das Verließ nicht öffneten! Das Gebrüll überschrie den Sturm. Die an den Pumpen und an der Verdichtung des Lecks arbeitende Bemannung befiel panische Angst, nicht vor dem Tod in den Wellen, sondern vor der Rache der Gefangenen. Schon, so hieß es, biegen sich die Stäbe, gleich, so hieß es, werden sie brechen. Wirklich war bereits ein Bunker aufgesprengt. Da gab der Kapitän den Befehl, in die Zellen zu schießen, um die Tobenden von den Gittern zu vertreiben. Die Schüsse krachten, während »George III« in die Tiefe glitt. Eine Partie von sechs aneinandergefesselten Sträflingen wurde lebend von dem vorbeifahrenden Schoner »Luise« aufgefischt.

Lang ist die Liste der gesunkenen Sträflingsschiffe, »Newa« mit 315 weiblichen Gefangenen, »Waterloo« mit 300 männlichen, und so fort. Jedes Schiff geriet mehr als einmal in Gefahr, das gleiche Schicksal zu erleiden, selbst die schwerste Schuld der Fahrgäste wider Willen mußte abgebüßt sein, bevor sie in den Hafen einfuhren, der heute von Farben und Fahnen und wetteifernden Segeln funkelt.

Eben hat ein Rennboot bei der Boje von Bradleys Head ein anderes gerammt, die Zuschauermassen schreien auf, Motorboote schwirren heran, die Mannschaften werden aus 200 dem Wasser gezogen, pudelnaß sind sie und werden keinen Preis bekommen. »Arme Jungs«, seufzt die Menge, Mädchen und Frauen haben Tränen in den Augen über so viel Unglück.

Der Großdampfer »Sussex« legt auf Circular Quay an, Blumen und Papierschlangen fliegen hinüber–herüber, Hüte werden geschwenkt, Mütter heben ihre Kinder hoch, damit sie den Papa sehen, damit der Papa sie sehe, er kommt aus Europa, alle kommen aus Europa, auch die Sträflinge kamen aus Europa, jedoch niemand begrüßte sie, als sie hier eintrafen.

Was hatte sie hierhergebracht in dieses damals wilde Land, war ihre Schuld so groß, daß man sie selbst am Gedenktag mit schamhaftem Stillschweigen übergeht?

Manche wurden wegen unbezahlter Schulden, wegen Bankrotts oder wegen eines Duells über die stürmischen Meere geschleppt. Viele waren überhaupt nicht gerichtlich verurteilt, Obdachlose, Beschäftigungslose, bei Razzien aufgegriffen oder auf Denunziation hin verhaftet, denen man zwar ihre Schuld nicht nachweisen, die aber auch ihre Unschuld nicht dartun konnten.

Mehr als einer wurde in die Verbannung geschickt, weil er im herrschaftlichen Wald gewildert, vielleicht ein paar Hasen getötet hatte. Heute fressen in Australien 120 Millionen Kaninchen das Weidegras ab, allen Zäunen, Giften, Fallen und Treibjagden zum Hohn – wer ein paar Millionen davon töten würde, wäre kein Verbrecher, sondern ein Wohltäter des Volkes.

Das Verbrechen anderer bestand in Religionsstörung, verübt durch gotteslästerliches Fluchen; wenn das auch vor australischen Gerichten als Verschickungsgrund gelten würde, 201 säße ganz Australien auf einer anderen Insel, vielleicht auf der englischen.

Wieder andere hatten das Delikt begangen, Gewerkschaften zu organisieren von der Art jener, die heute ganz Australien umfassen.

Gewiß, es gab unter den Convicts auch solche, die schwere Verbrechen hinter sich hatten, aber auch sie haben das Menschenmögliche getan, um dem Enkel ein warmes Bett zu bereiten. Convicts haben durch Expeditionen in den mörderischen Urwald und über die Felsenriegel neues Land erschlossen, Convicts haben die Wege geebnet, die Kohle entdeckt, die Wälder gerodet, die Felder urbar gemacht, die Städte gebaut, die Schulen gegründet, das erste Museum, die ersten Bücher und die erste Zeitung (die »Sydney Gazette« des Sträflings Georges Howe) geschaffen, sie waren »die menschliche Kraft und der menschliche Geist«, die man heute mit so diskreten Worten feiert.

