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Ein Königsmord hat sich begeben, Alexander II. von Serbien, vorgestern als Gast nach Frankreich gekommen, wurde bei seinem Einzug in Marseille erschossen. Nicht nur er; der französische Außenminister Barthou saß neben dem König im Wagen und fand gleichfalls den Tod.
Der Attentäter wurde niedergesäbelt, in seinen Taschen war ein tschechoslowakischer Paß. Auch Komplizen, die mit ihm im Hotel gewohnt, hatten dort tschechoslowakische Pässe vorgewiesen.
Razzien auf Tschechoslowaken und Jugoslawen; 418 wurden allein in Marseille der Präfektur vorgeführt, in Paris mehr als 300. Die Ausfahrtstationen der französischen Bahnlinien und die Häfen stehen unter Bewachung . . .
Hell lodert die Aufregung überall in der Welt, insbesondere in Frankreich, insbesondere in Marseille. Die Stelle der Tat ist umlagert; im Mittelpunkt des Menschenkreises wird jeder gegen jeden gedrängt, die dahinter heben sich auf die Zehenspitzen, um eine Spur der Lache zu sehen: Königsblut, Ministerblut, Attentäterblut.
Plakate der »Action Française« und anderer faschistischer Verbände schreien, die Fremden seien schuld, sie, die unwillkommenen Gäste Frankreichs, meucheln die 8 willkommenen; nieder mit den roten Vaterlandsverrätern, den Agenten Moskaus, hinaus mit den Fremden.
Plakate der Antifaschisten antworten: der Wagen des Königs war ungeschützt, wie vor drei Jahren der Präsident der Republik ungeschützt geblieben war. Damals beschuldigte man die Bolschewiken, Doumer umgebracht zu haben. Daß der Täter ein Weißgardist war und sich an Frankreich rächen wollte, weil es keinen Krieg gegen das rote Rußland führe, änderte nichts am einsetzenden Terror gegen links. So soll es diesmal wieder gemacht werden.
Überall stehen diskutierende, streitende Gruppen, vor jenen Häusern, in die Polizisten eingedrungen sind, wartet die Menge.
Durch dieses entfesselte, argwöhnische Marseille geht ein Mann, und ihm ist keineswegs sehr wohl zumute. Er geht vom Bahnhof zum Kai der P. and O. Company, er möchte heute aus Frankreich abreisen, sein Paß ist ein tschechoslowakischer; er ist weder Monarchist noch Faschist; im Gegenteil. Wird das Schiff ihn aufnehmen, wird es?
Das Schiff nimmt ihn auf. Um Mitternacht soll es in See stechen, aber das steht nur auf dem Fahrplan. Wenn sich die Taue lösen, schlafen auch die abergläubischesten Passagiere und merken nicht, daß sie an einem Dreizehnten abgefahren sind . . . am Samstag, den 13. Oktober 1934, um fünf Uhr Morgens.
Dem Mann mit dem tschechoslowakischen Paß ist das gleichgültig; er freut sich, von Europa abzuschwimmen. Jetzt weiß er eine lange Pause vor sich, ehe er in eine neue Gefahrenzone geraten wird.
Nichts liegt uns ferner, als den Leser auf falsche Fährte führen zu wollen. Deshalb sagen wir gleich, daß der Mann 9 nichts zu tun hat mit dem Attentat auf König Alexander und Minister Barthou.
Dennoch haben wir uns mehr mit dem Mann zu befassen, als uns und ihm lieb ist. Uns: das sind wir, die wir dieses Buch schreiben, der Mann ist dieses Buches Held. »Der Held«, – da ist das Wort, das wir gerne vermieden hätten, obwohl wir es natürlich nicht im Sinn von Heros, sondern im Sinn von »literarische Figur« verwenden. Wir wollen den Mann, mit dem wir uns zu befassen haben, in keinem Sinn als Helden hinstellen, aber wir können, so angenehm das wäre, ihn im gegebenen Fall nicht zum Gegenteil stempeln. Denn er steht uns nahe, landsmannschaftlich, gesinnungsmäßig und so weiter; wir solidarisieren, ja, wir identifizieren uns geradezu mit ihm.
Auch dem Mann ist es, wie gesagt, unangenehm, daß man sich mit ihm befaßt. Wenn er es selbst tun, die ihm vorläufig noch bevorstehenden Abenteuer nachstehend beschreiben müßte, er würde sicherlich ebenso tief Atem holen, einen genau so langen Anlauf nehmen, wie wir es getan.
Da ist die »Strathaird«, ein Electric Liner von 22.500 Tonnen; ein großes Schiff; ein noch größeres wäre nicht mehr imstande, den Suezkanal zu passieren.
»Was bedeutet der Name ›Strathaird‹?« fragt unser Mann einen Kabinennachbar. Der ist zufällig ein Schotte (der Zufall ist nicht groß, da fast alle Passagiere entweder Schotten oder Irländer oder Engländer sind) und antwortet, Strathaird sei eine Landschaft in Schottland, eine andere sei Strathnaver, und nach dieser heiße das Schwesterschiff. »In Strathnaver und in Strathaird wird noch gälisch gesprochen, eine Abart des Keltischen, aber nicht die gleiche wie in Irland, sondern scotch-gaelic . . .« 10
»Sehr interessant«, sagt unser Mann, denn ihn interessiert Keltisch nicht im geringsten, geschweige denn die Tatsache, daß es Unterabteilungen davon gibt.
Wir allerdings, wir reiben uns die Hände . . . Warte nur, mein Junge, du wirst dich noch für Schottisch-Gälisch interessieren! Aber wir wollen künftige Ereignisse nicht vorwegnehmen, ebensowenig dem Leser etwas verraten, wie dem Mann, der gelangweilt zu seinem Nachbar sagt: »Sehr interessant.«
In sehr weite Fernen fährt die »Strathaird«, zum südöstlichen Viertel des Globus. Demgemäß »spielt sie alle Stückln«, wie man in Österreich sagt, und die Passagiere sind erfahren in der Kunst des Weltreisens.
Sie betreiben Deck-Tennis, als hätten sie auch zu Hause nie etwas anderes betrieben, sie bereiten ein Turnier vor, wählen ein Sportkomitee, schwingen die Golfschläger, daß es eine Art hat, sie schleudern die Seilringe (Deck-Coyts) aus zehn Meter Entfernung just in das Ziel, sie sind smarte Kenner aller Whisky-Sorten, sie schöpfen Eimer mit Süßwasser für das Abspülen nach dem Wannenbad im Salzwasser. Am Abend wird getanzt. Nach jedem Tanz packen die Smokings einander bei der Hand, schließen einen Kreis und drehen sich zum Klang einer immer gleichen Melodie, ringelringelreihe, um den inneren Kreis der Abendtoiletten solange, bis das Tradararattattatta abbricht; dann bleiben alle jäh stehen, und jeder Smoking hat mit der Abendtoilette, vor der er sich befindet, den nächsten Tanz zu tanzen.
Man unterhält sich über Kalkutta, Bombay, Peschawar, Lahore oder Ceylon. Man hat gemeinsame Bekannte dort, fragt und informiert einander. Zufällige Gesprächspartner 11 entpuppen sich als Landsleute aus der gleichen englischen Grafschaft, und erfahren nun, daß sie im gleichen Distrikt in Indien lebten und es nicht wußten. Erst jetzt lernen sie einander kennen, welch' eine Wendung durch Gottes Fügung, »let's have a drink – drauf trinken wir eins«.
Sogar der griechische Schuster, der nur griechisch spricht und nur griechische Buchstaben, also kein englisches Wort lesen kann, sogar er ist britischer Untertan, denn er stammt aus Malta. Ausländer sind nur vier Italiener, die Meister im Shuffle Board-Sport; einer von ihnen trägt manchmal ein Schwarzhemd.
Kein britischer Untertan ist ferner der Mann, mit dem wir uns zu befassen haben. Niemals ergibt sich aus einem Gespräch, daß er ein Landsmann der Gesprächspartner ist, welcher Grafschaft auch immer sie entsprossen sein mögen; er hat keine gemeinsamen Bekannten mit ihnen, weder im Pundschab noch in Bombay, weder in Haiderabad noch in Kalkutta; er ist ein blutiger Anfänger im Deck-Tennis, im Shuffle Board, im Schiffs-Golf, im Kricket, er trinkt keinen Whisky, denn er hat kein Geld, und er besitzt, shocking, nicht einmal einen Smoking, lebt also als Außenseiter der Gesellschaft.
Nur die Kinder sind mit ihm befreundet, weil er Taschenspielerkünste kann, und ein fünfjähriger Freund kommt zu ihm: »Du, erzähl mir manches über den Tod des serbischen Königs, bitte.« – »Was? Wie kommst du darauf?« – »Als du vorhin vorbeigegangen bist, hat Papa zu Mama gesagt, der könnte sicherlich manches über den Tod des serbischen Königs erzählen.«
Unseren Mann stören die Ansichten der Mitpassagiere 12 wenig, er ist froh, an Bord zu sein und nach Australien zu fahren. (Er fährt nämlich nach Australien.)
Vorläufig ist er noch weit, sehr weit vom Ziel. Die »Strathaird« passiert eben die Bonifatiusstraße, rechter Hand liegt Sardinien, linker Hand Korsika. Mitten im Wege steht ein rauchendes Zelt. Näherkommend erkennen die Passagiere, daß es ein Berg ist; ungeniert pafft er, der Stromboli, ihnen den Rauch ins Gesicht. Im Felseninnern wirken der Gott der Winde und der Gott des Feuers. Altrenommiert, die Firma »Aeolus & Vulkan«, aber längst nicht mehr konkurrenzfähig; in einer einzigen Halle jedes neuzeitlichen Rüstungsbetriebes wäre der ganze Stromboli bequem unterzubringen, und die modernen Giftgasanlagen und Winderhitzer würden die Aeolus'schen Blasebälge davonpusten wie nichts. Immerhin raucht der Schornstein noch, und die Passagiere knipsen die überholte Waffenschmiede.
Dagegen läßt man die Liparischen Inseln links liegen, sie erwecken keinerlei Interesse; dort hält Mussolini seit zehn Jahren Sozialisten und Antifaschisten gefangen.
*
Noch vor vier Tagen saß unser Mann in einem oktoberkalten Nest an Frankreichs Nordküste, und schrieb über etwas aus dem achtzehnten Jahrhundert. Da traf ein Telegramm von Henri Barbusse ein, »könnten Sie sofort nach Paris kommen?« In Paris wurde unser Mann gefragt, ob er als Delegierter des Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus zum Antikriegskongreß nach Melbourne fahren wolle.
Wann? 13
»Morgen abend nach Marseille, übermorgen von Marseille nach Australien, aber nicht mit dem Schiff bis Melbourne, da kämen Sie zu spät zum Kongreß. Von Fremantle, dem ersten australischen Hafen, nehmen Sie die Bahn nach Melbourne, das kostet 12 englische Pfund; die Schiffskarte macht etwa 80 Pfund, Touristenkarte hin und zurück. Reisegeld haben die Australier telegrafisch geschickt, allerdings . . .«
Allerdings?
»Allerdings haben sie's nach England gekabelt, weil das billiger ist, und London wird es mit uns verrechnen. Wir sollen es vorläufig auslegen.«
Könnt Ihr es auslegen?
»Wir müssen, die Australier haben doch das Geld geschickt. Morgen kriegen Sie von uns das Geld.«
Ja, aber . . .
»Aber? Was: aber? Wollen Sie nicht fahren? Wir haben gedacht, Sie werden begeistert sein.«
Bin ich auch. Aber die Sache hat einen Haken: ich bin aus England ausgewiesen.
»Steht das in Ihrem Paß?«
Es stand darin, jetzt habe ich einen neuen.
»Nun, wunderbar, da können Sie also fahren.«
Soll ich nicht vorher beim britischen Konsulat fragen, ob keine Schwierigkeiten bestehen? Es wäre doch sinnlos, eine Weltreise zu machen und dann nicht landen zu dürfen.
»Sie werden schon landen.«
Wär's nicht sicherer, statt meiner ein unbeschriebenes Blatt zu schicken?
»Unsinn! Einen anderen stoppt man auch. Delegierte zu Kongressen gegen Krieg und Faschismus stoppt man immer. 14 Dafür sorgen schon die Hitler-Diplomaten im betreffenden Land.«
Also werde ich doppelt gestoppt?
»Vielleicht. Aber Sie kommen hinein.«
Gott erhalte euch euren Glauben.
»Gut. Und jetzt fahren Sie zu Cook.«
Im Reisebüro wußte man nicht, ob noch ein Platz auf der »Strathaird« verfügbar sei, – »Jahrhundertfeier in Melbourne, Sie wissen?«
Natürlich wisse er das, antwortete unser Mann, selbstverständlich, of course, naturellement, deshalb wolle er ja nach Australien, gerade wegen der Jahrhundertfeier.
Cook fragte telefonisch in Marseille an, es war noch ein Platz in einer vierbettigen Kabine frei, Preis für Hin- und Rückfahrt 78 Pfund Sterling. »Sollen wir den reservieren?«
Ja.
»Das ist gleich zu bezahlen.«
Unser Mann hat, rein zufällig, nicht so viel Geld bei sich.
»Eine Anzahlung genügt.«
Unser Mann hat, rein zufällig, überhaupt kein Geld bei sich. Ob es nicht bis morgen Zeit habe?
»Ohne Garantie.«
Unser Mann erkundigt sich, ob ein Einreisevisum erforderlich sei. Nein, erfährt er, Tschechoslowaken mit Rückfahrkarte brauchen kein Visum.
Demnach fehlt nur noch das Fahrgeld. 176 Franken bis Marseille, 78 Pfund Sterling bis zur australischen Westspitze, 12 Pfund von dort nach Melbourne. Und etwas für Wegzehrung, schließlich dauert allein die Fahrt fünf 15 Wochen, – und wenn man nicht von Bord dürfte, würde die Rückreise nicht wieder fünf Wochen dauern, sondern zehn: das Schiff dreht ja nicht sofort um, es segelt über Australien hinaus nach Neuseeland. Vorsorglich hat unser Mann im Fahrplan nachgeschlagen; erst am 4. Januar des nächsten Jahres kehrt die »Strathaird« nach Marseille zurück.
Genau 22 französische Franken und 25 Centimes hat unser Mann im Barvermögen. Daß das nicht für eine Reise zu den Antipoden reicht, ist klar. Aber morgen wird er Geld bekommen.
Morgen ist ein schlimmer Tag. Mord, Königsmord, Ministermord, schreien die Zeitungsköpfe, Mord, Mord, murmelt man überall. Fort mit den Methèques, den Ausländern!
Unser Mann muß, bevor er am nächsten Tag sein Hotel verläßt, zwei wißbegierigen Besuchern darüber Rede stehen, warum er in Frankreich lebe, wieso er Tschechoslowake sei, ob er Jugoslawen kenne oder sonst verdächtige Leute. Solche kennt er nicht; er darf gehen. In Paris ist die Hölle los, Haussuchungen, Razzien auf politische Emigranten, Verhaftungen, Interventionen.
Im Komitee erfährt er, man habe bisher nur einen Teil des Reisegeldes aufgetrieben, nur so viel, wie für Paris–Marseille und die Schiffskarte reicht, nicht auch für die Eisenbahnfahrt quer über das australische Festland. »Aber das bringt Ihnen heute abend Freund Ulrich auf die Bahn.«
Bei Cook hört unser Mann, es sei doch ein Visum nötig. »Unerhört«, schreit er, »wußten Sie das gestern nicht?« So lange macht er Krach, bis man an das britische Generalkonsulat telefoniert: »Hallo, hier spricht Cook, hören 16 Sie, bitte, bei uns ist ein Gentleman, der infolge unseres Irrtums sein Visum für Australien nicht angefordert hat; wollen Sie es ihm, bitte, gleich ausstellen, er fährt heute abend zum Centenary.«
Der Generalkonsul hat die Schwarze Liste – unser Mann kennt sie gut – links am Schreibtisch liegen. »Sie sind der Gentleman, der uns von Cook avisiert ist?« sagt er und drückt einen Stempel in den Paß.
British Passport Control
P a r i s
Date: 11. 10. 1935, Nr. 51853
Visa for Australia
gez.: C. E. Collinson
Good for any numbers of journeys within
twelve months from date hereof.
Temporary visitor.
Noch ein Weg zur Bibliothek der geographischen Gesellschaft und Rückweg mit einem Koffer voll Bücher. So lange unser Mann fern von Frankreich weilen wird, gibt es dort keine Literatur über Australien.
Abends, Gare de Lyon. Freund Ulrich, der das Geld bringen soll, ist noch nicht da. Zum Glück ist jemand mitgekommen, der kann 1000 Franken leihen, das wird für die Strecke Fremantle-Melbourne reichen.
Freund Ulrich ist nicht zu sehen, und unser Mann sagt: »Dabei ist er doch sonst so zuverlässig. Zum erstenmal läßt er mich im Stich.«
Freund Ulrich aber war da, er wußte nicht, daß zwei Züge ungefähr gleichzeitig marseillewärts abgehen, wartete 17 auf dem anderen Bahnsteig, und meldete am nächsten Tag dem Komitee, daß der Delegierte nicht abgefahren sei. »Dabei ist er doch sonst so zuverlässig. Zum erstenmal läßt er uns im Stich.«
Freund Ulrich erfährt bald, daß er im Irrtum war. Unser Mann wird das noch lange nicht erfahren.
*
Weil unser Mann als letzter an Bord kam, steht sein Name nicht auf der Passagierliste. Alle anderen, die das gesellschaftliche Leben und Treiben an Bord bewerkstelligen, sind auf der Liste gedruckt, samt Herkunft und Reiseziel. Besagtes gesellschaftliches Leben und Treiben beginnt allmorgendlich mit einem Sturm auf die Rasierbecken im Waschraum und auf die Badewannen.
Die Damen huschen den Weg zum Waschraum mehr oder minder rasch, je nachdem ob es ihnen wichtiger ist, das noch ungeschminkte, ungepuderte Gesicht zu verbergen oder den grellseidenen Kimono zu zeigen. Beim Breakfast sind sie von anderen Gesichtspunkten aus gedreßt, die mit behaarten oder dicken Beinen ziehen die langen, geschweiften Strandhosen den Shorts vor. Wer von den Damen über die Springschnur hopst, tut es, um sich niedlich zu machen, oder aus Entfettungsgründen, die Sittsamen stricken Jumper oder besticken Seide. Kreuzworträtsel werden zu lösen versucht, und wenn jemand mit dem Bleistift in der Hand auf unseren Mann zukommt, so antwortet er »Heine«, bevor noch die Frage gestellt wird, welcher deutsche Dichter fünf Buchstaben hat. Würdige Männer und Frauen studieren unausgesetzt die Schiffsliste, obwohl an der 18 Schiffsliste nur eines interessant ist, nämlich: was daran interessant sein kann. Aber vielleicht ist es Neid, wenn unser Mann so denkt, Neid, weil er, der Letzangekommene, als Einziger nicht darin steht.
Die Stiefelspitze der Apenninen-Halbinsel glänzt frisch gewichst, und der Fußball Sizilien, in den sie kickt, ist blankes Chromleder. Zwischen Ball und Tritt schlüpft das Schiff hindurch wie zwischen Skylla und Charybdis, ein abgebrauchter Vergleich, fürwahr, aber er ist an seinem Ort, denn hier war es, wo die Ungetüme Skylla und Charybdis einander gegenüberwohnten.