Einer von ihnen, Simeon Lord mit Namen, setzte sich für die Gründung von Spinnereien und Webereien ein, um den Kontinent der Wolle zum Kontinent des Textilwesens zu machen. Dadurch aber hätte das Mutterland mehr oder minder Australien als Rohstofflieferanten und als Abnehmer von Fertigware verloren, und so wurde dem industriellen Eifer des Ex-Sträflings Simeon Lord energisch Halt geboten. In einer Note des englischen Kolonialministeriums an Gouverneur Macquarie, dem einzigen voraussehenden und humanen unter den Vögten Australiens, werden weitere wirtschaftliche Experimente expressis verbis verboten: »Die Besiedlung von Neu-Holland ist in keiner Weise unternommen worden, um territoriale oder kommerzielle Vorteile zu erzielen, sondern das Gebiet muß als 202 Strafstelle, als Aufnahmeplatz für Gesetzesverletzer angesehen werden.« Merken Sie sich das, Gouverneur!

Die Regatta ist zu Ende. Während auf dem Regierungsschiff die Preisverteilung vorgenommen wird, streben die Boote der Zuschauer dem Ufer zu, von dort geht es mit Straßenbahn, in Lastautos, in Personenautos und zu Fuß nach Hause. Bei St. James Church müssen wir stoppen, von der Domain her, dem besten Zuschauerplatz für die Regatta, ist eine Kolonne von Zehntausenden auf dem Heimweg. St. James ist die älteste Kirche von Ozeanien, die Wände in ihrem Innern sind mit Gedenktafeln tapeziert wie Westminster-Cathedral in London. Aber hier, in der Westminster-Cathedral der südlichen Hemisphäre sind es Grabsteine für Tote, die kein Grab haben, für Männer, die im Meer, im Busch, in der Steinwüste umkamen, für Seefahrer, Entdecker, Offiziere der Besatzungstruppen. Hier ist das Buch der australasischen Inseln und Meere aufgeschlagen, auf seinen marmornen Seiten steht, wenn auch beschönigend, geschrieben, wie sich das Vordringen der Weißen vollzog.

St. James ist ein schönes Bauwerk, der schlanke Turm hebt die Massivität auf, und kraft seiner Schlichtheit, nicht kraft des höheren Alters verdunkelt der anglikanische St. James die katholische St. Mary, die ihm gegenüber als eine millionenteure Kopie europäischer Dome aufgerichtet ward.

Architekt und Baumeister von St. James Church war ein Sträfling namens Francis Greenway, von ihm stammen die besten Bauten Sydneys, und sogar die Hafenbrücke hat er ein Jahrhundert vor ihrer Inangriffnahme kühn projektiert, er wollte sie an der gleichen Stelle errichten, die hundert 203 Jahre später von modernen Ingenieuren als die geeignetste ermittelt wurde.

Braucht man erst zu sagen, daß unter den zahllosen Erinnerungstafeln im Dom keine dem Dombaumeister gilt? Er war ja Strafgefangener.

Nur langsam geht im Gedränge der heimströmenden, mit ihren Billy-Teekannen klappernden Ausflügler und Regattagäste unser Weg durch die Innenstadt Sydney vorwärts. Es ist nicht leicht, sich den Tag vorzustellen, dessen Jubiläum heute gefeiert wird, die Zeiten, da hier, wo Wolkenkratzer stehen, nur Buschwald stand, die Zeiten, da hier, wo Verkehrsampeln funkeln, das Auge von Wilden aus dem Dunkel funkelte, die Zeiten, da hier, wo die Autobusse fahren, Känguruhs hüpften, ihre Jungen im Beutel.

So mag es am 26. Januar 1788 ausgesehen haben. Wie aber schuf man den Dschungel zur Großstadt um, wenn man bei dieser Tätigkeit Fußfesseln trug, Hunger im Bauch und Durst in der Kehle hatte, wie baute man steinerne Häuser, wenn man selbst kein Dach über dem Kopf hatte, sondern am Ufer des Tankstroms schlief, vom Kerkermeister und seinen Hunden umschnüffelt?

Wir haben nach Australien ein ins Französische übersetztes Memoirenbuch mitgebracht, fast so alt wie Australien, die Ausgabe stammt aus dem Jahr VI der französischen Revolution. Es sind die Erinnerungen des Meisterdiebs George Barrington, der 1790 zur Deportation nach Botany Bay verurteilt wurde. Auf der Überfahrt verrät er den Plan einer angeblichen Sträflingsrevolte, die von ihm angegebenen Schuldigen werden an dem Fockmast der »Scarborough« aufgehängt, und der Verräter wird belohnt, indem man ihn in Freiheit setzt. 204

Über diese Affäre gleitet er in seinen Memoiren schnell hinweg, mit umsomehr Phantasie verbreitet er sich über eine übernatürliche Erscheinung: beim Kap der Guten Hoffnung schießt eine Fregatte mit prallen Segeln und Gerippen als Bemannung hoch durch die Luft. Vom Bootsmann der »Scarborough« hört Barrington den Namen: »der fliegende Holländer«.