Am Sonntagabend singt man im Salon fromme Choräle. »Fein«, rufen die Damen entzückt, wenn der Geistliche ankündigt, welches Lied jetzt angestimmt wird. Nachher wackeln sie zum Klang der Jazzband, der durch drahtlose Kanäle aus der Ersten Klasse herabfließt. Welche Metamorphosen, beim Gottesdienst waren sie dezent gekleidet, tagsüber bewegten sie sich im klaffenden Schlafrock, im Schwimmkostüm oder in Hosen, und nachts verbirgt das lange Abendkleid züchtig selbst den Knöchel des Beins, das jeder aufs Haar genau kennt.
1204 Passagiere sind an Bord, darunter der Erzbischof von Bombay, der Lordbischof von Madras, viele Nonnen, die nach Indien gehen, und etliche hohe Offiziere. Es wäre respektlos zu glauben, daß die etwa Tourist-Class fahren. (Die Nonnen allerdings.) Die Bemannung des Schiffs besteht aus 400 Mann. Offiziere und Matrosen sind englisch, englisch die Stewards, englisch die Pagen, sechzehn- bis achtzehnjährige, ausgesucht hübsche Burschen, ihre weißen Glacéhandschuhe sind wie Epauletten unter die Achselschnur geschoben. Unsagbar ausgemergelte 19 Inder, den Pugree, eine turbanartig umbänderte Schachtel auf dem Kopf, den Leib gürtet eine violette Schärpe, waschen und schrubben barfüßig, ohne Pause, das Deck.
Die Radio-News melden: Poincaré gestorben; die Kroaten haben ihre Opposition an der Bahre König Alexanders liquidiert; Widerstand der protestantischen Kirche gegen Reichsbischof Müller.
Am Kai von Port Said legt die »Strathaird« an. Port Said, Wechselbalg dreier Kontinente! Bettel, Kinderprostitution, Handel mit Kantharidin und anderen in Europa verbotenen Reizmitteln, Münzentaucher, Gaukler. Durch den Suezkanal fährt die »Strathaird« aus Europa hinaus.
Nächste Haltestelle: Port Sudan. Beinschwarzes Afrika trotz der modernen Lagerhäuser und der britischen Soldaten, deren Zahl in den letzten Wochen vervielfacht ist, weil man einen Überfall Mussolinis auf Abessinien befürchtet. Ist doch das Rote Meer der flüssige Balkan – Kriegsherd seit Olims Zeiten. Rotes Seegras schwimmt darin, davon hat das Gewässer seinen Namen, nicht von dem Blut, das hier so oft geflossen.
Nachmittags ein Kinderfest an Bord. Die Kleinen, herausstaffiert, trippeln mit scheuen und ängstlichen Blicken die Polonaise. Den Preis für das originellste Kostüm bekommt ein Junge in blauem, absichtlich zerrissenem Leinenkittel, benäht mit leeren Streichholzschachteln und abgebrannten Streichhölzern, die sich nicht mehr streichen (strike) lassen. Um den Hals trägt er die Inschrift: »Britischer Arbeitsmann. Kein Streik mehr!« Mußte ihm für diese verheißungsvolle Devise nicht der erste Preis zuerkannt werden? 20
Ohne Schatten, ohne Wasser, ohne Pflanze, ohne Farbe ist Aden, in und auf eines Vulkans Krater hingestellt als Grabmal für Kain. Die Glut dringt aus den Gassen der Stadt über die Wellen des Meers, ist stärker als der kühle Atem des Wassers.
Beklemmend heiß ist es auf dem Promenadedeck der »Strathaird«, da unten aber, vier Stockwerke tiefer, wo die Passagiere der Tourist-Class zu viert in einem Kabinenloch hausen, da unten aber ist's fürchterlich. Deshalb schleichen die Tourists die ganze Nacht, ein Kissen unter dem Arm, in höheren Regionen umher; sie versuchen bald im Liegestuhl auf Deck, bald auf dem Parkett des Rauchzimmers zu schlafen, meist vergeblich. Man verträgt keine Decke, nicht einmal eine leinene.
Schon der Badeanzug, den man tagsüber trägt, ist wie ein Pelzmantel. Nichtsdestoweniger schwitzt man über der Frage, was man zum Kostümball der Erwachsenen anziehen soll. Eine ältere Dame erscheint im russischen Nationalkostüm, auf ihr zu Zöpfen geflochtenes Haar drückt eine Brautkrone, Perlen umringen den Stromlinienbusen. Schwer hat sie zu schleppen, aber ohne Schweiß kein Preis, und sie kriegt ihn, dieweil das Orchester »Wolga, Wolga« seufzt.
Auch die Betätigung der Liebe wird von der Hitze nicht behindert. »Wollen wir uns ein wenig das Kreuz des Südens anschauen?« lautet die Formel, mit der ein Gentleman die Partnerin zum Aufsuchen diesbezüglich geeigneter Örtlichkeiten auffordert; dann führt er sie aufs Dog-Deck oder in die Wäschekammer, wo es noch dunkler ist und man nicht einmal das Kreuz des Südens sieht. Was macht das, auch Dante erschaute dieses Sternbild nie und 21 dennoch singt er, es habe ihm auf seiner Wanderung aus der Höllenfratzennacht ins Fegefeuer geleuchtet:
»Dann rechts, dem andern Pole zugekehrt,
Erblickt ich eines Viergestirnes Schimmer,
Dess' Anblick nur dem ersten Paar gewährt.
Der Himmel schien entzückt durch sein Geflimmer.
O, du verwaistes Land, du öder Nord,
Du siehst den Glanz der schönen Lichter nimmer!«
Tröste dich, Leser aus dem verwaisten Land, dem öden Nord, das Kreuz des Südens ist zwar herrlich, aber um nichts herrlicher als die Lichter auf der Himmelsdecke über dir.
Zwischen Aden und Bombay macht das Schiff keine Station. Wer nach Indien will, bereitet sich aufs Aussteigen vor, man plättet, man packt, füllt Scheine aus. All dieser Eifer wird von jenen, die nach Ozeanien segeln, belächelt. Sie haben schon längst die Indienpassagiere »Wochenendausflügler« getauft.
Mehr als zwei Drittel der Fahrgäste landen in Bombay, die farbige Mannschaft wird abgeheuert, neue Inder treten an ihre Stelle. Den Weiterfahrenden bleibt ein Tag, um an Land zu gehen, nein, nur ein halber Tag, noch weniger: neun Stunden. Aber die Lichtverhältnisse gestatten es, bis spät abends zu knipsen und Belegstücke nach Hause zu tragen, auf Grund derer man ein Leben lang Entscheidendes über Land und Leute in Indien aussagen kann.
Von Bombay an hat das Schiff einen anderen Charakter. Weg sind die toilettenwechselnden Damen, weg die »Salary-Lords« (Erklärung für den deutschen Leser: 22 »Gehaltsgrafen«), weg die Smokings (Erklärung für den englischen Leser: »dinnerjackets«).
Die Neuen, meist Australier, benehmen sich ungezwungen, sprechen noch ungezwungener, trinken Tee zu jedem Gang, sogar zur Suppe, sind gefällig und kameradschaftlich. Eine Gruppe angsteinflößender Riesen hat australische Ponnies zur Armee nach Indien gebracht, wo die Pferdchen lernen werden, Polo zu spielen und Kanonen zu ziehen. Ponnylos und pennylos kehren die Männer in die Heimat zurück, wer aber noch nicht den ganzen Lohn in den Schenken von Kalkutta gelassen hat, vertrinkt ihn jetzt an der Bar des Rauchzimmers.
Ungeniert gehen die Passagiere in Hemdärmeln, ob sie nun Hosenträger haben oder weder Hosenträger noch Gürtel. In den seltenen Fällen, da sie einen Rock anziehen, ist dieser mit dem Abzeichen der »Anzacs« geschmückt. Leicht läßt sich eruieren, daß »Anzac« die Anfangsbuchstaben von »Australian and New Zealand Army Corps« sind; die »Anzacs« kämpften im Weltkrieg auf Gallipolli und später in Waipers.
Was aber ist Waipers? Waipers liege in Belgien, antworten die Befragten, in Waipers hätten sich die größten Schlachten abgespielt. Waipers?, grübelt unser Mann noch nachts in seiner Kabine, Waipers?, und kann nicht einschlafen. Er kommt nicht darauf, daß Ypern gemeint ist, Ypres.
Außer den Australiern und den vier Italienern sind etwa zwanzig dunkelhäutige Passagiere an Bord, Tamilen aus Ceylon. Scheu halten sie sich beieinander und von den anderen fern. Bis Ende Oktober haben sie auf Teeplantagen des indischen Festlands gearbeitet, inzwischen pflückten 23 auf der Insel Ceylon Inder vom indischen Festland den Tee, weil sich überall Fremde leichter ausbeuten lassen als Einheimische.
Unser Mann sitzt im Schreibzimmer, um sein Referat für den Kongreß vorzubereiten, in des Königs Englisch die Probleme des Krieges und des Faschismus darzulegen, Sätze aus jenen Vokabeln aufzubauen, die er beherrscht. Diese Abhängigkeit und Begrenztheit des Ausdrucks behagt ihm gar nicht. Gern möchte er seinen englischen Sprachschatz vergrößern, aber man spricht jetzt nur noch australisch um ihn her. Was er zulernt, ist:
daß man vor jedem Hauptwort und vor jedem Zeitwort sowie vor jedem Eigenschaftswort das Wort »bloody« einfügt,
daß ein Stuhl ein beischläfriger Bastard und schlechtes Bier eine korrekte Kuh (a fair cow) genannt werden kann,
daß ein Mann ein »bloke« ist,
daß zwar ein Engländer ein richtiger Englishman, ein richtiger Australier jedoch ein dinky-die-Aussie ist,
daß man Gespräche mit Goodo abschließt.
Ohne besondere Bereicherung seines Sprachschatzes und deshalb ohne schriftstellerische Befriedigung entwirft er sein Referat. Wahrscheinlich, so denkt er, ist die Arbeit ohnehin vergeblich, wahrscheinlich werden die Landungsbehörden das Manuskript konfiszieren und den Verfasser wegen Beleidigung eines Staatsoberhauptes anklagen. Aus diesem Grund nennt er in seinem Manuskript den blutigen bloke nur mit dem Anfangsbuchstaben, streicht aber dann auch das H. fort und setzt ein X. hin. Wen aber, denkt er, wen kann ich damit täuschen? Niemand anderer als H. kann mit dem blutigen bloke gemeint sein. 24
Den Westschenkel des Dreiecks Indien entlang rutscht das Schiff. Abends nach zehn Uhr, nachdem abserviert und sauber gemacht ist, stehen die Dining-Stewards, so müde sie sein mögen und so wenig vom Ufer sich im Dämmer erkennen läßt, auf dem Hinterdeck und werfen den Blick hinüber, machen ihn an ihrer dunklen Heimat fest, als wäre er ein Seil.
Unser Mann kommt mit einem von ihnen ins Gespräch, einem Burschen mit klarer Stirn. Der sieht sich ängstlich um, – obwohl seine Staatsangehörigkeit und seine Muttersprache portugiesisch sind und seine Religion katholisch, soll ihn niemand dabei ertappen, daß er es wagt, mit einem Europäer zu sprechen. Seine Stimme senkt sich zum Flüsterton: »Haben Sie nicht zufällig ein portugiesisches Buch? Ich lese so gern.« Er habe die Missionsschule besucht, erzählt er, wie gern hätte er studiert, aber das Geld reichte nicht, es gäbe viel Hunger in Goa. »Sie würden nicht glauben, wie viel Hunger es in Goa gibt.«
Doch, ich glaube es, lieber Steward, Hunger gibt es überall in der Welt; welch einen Jammer haben wir vor einer Woche in den Straßen von Bombay gesehen. »Gewiß,« sagt der Goanese, »gewiß. Aber wir sind doch Christen, wir sollten nicht Hunger leiden müssen wie Hindus.« Stolz weist er auf einen viereckigen Berg: »Dort drüben liegt der heilige Franciscus Xaverus begraben, mein Schutzpatron.«
Da unser Mann mehr über das Grab wissen will, gesteht der indische Christ traurig, es sei nicht mehr viel von dem Heiligen vorhanden, jedes Schiff der christlichen Seefahrt habe ein Stück der Reliquie davongetragen.
Wie soll's da den Lebenden ergehen, denen, die nicht einmal heilig sind? 25
Der junge Goanese nickt und starrt hinüber auf den Streifen seiner Heimat, der man alles genommen, sogar einen heiligen Leichnam.
Im doppelten Licht zweier Morgensonnen, die eine wirft ihre Strahlen vom Meeresgrund empor, kommt die malabarische Küste in Sicht. Genau so mögen damals zwei Sonnen das Gelände und die Gewässer bestrahlt haben, damals, als die Inder hier zum erstenmal Menschen mit heller Haut erblickten.
Der Führer der weißen Männer hieß Vasco de Gama, die Christenheit schrieb das Jahr 1498, der Wind hatte ihn vom Kap der Guten Hoffnung hierher navigiert, in Calicut landete er, wurde freundlich aufgenommen und bei der Abfahrt mit Geschenken überhäuft. Deshalb kehrte er wieder, um die Gastgeber zu unterjochen.
Immer noch zieht die »Strathaird« die Parallele zur Dreieckseite; die Fläche des Dreiecks selbst ist von Landesgrenzen durchschnitten. Ein Staat heißt Kochin, die Elephantiasis grassiert dort und verwandelt die Bewohner in unförmige Wülste. Ein anderer Staat heißt Travancore, seine Briefmarken, vor allem die dunkelgrüne Vier-Chuckram, kennt und schätzt jeder europäische Sammler, kaum jemand kennt und schätzt die viereinhalb Millionen Einwohner, die in vierhundert Kasten zerfallen, nicht gerechnet die schwarzen Juden, deren Herkunft noch dunkler ist als sie selbst.
Zwischen die Felsenrücken von Allepi schieben sich Faktoreien zur Erzeugung von Kokosöl und Kokosmatten. Warum sind die Schlote so hoch? Will man die Luft zwischen Fels und Meer nicht verräuchern? Oder will der Fabriksherr von Allepi den Schiffen zeigen, daß er seinen Rauchfang 26 so hoch tragen kann, wie jeder Fabriksherr in Europa?
Bei Cap Comorin streift die »Strathaird« endlich den Scheitelpunkt des indischen Dreiecks. Hernach kommt Colombo, wo man an Land gehen kann, hernach überfährt man den Äquator, und nun sei Schluß gemacht mit der Geographie.
Nirgends mehr wird die »Strathaird« anlegen, bevor sie Australien erreicht. Die dorthin Fahrenden müssen Landungsformulare ausfüllen, Kolonnen und Rubriken kreuzen sich, verfängliche Fragen mitunter, Zweck der Reise, ob man das Landungsgeld von 40 Pfund besitzt, Namen von Bekannten oder Verwandten in Australien, welchen politischen Ideen man anhängt und ähnliches mehr.
Von 40 Pfund Barschaft kann bei unserem Mann nicht die Rede sein, aber er hofft, daß das für Passagiere mit Rückreisebillett wohl nicht erforderlich ist. Verwandte und Bekannte in Australien hat er ebensowenig, aber er hofft, daß das für Besucher der Jahrhundertfeier von Melbourne wohl nicht erforderlich ist.
In den australischen Zeitungen, die er in Colombo gekauft hat, fand er nichts über den Antikriegskongreß, er weiß nicht einmal, in welchem Saal der Kongreß tagen wird. Was geschieht, wenn die Freunde nicht wissen, daß ein Delegierter mit der »Strathaird« in Fremantle landet und von dort mit der Bahn nach Melbourne weiterfährt? Was geschieht, wenn sie auf den Bahnhof kommen und ihn nicht erkennen?
Wir, unsichtbare Beobachter, könnten ihm die Antwort geben: du wirst in Fremantle nicht landen, also auch nicht die Bahn nach Melbourne nehmen. Schicksale ganz anderer 27 Art harren deiner, freue dich inzwischen deiner Beweglichkeit. Aber wir verraten nichts.
Kamerabewaffnet drängen sich die Passagiere backbord auf dem Deck, um den Leichnam der »Emden« zu schnappen. Die »Emden« bedeutet den Australiern fast so viel wie Gallipoli und »Waipers«, denn ihr Kreuzer, die »Sydney« war es, die den Kaperfahrten des deutschen Schlachtschiffes ein Ende bereitet hat. Hier, wo die »Emden« starb, liegt sie, 12 Grad südlicher Breite, 97 Grad östlicher Länge; man sieht ihre schrägen Masten am Rand eines kokosbestandenen Riffs. Zwar wollten wir nicht mehr von Geographie sprechen, aber die Geschichte dieses Archipels, vor dem die »Emden« verwest, können wir nicht verschweigen, weil sie so romantisch ist.
Kapitän Keeling von der Ostindischen Kompanie hat die Inselgruppe anno 1608 entdeckt und sie »Cocos-Islands« getauft. Der Name gab zu Mißverständnissen Anlaß. Es kamen zu viele Abenteurer hierher und wandten sich an die Insulaner mit der Frage: »Bitte schön, wo liegt hier der sagenhafte Schatz des Piraten Morgan vergraben?« Als sie erfuhren, daß die Kokos-Inseln der Morganschen Seeräuberbande ganz wo anders, und zwar im Karibischen Meer liegen, wurden die Besucher fuchsteufelswild, und man kann ihnen das nicht einmal übelnehmen, denn wer würde gern einen so weiten Weg vergeblich machen? Deshalb tragen jetzt die »Cocos-Islands« als Untertitel den Namen des Entdeckers: Keeling.
Nach jenem Keeling hatte zwei Jahrhunderte lang kein weißer Fuß die Inseln betreten. Erst 1825 kreuzte hier ein Captain Clumie Ross, das Grundstück gefiel ihm, und so kehrte er zwei Jahre später mit Frau, Kind, 28 Schwiegermutter und acht schottischen Matrosen hierher zurück, um ein Imperium zu gründen, klein, aber mein.
Man denke sich ihr Erstaunen: da saß schon einer. Er hieß Alexander Hare, war ein schiffbrüchiger Engländer, und führte ein traulich-treues Eheleben, zu welchem Behufe ihm vierzig malaiische Gattinnen zur Verfügung standen. Als die neuen Siedler kamen, kam es auch rasch zu seiner Vertreibung aus dem Paradies; jeder der Schotten entnahm fünf Ehefrauen aus Hares Harem, Capt. Ross wurde erblicher Herrscher, und seinen Nachkommen gehört der Archipel heute noch, wenn es auch als britisches Gebiet von Singapore aus verwaltet wird. Zwanzig Beamte des Seekabeldienstes leben auf den Keeling-Islands, jeder hat höchstens eine Frau, so hat sich binnen einem Jahrhundert hier alles verknappt!
Das Wrack der »Emden« bleibt zurück, es zerflattern die Wunschträume, zu denen die Geschichte vom Ehe-Idyll eines Europäers mit vierzig Malaiinnen Anlaß gegeben hat, und die »Strathaird« nähert sich dem australischen Kontinent und seinem Jubelfest. Schon seit fast 150 Jahren ist Australien von Weißen besiedelt, aber die Filial-Siedlung auf Port Phillip, die sich zur Millionenstadt Melbourne und zum Staat Victoria auswuchs, ist erst hundert Jahre alt, auf den Tag hundert Jahre.