Dieses Schiff hat der englische Kolportageschriftsteller, Kapitän Marryat, nachdem er die Barringtonschen Memoiren gelesen hatte, als gute Prise erklärt und als Roman aufgetakelt. Aus Marryats »Gespensterschiff« machten zuerst Foucher und Dretsch eine Oper, und nach ihnen Richard Wagner, glücklich darüber, die ersehnte niederdeutsche Sage vom Meer gefunden zu haben, und nicht ahnend, daß er den Stoff zum »Fliegenden Holländer« einem australischen Sträfling verdanke.

Eigentlich wollten wir weder von Barringtons Überfahrt sprechen, noch von seiner Phantasie und deren Wirkung auf Richard Wagners Schaffen, sondern von Barringtons Angaben über die Anfänge der Kolonie. Er hat die Vorfälle chronologisch aufgezeichnet, wirtschaftliche und administrative Fortschritte, Fluchtversuche und Menschenjagd im Dickicht, Spielwut und Trunksucht, romantische Abenteuer mit wilden Buschnegern und liebenden Buschnegerinnen.

Auch Thomas Muir tritt in den Memoiren auf, der schottische Menschenrechtler; Muir flüchtete auf einen Schoner, den George Washington eigens zu Muirs Befreiung nach der Sträflingskolonie gesandt hatte; dem amerikanischen Schiff gelang es, mit Thomas Muir die hohe See zu erreichen, aber auf der Weiterfahrt wurde es von 205 Spaniern gekapert, und die spanische Krone bot der englischen an, ihr den Rebellen gegen Rückgabe dreier spanischer Kriegsschiffe auszuliefern.

Die Barringtonschen Memoiren als Bädecker zu verwenden, mit ihrer Hilfe die Genesis Sydneys erkennen zu wollen, ist wochentags ein beschwerliches Beginnen. Am Abend des Gedenktages jedoch, da unser Weg auf Schritt und Tritt von heimkehrenden Gruppen blockiert wird, verschwimmt das Straßenbild von heute mit dem von damals. Hinter den flammenden Fassaden scheint sich dunkles Gestrüpp zu ranken, in dem aneinandergeschmiedete Männer aus dem Schlaf stöhnen. Wankt dort nicht eine Gruppe, eben aus der Haft auf sturmgepeitschter See entlassen, in die Haft auf dem Land? Macht sich nicht dort ein trunkener Matrose am Haus eines Siedlers zu schaffen, dessen Frau als Gefangene herüberkam und auf der Überfahrt als Seemannsliebchen dienen mußte? Weht dort nicht ein Gehängter auf dem Giebel des Gerüstes? Von fernher tönen schrille Schreie, ist das nicht Kriegslärm der Buschmänner?

Nein. Das alles ist vorbei. Sydney ist eine Weltstadt geworden, und Parramatta, der spätere Aufenthaltsort Barringtons, immerhin ein modernes Städtchen. Nach Parramatta, also tiefer ins Land hinein, hatte Gouverneur Phillip seinen Amtssitz während der englisch-französischen Kriege verlegt, weil er eine Überrumpelung durch feindliche Schiffe erwartete. Die kamen nicht, sie fürchteten den Widerstand der starken Männer, mit denen die Kolonie besiedelt war.

Diese starken Männer, die Australien vor dem Versuch einer französischen Okkupation bewahrten, waren die Sträflinge. 27.294 Bewohner zählte die Kolonie am Ende der 206 napoleonischen Kriege; davon waren 40 Prozent Sträflinge, 25 Prozent Ex-Sträflinge, 30 Prozent Frauen und Kinder, und nur 5 Prozent freie Siedler und Wächter. Von 1788 bis 1840 wurden jährlich dreitausend englische Strafgefangene an der Küste von Neusüdwales und Queensland ausgebootet, die Transporte nach Tasmanien dauerten bis 1853, nach Westaustralien bis 1868.

Aber die im Weltkrieg nach Europa gezogenen australischen Soldaten nannten sich »Diggers«, um darzutun, daß sie nicht von der ersten Art der Einwanderer, sondern von der zweiten abstammten, nämlich von den Männern, die im Goldrausch der Fünfzigerjahre nach Australien trampten und, o Schrecken, größtenteils nicht einmal britischen Geblüts waren. Von denen herzurühren, dünkte ihnen ehrenvoller, als von den »Convicts«.

Selbst heute, am 26. Januar, dem Tag, an dem sie landeten und den jahrelangen Kampf gegen alle Unbill aufnahmen, gedenkt der Enkel der Ahnen nicht, die – nicht sterilisiert und nicht kastriert – das beste geschaffen haben, was Ahnen schaffen können: eine gute Nachkommenschaft. 207

 


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