Nicht nur die »Strathaird« bringt Gäste zur Jahrhundertfeier heran. Auf einem Schlachtschiff ist der Herzog von Gloucester, Sohn des Königs Georg V. von England, unterwegs; John Masefield, der die Jahrhunderte alte Würde eines Poeta laureatus am englischen Hof bekleidet, ist unterwegs; Sir Maurice Hankey, Chef des British Defence Committee, ist unterwegs, um sich diesen Teil des britischen Empire 29 vorzuknöpfen, weil der noch immer nicht die allgemeine Dienstpflicht hat; und Sir Baden-Powell ist unterwegs, um die Pfadkinder auf den Pfad künftiger Heldentode zu leiten; Feldmarschall Lord Milne ist unterwegs, dem die Organisierung der Zivilbevölkerung im Kriege obliegt; Sir John Cadman, Petroleumversorger der Armee, ist unterwegs; die Musikbanda der Britischen Grenadiere ist unterwegs.
Durch die Lüfte kommen gleichfalls Festgäste gesegelt, und die erregen weitaus das größte Interesse; allmorgendlich stürzten sich die Passagiere auf die Radiogramme, verschlangen die Nachrichten über Nennungen, Vorbereitungen und Schätzungen. Heute sind die Ergebnisse des Rekordflugs da: in zwei Tagen, 13 Stunden und 57 Minuten haben Black und Scott von London aus Australien erreicht!
Zwei Tage, 13 Stunden, 57 Minuten – etwa so weit hat es unser Mann noch nach Australien, und ist doch bereits vor vier Wochen in Europa gestartet. Sein Kongreßreferat ist niedergeschrieben, die australische Handbibliothek fast durchstudiert und exzerpiert. In dem ersten offiziellen Werk »The Commonwealth of Australia« von Bernh. R. Wise stieß unser Mann auf ein absonderliches Gesetz, mit dem man einen Ankömmling fernhalten kann, ohne ihm die Einreise zu verbieten, ihn verurteilen, ohne daß er etwas Strafbares begangen hat.
»Feuer, Feuer,« hätten wir ihm gern zugerufen, als er in dem Wise'schen Buch zu dieser Stelle gekommen war. »Feuer, Feuer,« wie man beim Kinderspiel ausruft, um das suchende Kind auf die Nähe des versteckten Gegenstands aufmerksam zu machen.
Diesem Gesetz zufolge darf bei der Landung jedermann einer Diktatprüfung (Dictation Test) aus irgendeiner 30 europäischen Sprache unterzogen werden; unser Mann las, die Sozialisten und andere Progressisten hätten dieses Gesetz im Entwurf bekämpft, weil es der jeweiligen Regierung eine Handhabe gegen die Einreise ihrer politischen Gegner biete.
Bei dieser Stelle nickte unser Mann, er machte sich also die Befürchtung der Radikalen zu eigen. Weiterlesend erfuhr er aber, daß die Opposition gegen das Gesetz unlogisch und lächerlich war:
»Nichtsdestoweniger und trotz einem ausdrücklichen Versprechen beharrten die Opponenten bei der Behauptung, weiße Einreisende könnten mit Hilfe dieses Gesetzes ausgesperrt werden, und es gelang ihnen, dieser übelwollenden Unrichtigkeit (to this mischievous falsehood) weitere Verbreitung zu verschaffen. In Wirklichkeit ist das von der Regierung dem Parlament gegebene Versprechen treuestens eingehalten worden, und von dem Tage an, da das Gesetz erlassen ward, bis zur heutigen Zeit (1908) ist keine einzige Person von weißer Rasse der Sprachprüfung unterzogen worden, noch ist je einer weißen Person mit Hinweis darauf die Einreise in das Commonwealth verweigert worden.« (Gesperrt von Bernh. R. Wise.)
Unser Mann, der bei Beginn der Lektüre die Absicht hatte, die Kunde von solch einem kuriosen Gesetz nach Europa zu bringen, ließ diese Absicht als unfair fallen, als er Schwarz auf Weiß sah, daß es nicht gehandhabt werde. Er strich das Exzerpt durch, aber siehe da, in einem neueren Werk, dem letzten, das er las, fand er: der Dictation Test wurde auch gegen Weiße angewandt, freilich nur gegen Paupers, Irrsinnige, Kranke, Prostituierte und Verbrecher. Einem Hochstapler aus Griechenland diktierte man sogar, damit er bei der Prüfung ganz 31 sicher durchfalle, die fünfzig Worte in – – gälischer Sprache. Amüsantes Detail, dachte unser Mann, und trug in sein Notizbuch ein: »Gaelic Test.« Mit diesen beiden Worten schlossen die Auszüge, die er sich an Bord machte.
Die Nacht vor Fremantle, dem Hafen der westaustralischen Hauptstadt Perth, die Nacht vom 5. auf den 6. November, schlief er nicht. Am Morgen brachte eine Barkasse die Post an Bord, für unseren Mann einen Brief und zwei Telegramme aus Australien. Der Brief war wohl mehr zum Vorweisen, denn als Mitteilung geschrieben, der Absender, ein Melbourner Kaufmann und Steuerzahler, verpflichtete sich darin, die Garantie für das Landungsgeld zu übernehmen, falls ein solches verlangt werden sollte.
Von den Telegrammen war das eine ein Gruß des Allaustralischen Komitees gegen Krieg und Faschismus, mit dem anderen lud die Melbourner Journalistenorganisation unseren Mann ein, am 12. November einen Vortrag über europäische Presseverhältnisse zu halten.
Im Erste Klasse-Salon werden die Pässe der aussteigenden Passagiere kontrolliert, unser Mann geht hinüber und erhält den Bescheid, zunächst würden die britischen Staatsangehörigen abgefertigt. So hätte er denn die Gelegenheit wahrnehmen können, sich in der Welt Erster Klasse umzusehen, in die ihm bislang der Zutritt verwehrt gewesen war. Am Tag vorher hätte er das auch sicherlich getan, heute zieht er es vor, seine Augen scharf auf das langersehnte Ufer einzustellen. Er schaut hinüber, sieht Holzlager, ein Monument, seltsame weißstämmige Bäume, vielleicht die australischen Kautschukbäume?, Hafenspeicher, Gasthöfe und . . . 32
Was bedeuten die Telegramme, fällt ihm ein, was bedeutet der Brief? Warum beeilt sich das Komitee so sehr mit der Begrüßung, warum lenkt es die Aufmerksamkeit auf den Delegierten, warum telegrafieren die Journalisten die Einladung, warum bietet sich der Melbourner Handelsherr zur Sicherstellung an?
Nun, vorläufig schaut unser Mann aufs Ufer, um es sich für alle Fälle einzuprägen, viele Holzlager, ein Monument, seltsame weißstämmige Bäume, vielleicht die australischen Kautschukbäume?, Hafenspeicher, Gasthöfe und . . .
Da schreiten zwei stattlich gebaute, strenge Männer über das Deck, schnurstracks auf unseren Mann zu: »Are you Mister Kisch?«
*
Sie führen ihn vor den Zollbeamten, der ihm im Namen des Commonwealth, der Allaustralischen Bundesregierung eröffnet: Eintritt verboten. Jeder Versuch, das Verbot zu über-, beziehungsweise das Land zu betreten, würde schwere Strafen zur Folge haben. Der Paß bleibe in den Händen der Behörde.
Dann schickt sich der Zollbeamte an, den Koffer unseres Mannes in dessen Kabine zu durchsuchen. Der Ausgesperrte protestiert dagegen, entweder Einreiseverbot oder Gepäckrevision – beide Vergnügen dürfe sich ein Staat nicht gönnen. Verdutzt stottert der Zollbeamte, er habe seine Weisungen, er nehme zwar den Protest zur Kenntnis, die Revision aber vor.
Von zwei zu Tode entschlossenen, westaustralischen Sherlock Holmessen unterstützt, untersucht er nun gründlich, jedes Taschentuch wird entfaltet, jedes Buch durchblättert, 33 die Kofferwände sachverständig abgeklopft, die Tube mit Zahnpaste befühlt.
»Keine Bomben darin,« sagt unser Mann, welche Bemerkung jedoch weder ein Lächeln noch eine Antwort hervorlockt. Ernst setzen die drei Männer das Werk fort, es dauert etwa eine halbe Stunde, während der unser Mann darüber nachdenkt, was mit ihm geschehen werde.
Man könnte ihn auf den nächsten Dampfer eskortieren, der europawärts fährt, das ist eine und so ziemlich die schlimmste Möglichkeit. Man könnte ihn auf der »Strathaird« isolieren, in welchem Fall seine australischen Freunde vielleicht nicht erfahren würden, ob er überhaupt angekommen, ob er ausgestiegen sei und wo er sich befinde, das ist eine andere und ebenfalls schlimme Möglichkeit. Sollte aber die Behörde nicht imstande sein, seine Ankunft und das Landungsverbot geheimzuhalten, sollte unser Mann mit seinen Freunden Kontakt aufnehmen können, dann wäre noch keineswegs alles verloren.
Inzwischen perkutieren und auskultieren die Internisten der Zollbehörde weiterhin das Köfferchen. Da sie es endlich zuklappen, wiederholt ihr Chef mit noch größerem Nachdruck: jeder Versuch, australischen Boden zu betreten, würde schwere Strafen zur Folge haben.
Unser Mann begleitet die Herren aus seiner Kabine. Am Ende des Korridors sieht er eine Gruppe von Leuten, die anscheinend das Ende der amtlichen Prozedur abgewartet haben. Das sind keine Häscher, Häscher sind gemeiniglich nicht junge Burschen mit so schlacksigen Bewegungen, Häscher tragen selten eine Kamera auf dem Bauch, hier sind Vertreter eines Standes, die ihm aus der Patsche helfen könnten. 34
»Ihr seid die blokes von der Presse, nicht wahr? Laßt uns mal ins Rauchzimmer hinaufgehen und die story mixen.« Sie lachen, weil er sie als »blokes« anredet, also australisch kann, weil er vom »story mixen« spricht, also den Zeitungsjargon kennt, und da man sich oben hinsetzt, ist man bereits ein Kollegenkreis. Das hindert ihre erste Frage nicht, eine Gewissensfrage zu sein: »Sind Sie Kommunist?«
»Ausgezeichnet,« gibt unser Mann zur Antwort, »ausgezeichnet, daß mir die Frage nach der Parteizugehörigkeit zuerst gestellt wird, so kann ich gleich erklären, daß ich mich weder auf meine Zugehörigkeit zu irgendeiner politischen Partei berufen, noch durch Betonung meiner Nichtzugehörigkeit mich von irgendeiner Partei distanzieren werde. Ich komme als Antifaschist und als militanter Kriegsgegner, der Bewegung gegen Krieg und Faschismus gehören Mitglieder aller fortschrittlichen Parteien an, auch Millionen von Kommunisten, viele große Gelehrte und Schriftsteller wie Henri Barbusse, Romain Rolland und André Gide.«
»Und Sie wollen bei uns gegen Deutschland agitieren?«
»Für Deutschland. Gegen die Nazis, in deren Hände es gefallen ist, gegen den Nationalsozialismus, der eine Gefahr für den Frieden der Welt ist.«
»Das sagen Sie aus politischen Gründen, nicht wahr? Sie wissen ja selbst, daß das Hitlerregime dem Charakter der Deutschen entspricht. Wenn Sie wollen, werden wir nicht erwähnen, daß wir Ihnen diese Frage gestellt haben.«
»Im Gegenteil, ich bin hier, um der Behauptung vom Kriegswillen des deutschen Volkes entgegenzutreten; um zu berichten, wie all die, mit denen ich in Haft war, sich 35 durch die scheußlichsten Torturen nicht zum Faschismus zwingen ließen; um zu erzählen vom Widerstand und der illegalen Arbeit in Deutschland, geleistet unter unbeschreiblichen Gefahren. Kaum ein anderes Volk würde sich einer Bluttyrannei mit solcher Selbstverleugnung widersetzen, wie es die Illegalen in Deutschland tun.«
Man notiert.
»So. Und jetzt wollen wir die Sache einteilen, damit Ihr einander keine Konkurrenz macht. Ihnen erzähle ich von der Kriegsgefahr jenseits des Suezkanals, Ihnen vom Nazi-Terror, Ihnen von der Tätigkeit unserer Bewegung, und Sie, Herr Kollege vom Bilderblatt, kriegen Anekdoten aus meinem Reporterdasein. Dann hat jeder seinen scoop, seinen Alleinbericht, ist das O. K.?«
»O. K.«
Nachher verfaßt unser Mann ein Telegramm an die Regierung in der Bundeshauptstadt Canberra, in dem er seiner peinlichen Überraschung Ausdruck gibt, so unfreundlich empfangen worden zu sein, und um Beseitigung des offenkundigen Mißverständnisses ersucht. Das schreiben sich die blokes von der Presse ab.
Die Passagiere der »Strathaird« sind an Land gegangen, um den Tag in Perth zu verbringen. An Bord geblieben sind die beiden stattlich gebauten Detektive, die zwischen sich und unserem Mann eine Distanz von drei Schritten halten.
Neiderfüllt schaut unser Mann auf den breiten Weg, der von Fremantle ostwärts läuft. Am Ende dieses Wegs, dem Blick nicht erreichbar, liegt Perth, eine Großstadt; in ihren Straßen mögen jetzt Passagiere der »Strathaird« zwischen australischen Palästen und australischem Leben spazieren, 36 in australischen Restaurants zu Mittag essen, australische Waren einkaufen, bis ihnen gegen drei Uhr nachmittags Zeitungsblätter entgegengeschwenkt werden, auf deren Titelseite sie das Foto eines Mannes sehen, mit dem sie in den letzten Wochen beisammen waren, ohne von seiner Gefährlichkeit eine Ahnung zu haben.
Die Berliner haben es besser. Die erfahren schon vor dem Mittagessen die Anhaltung unseres Mannes samt allen Details, sie lesen den Vorfall zur gleichen Stunde, da er in Westaustralien erfolgt, wobei allerdings zu bemerken ist, daß die gleiche Stunde am 120. Grad östlicher Länge neun Stunden früher eintrifft als in Mitteleuropa. Auf dem Wedding und in Neukölln, am Potsdamer Platz und vor der Gedächtniskirche rufen die Zeitungsjungen aus: ». . . wird nich nach Australjen jelassen! Der rasende Reporta entrüstet! Nachtausjabe!« Wir (die Beobachter) trennen unseren Astralleib von dem australischen, und kaufen einem Zeitungshändler, der eben das Wort »entrüstet« dramatisch in die Berliner Luft schmettert, ein Blatt ab:
»London, 7. November. Nach einer Reutermeldung aus Canberra (Australien) ist dem ›Emigranten‹ Egon Erwin Kisch, der als Abgesandter des Weltausschusses der Antikriegsbewegung auf dem australischen Kontinent gegen den Krieg sprechen sollte, von den Einwanderungsbehörden die Erlaubnis zur Einreise verweigert worden. Als Begründung wurde angeführt, daß Kisch, seit er Deutschland verlassen habe, offen kommunistische Propaganda treibe. Kisch hat daraufhin ein entrüstetes Telegramm an das Innenministerium in Canberra gesandt, in dem er Einspruch gegen diese Behandlung eines ›Schriftstellers von internationalem Ruf‹ erhebt.«
Die größten Lettern, über die die Scherlsche Druckerei verfügt, der Titel mit der teuren roten Linie 37 unterstrichen, der Text fett und mit Durchschuß, reichten nicht aus, die erste Seite auszufüllen. So rief man einen Herrn Schriftleiter herbei, welcher ehemaliger Beziehungen zu dem über Australien entrüsteten Titelhelden verdächtig ist, und der hatte eine geharnischte Glosse dazuzuscbreiben.
Ebenso flugs wie Reuters Telegraphen-Agentur mit der Nachricht nach Europa lief, läuft sie wieder nach Australien zurück, um hier zu erzählen, was man dort dazu sagt: ». . . die Zurückweisung, die er nun in Australien gefunden hat, ist ein erfreulicher Beweis dafür, in welchem Umfange jetzt die Welt den wahren Charakter der Emigranten aus Deutschland zu begreifen beginnt . . .«
Das und ähnliche äußerst befriedigte Äußerungen des Propagandaministeriums liegen abends den Redaktionen in Sydney und Melbourne wörtlich vor, und man kann sie nicht anders als unter dem Titel »Allgemeine Zustimmung in Berlin« bringen. Die englische Presse, teilt Reuter der australischen mit, beschränkt sich auf die Wiedergabe der Nachricht, nur der »Manchester Guardian« findet das Landungsverbot »kleinlich und dem Prestige des Commonwealth abträglich«.
Am Kap Leeuwin, der Südwestspitze des ablehnenden Kontinents, vorbei und die Südküste Australiens entlang, bewegt sich die »Strathaird« mit unserem Mann durch eine stürmisch bewegte Bucht.
Radiogramm aus Melbourne: stimmt behauptung der regierung, betreten englischen bodens sei ihnen verboten fragezeichen rückfunket sofort stop komitee.
Was antwortet man den Freunden auf eine solche Frage, nachdem man über das Landungsverbot so betroffen getan hat? Unser Mann rückfunkt, die Behauptung, England 38 möge ihn nicht, sei einfach lächerlich. Im Vorjahr habe er zu London in Essex-Hall und Kingsway-Hall Vorträge gehalten, unter Vorsitz von Lord Marley, Sir Bertrand Russell und Lady Despard, Schwester von Marschall French. Erst als er zum Londoner Gegenprozeß des Leipziger Reichstagsbrandprozesses fuhr, sei er, wie viele ausländische Zeugen, auf Intervention der deutschen Botschaft an der englischen Küste gestoppt worden, was sich aber klarerweise nur auf diesen einen Fall bezog.
Dieses Radiogramm kostet achtzehn Shilling, und wird von dem Geld bestritten, das für die transkontinentale Eisenbahnfahrt bestimmt war.
Fünfzehn Stunden dauert es, ehe das Telegramm in die Hände der Adressaten kommt, das Ministerium hat darüber beraten, bevor es zugestellt wurde. Das weiß der Absender natürlich nicht. Ebensowenig weiß er, daß noch ein anderer Übersee-Delegierter zum Antikriegs-Kongreß nach Melbourne fährt, ein Delegierter aus Neuseeland. Unser Mann hat dessen Namen noch nie gehört, aber jener und er reisen einander entgegen, unser Mann ostwärts, der Neuseeländer Gerald Griffin westwärts.
Des weiteren weiß unser am Festland vorbeigleitender Mann noch nicht, welche Mißstimmung dort zu wachsen beginnt. Für die Massen ist die Jahrhundertfeier kein Jubelfest. Gesiebte Bankette und Bälle für die Ehrengäste sind angesetzt, Ordensverleihungen in Aussicht gestellt, teure Festbauten aufgerichtet – – ist jetzt die Zeit für solche Dinge?
Von allen offiziellen Veranstaltungen hat nur der internationale 19.000-Kilometer-Wettflug London–Melbourne Interesse gefunden, allgemeines fieberhaftes Interesse. Aber sein Verlauf beleuchtet grell das vorangegangene Kulissenspiel. 39
Joyce Manton, eine Dozentin der Melbourner Universität, zeigt in der Broschüre »Die Jahrhundertfeier bereitet den Krieg vor« den imperialistischen Sinn dieses Vorspiels dokumentarisch auf: ein italienisches Flugzeug und das amerikanische Flugzeug »Bellanca« wurden zum Raid nicht zugelassen, der Meisterflieger Kingsford Smith und seine amerikanische Maschine am Start verhindert, obwohl er von dem Stifter des Flugpreises, dem australischen Schokoladenkönig Macpherson Robertson finanziert war, andere Aeroplane wurden gehandicapt oder zu einem Umweg veranlaßt. So gewannen Scott und Black, – zwei Briten, wie es die militärischen Flugbehörden von Anfang an mit allen Mitteln herbeiführen gewollt.
Das Festkomitee des Jubiläums steht unter militärischer Führung, und auch die meisten offiziellen Gäste sind militärische Persönlichkeiten, das Geschwader der Wasserflugzeuge aus dem Irak kommt nicht aus sportlichen Gründen und die Kapelle der schottischen Grenadiere nicht aus musikalischen. All das ist zu offenkundig Seelenfang für Aufrüstung und Militarisierung, um dem werktätigen Australier zu gefallen.
Wenig Staaten haben im Weltkrieg prozentual so viel von ihrer Bevölkerung verloren wie Australien; die Schulden, die Australien zur Equipierung und Bezahlung seiner nach Europa entsandten Truppen aufgenommen hat, stellen noch heute das schwerste Finanzproblem dar; das einst so reiche Land windet sich in Krisenkrämpfen, die Arbeitslosigkeit ist verhältnismäßig größer als sonstwo in der Welt. Und da errichtet man ein Kriegerdenkmal, den Shrine von Melbourne, der an Aufwand alles Dagewesene übertrifft. Eine Million Pfund kostet er, obwohl hauptsächlich 40 Dole-Workers, als Gegenleistung für eine Arbeitslosenunterstützung von zwölf Shilling per Woche, jahrelang an dem Bau karrten und schippten. Da baut man Rampen und veranstaltet Festgelage für Besucher, die die Einführung der allgemeinen Dienstpflicht in Australien vorbereiten wollen und die Militarisierung der Jugend, – einen Kriegsgegner jedoch erklärt man als unerwünschten Gast und verbietet ihm die Landung. »Würden wir die Botschaft nicht vertragen, die er uns bringt?«
Versammlungen, Proteste an die Regierung, parlamentarische Anfragen, Flugschriften, Demonstrationen. Die Labor PartyEnglische Orthographie: Labour Party; in Australien und Amerika: Labor Party., vor kurzem noch an der Macht im Staatenbund und in den meisten Bundesstaaten, steht jetzt zu ihren Nachfolgeregierungen in schroffer Opposition. Sie erklärt, von Entschließungen ihrer Ortsgruppen und der Jugendverbände veranlaßt, das Landungsverbot als Verletzung der Gastfreundschaft, als Bevormundung der Arbeiterschaft, als Vorbereitung zum Faschismus.
In Melbourne war ein Empfangskomitee für den Weltdelegierten gegründet worden, nach dem Landungsverbot wird es in ein Verteidigungskomitee umgewandelt, Ortsgruppen erstehen im ganzen Land. Die Gewerkschaften brandmarken die Regierungsmaßnahme, Schriftsteller treten gegen den an dem europäischen Kollegen begangenen Willkürakt auf, Katharine Susannah Prichard, Vance Palmer, Jean Devanny, J. M. Harcourt, Tom Fitzgerald, E. J. Brady, Bartlett Adamson, Bernard Cronin, Georgia Rivers und Max Meldrum, Australiens größter Maler; die Universitätsprofessoren Walter Murdoch, Beasley, Greenwood und 41 Macmahon Ball nennen die Verbannung des Gastes eine Beleidigung für das australische Volk; F. Alexander, Vorsitzender der australischen Sektion der Völkerbunds-Liga, gebraucht noch schärfere Ausdrücke; und ein Bischof, E. H. Burgman, sendet dem Komitee eine Sympathie-Erklärung.
Kühl und höhnisch läßt Mister Menzies, Generalstaatsanwalt und Minister, diesen Sturm zu seinen Füßen branden. Zwar habe er das Verbot nicht erlassen, antwortet er im Parlament dem ersten Interpellanten, es sei bereits von der vorigen Regierung beschlossen worden, aber er werde es durchführen. »Die Landung dieses Mannes ist vom Ministerium des Innern untersagt worden und dabei bleibt es (and there the matter rests)«, erklärt er wörtlich und fügt hinzu, der Delegierte werde »seinen Fuß nicht auf den Boden des australischen Gemeinwesens setzen«.
Das Melbourner Antikriegs-Komitee zeiht ihn der Unwahrheit, wenn auch nur wegen der Behauptung, das Verbot stamme vom vorigen Ministerium. Schon seit August sei die gegenwärtige Regierung im Amt, damals war von einem australischen Antikriegs-Kongreß noch gar nicht die Rede, und erst am 12. Oktober erfuhr das Komitee, daß ein Delegierter aus Europa kommen werde. Wieso kann es die Regierung Monate vorher gewußt haben?
Über diesen Widerspruch interpelliert, erwidert Menzies, wenn das Landungsverbot vom jetzigen Kabinett ausgesprochen wurde, so geschah es in seiner Abwesenheit. Das ändere jedoch nicht das geringste an der Tatsache, daß der Delegierte »seinen Fuß nicht auf den Boden des australischen Gemeinwesens setzen« wird. And there the matter rests.
Auch an Postminister Mac Lachlan wird im Parlament 42 eine Anfrage gerichtet: Wieso kommt es, daß ein die Behauptung der Regierung widerlegendes Radiogramm, an Bord der »Strathaird« hinter Fremantle um sieben Uhr fünf Minuten abends aufgegeben, am selben Abend bereits im Kabinett diskutiert, dem Adressaten (Melbourner Komitee gegen Krieg und Faschismus) aber erst am nächsten Tag um halb elf Uhr zugestellt wurde? Minister Mac Lachlan antwortet, die australische Post befördere täglich 100.000 Telegramme, es lasse sich selbst bei größter Sorgfalt nicht vermeiden, daß eines oder das andere sich verzögere.
Vor acht Tagen hatten die Veranstalter des Antikriegs-Kongresses Notizen über die bevorstehende Ankunft des Weltdelegierten für die Presse verfaßt, in denen darzutun versucht war, warum gerade die Entsendung unseres Mannes nach Australien besondere Bedeutung habe. (Unter uns gesagt: keine leichte Aufgabe, denn sie wußten fast nichts über ihn, und hätten sie alles über ihn gewußt, so hätte das auch noch keinen ruhmreichen Lebenslauf ergeben.) Ob es nun wegen der Armut dieser Biographie oder ob es deshalb war, weil man inmitten des patriotischen Festrummels einer linksradikalen Tagung keine Publizität geben wollte, – jedenfalls lehnten die meisten Blätter den Abdruck der Notizen ab. Insbesondere Mister B. H., nicht nur als Zeitungsgewaltiger von Neusüdwales, sondern auch als militanter Patriot und Hüter von Moral und Frömmigkeit bekannt, duldete in seinen Blättern keine Erwähnung des Kongresses und seiner Delegierten.
Eines Abends torkelte Mister B. H. heillos betrunken durch die Gassen des Stadtteils Leichhardt, belästigte die vorbeigehenden Frauen, brüllte »zur Hölle mit der 43 Jungfrau Maria« und ähnliche Wünsche. Unter anderem öffnete er auch die Türe eines Friseurladens, bestritt schreiend, daß der Papst ehelich geboren sei, und verlangte, noch mehr schreiend, daß ihn (den Papst) der Teufel holen möge.
Ob dieses Sakrilegs geriet ein Eingeborener in Zorn. Seine Ahnen hatte man wohl mit dem Katholizismus aus dem Urwald gelockt, ihnen so lange von Gott im Himmel und seinem Stellvertreter auf Erden vorerzählt, bis sie diese Obrigkeiten anerkannten und dafür ihr freies Leben hingaben, ein Leben voller Wonne, wo der Wald ihr Nachtquartier und der Mond ihre Sonne war. Sollte nun der Enkel dulden, daß der so teuer erkaufte Heilige Vater geschmäht, ihm die ewige Verdammnis gewünscht werde? Der Schwarze nahm es ernst, wütend stürzte er sich pro ecclesia et pontifice auf den Lästerer.
In diesem Augenblick kam ein antifaschistischer Schriftsteller vorbei, dem Mister B. H. wenige Tage vorher einen Vorbericht über den Kongreß abgelehnt hatte. Er fiel dem Gotteskämpfer in den schwarzen Arm, und verstaute den Gotteslästerer, der lallend auf dem Pflaster zusammengeklappt war, in ein Auto. Kein Hotel wollte die Alkoholleiche aufnehmen, und so schaffte sie der junge Schriftsteller in seine eigene Wohnung. Er zog dem Mister B. H. die Schuhe aus, schob sie unters Bett, damit der bei seiner Auferstehung nicht darüber stolpere, und legte sich ins Nebenzimmer schlafen. Als der Samariter gegen Mittag erwachte, war sein Gast verschwunden, – nur die Schuhe standen noch unter dem Bett. (Wie sich später herausstellte, hatte Mister B. H. beim Erwachen an der Wand eine Reproduktion der Tizianschen Venus gesehen, daraus 44 gefolgert, in einem Bordell zu sein, und sich so schnell er konnte, davongeschlichen.)
Der Schriftsteller eilte ihm in die Redaktion nach und bot ihm einen Lokalbericht an: Gestern abends wollte eine bekannte Sydneyer Persönlichkeit in Leichhardt einen Farbigen auf die Probe stellen, wie weit dessen Christentum nur missionäre Tünche sei, und ward von dem entbrennenden frommen Zorn des Schwarzen so gerührt, daß er ihm seine Schuhe schenkte.
Blässer und blässer wurde der ohnehin blasse Mister B. H., als er diese Lesebuchgeschichte hörte und hernach ihre faktische Grundlage. Dann sagte er feierlich: »Junger Mann, Sie haben mein Leben gerettet und meine Ehre und die meiner Familie. Dafür will ich Ihre verdammte Notiz über Ihren verdammten Delegierten abdrucken. So sind wir quitt.«
Quitt? Wenige Tage darauf (das war allerdings schon nach den Melbourner Vorfällen, von denen der Leser erst später erfahren wird) war das Opfer, das der Zeitungsfürst durch Abdruck der Notiz gebracht hatte, keineswegs ein Opfer mehr, und sein seinerzeitiger Retter wurde von einem Boten des Mister B. H. aus dem Schlaf geweckt, er möge sofort alles niederschreiben, was er noch über den Delegierten wisse, je mehr desto besser, einen Shilling die Zeile.
Aber der Befragte wußte nichts, niemand in Australien wußte etwas. Nur ein deutscher Farmer in Gippsland, Abonnent der Zeitschrift »Das Neue Tage-Buch«, hatte dort die Rezension über ein Buch unseres Mannes gefunden, welches »Eintritt verboten« hieß; das schien ihm ein spaßiger Titel angesichts der letzten Ereignisse, weshalb 45 er es einer Melbourner Zeitung mitteilte. Im Nu sauste das schnellste Redaktionsauto in den Gippsländer Busch, auf daß das Dokument faksimiliert, übersetzt und mit der Schlagzeile »No admittance! – Eintritt verboten! – – Ein Buchtitel der Vorahnung!« versehen, am nächsten Tag erscheinen könne. Leider war die Kritik im »Tage-Buch« ein ziemlicher Verriß (sehen Sie, Ludwig Marcuse, sehen Sie!) und enthielt eine Anspielung auf den Beinamen des Buchautors; daß dieser Beiname »Rasender Reporter« laute, stand nicht darin, und der Redakteur schrieb, der verhinderte Gast führe in Europa den Beinamen »Herold des Friedens«.
Die meisten Blätter begnügten sich in Ermangelung von anderem passenden Material damit, Artikel über die Tschechoslowakei zu bringen, über den Märtyrer Hus, den Komponisten Smetana und den Präsidenten Masaryk. Etwas näher an das Thema kam die Reminiszenz eines Lesers, daß unser Mann nicht der erste Tschechoslowake sei, dem man die Einreise verwehre. Vor 30 Jahren sollte die tschechische Sängerin Emmy Destinn eine Konzerttournee durch Australien machen, aber die Melba, »die australische Nachtigall«, habe dies durch Druck auf die Konzertagentur hintertrieben und aus eigener Tasche eine Konventionalstrafe von 1500 Pfund bezahlt. 1500 Pfund sind selbst für eine Melba kein Pappenstiel, und wir bitten unsere Leser, sich diese Summe zu merken, denn Hegel bemerkt angeblich irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen, und Karl Marx fügt dieser niemals aufgefundenen Hegelstelle die Worte hinzu: »Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.« 46
*
Indessen segelt unser Mann den brodelnden Kontinent entlang. Seine Rolle an Bord hat sich wesentlich verändert, wenn auch nicht verbessert. Für jene, denen er anfangs nur des Attentats an König Alexander und an Barthou verdächtig war, ist er jetzt ein ausländischer Agent, der Australien aufwiegeln will. Mütter verbieten ihren Kindern, mit ihm zu spielen, und seine täglichen Partner im Seilringe-Werfen beginnen die Partien ohne ihn, ach.
Ach, und für andere ist er interessant geworden. Ein spitzmäusiges Wesen sucht ihn durch stundenlange Vorträge für eine Synthese von Trotzki, Mensendieck und Freud zu gewinnen, in der das Heil der Welt liege. Ein Queensländer Wollhändler, von seinem Scheidungsprozeß aus England zurückkehrend, setzt unserem Mann auf Grund von Steuervorschreibungen auseinander, wie die australischen Regierungen ihre Bürger ruiniere. Kompliziert ist das Projekt, in das ein Grundstücksmakler aus Port Darwin ihm die Einsicht aufdrängt: Australien soll die Perlenfischerei an der Nordküste in eigene Hände (d. h. in die des Projektanten) nehmen, statt sie den Japanern zu überlassen. »Japan will Australien erobern, erzählt man uns immerfort, damit wir Geld für militärische Zwecke hergeben, gleichzeitig aber liefert man den Japanern unsere ganze Wirtschaft aus und duldet, daß sie unsere Gewässer exploitieren. Dabei sind diese Perlenfischer allesamt japanische Spione, – ich kenne sie persönlich und kann das beweisen. Aber die Regierung will ja nicht auf mich hören.«
Als Vertreter der indischen Pfadfinder fährt ein fünfzehnjähriger Parse zur »Jamborree«, dem Welttreffen in Melbourne. Weil er nun erfahren hat, daß unser Mann ein 47 Schriftsteller ist, bittet er ihn, ihm eine Rede abzufassen, die indische Jugend sei allzeit bereit, auf Seite des britischen Empires zu kämpfen und zu sterben.
Von einer Reise nach Indien, wo er Aktionäre für die Auswertung einer neuen Goldmine zu finden versucht hat, kehrt ein zappliger Geschäftemacher nach Adelaide heim, Goldklümpchen trägt er in der Tasche und bietet unserem Mann zwar keines davon an, wohl aber zwei Aktien der zukünftigen Goldgrube. Als Gegenleistung verlangt er nur, unser Mann möge ein Buch über das vielversprechende Unternehmen schreiben oder sonstwie kapitalkräftige Interessenten werben.
In flachem Bogen schneidet die australische Bucht in die Südküste ein. Dieser Teil der Fahrt ist der stürmischeste; bald steuerbords, bald backbords richten sich die Wogen neben dem Schiff auf, eine drohende Wand. Der Passagier saust an die Reeling, wenn er aber, schon mal dort, sich auf Gnade oder Ungnade übergeben will, so wird er gerade im entscheidenden Moment wieder davongerissen und einem Mitpassagier gegen die Rippen geschleudert; Gemöbel, Koffer, Geschirr und Mensch, alles rutscht und kracht durcheinander. Der Ozean schreit sein sinnloses Geschwätz lauter und lauter in den Wind, verrenkt seinen Rumpf und wirft seine Gliedmaßen nach allen Seiten. Diesem Exzeß kann der Passagier selbst in der Kabine nicht entrinnen, das Bett tanzt den Veitstanz mit.
Im Waschraum tritt einer der vier Italiener auf unseren Mann zu. Leise fragt er: »Parla l'italiano?« – »Ein wenig.« – »Fa attenzione. Miei amici vogliono attaccarvi.« – »Warum, wann, wo wollen mich Ihre Freunde attackieren?« – »Non so.« Mit dem Gefühl, daß es überall 48 Freunde und überall Feinde gibt, von denen man nichts weiß, steigt unser Mann in ein schlenkerndes, stöhnendes, hopsendes Bett.
Kaum legt die »Strathaird« an, kaum ist sie in Ruhe, als sie auch schon von Bewegung erfüllt ist: von der Bewegung des Festlands. Der Landungsplatz heißt Adelaide, doch ist von der Stadt Adelaide kein Rauchfähnchen zu erblicken; 15 Meilen sind's vom Outer Harbor in die Stadt, und ebensoviel von der Stadt zum Outer Harbor. Diese Distanz hindert die verfügbaren Bewohner nicht, zum Outer Harbor hinauszupilgern, den umstrittenen Fremdling zu besichtigen, zu shakehanden und zu knipsen. Auch ein Interview muß er geben, – nicht geben, sondern abhalten, denn es wird ein Massenmeeting, aus ganz Australien sind Pressevertreter gekommen, Zuhörer umdrängen das Interview, währenddessen er zum Telefon gerufen wird; Ferngespräch.
Zum Telefon? Ferngespräch? An Bord eines Schiffes? Er lernt, daß Ozeandampfer im Augenblick ihrer Landung in das Telefonnetz eingeschaltet werden. Der Melbourner »Star« ruft unseren Mann auf der »Strathaird« an, um eine originellere Form des Interviews zu haben: »Was ist Ihr Tip für die Saar-Abstimmung? Was denken Sie über den England–Australien-Flug?« und ähnliches. Zum Glück hört man elend.
Die an Bord erschienenen Reporter fragen unseren Mann, ob er Vicki Baum persönlich kenne; nein, er kenne sie nicht persönlich; sie fragen, ob er Remarque persönlich kenne; nein, er kenne ihn nicht persönlich; die Enttäuschung ist offenkundig; sie fragen, ob er Fjuktwendscher persönlich kenne; Gott sei Dank, den Fjuktwendscher kennt 49 er persönlich, und das ergibt die Headline: Bester Freund von Lion Feuchtwanger etc.
Aber auch andere deutsche Schriftsteller, sagt unser Mann, kenne er, die heute nicht mehr leben. Und er erzählt von Erich Mühsam, von Theodor Lessing, Erich Baron, Franz Braun, von den Meuchelmorden in den Nazikasernen, von den Inquisitionsmethoden der Gestapo, von den Todesmartern in den Konzentrationslagern, er sagt den Journalisten, wer Ossietzki, Mierendorff, Renn und Neubauer sind, Hirne hinter Stacheldraht, er spricht von Ernst Thaelmann, der als Präsidentschaftskandidat sechs Millionen Stimmen auf sich vereinigt hat, und nun seit fast zwei Jahren ohne Lese-Erlaubnis, ohne Schreib-Erlaubnis, ohne Besuchs-Erlaubnis in Einzelhaft gehalten wird, er berichtet von zehntausenden Antifaschisten, denen es ebenso ergeht, und von den »auf der Flucht erschossenen« oder mit dem Beil hingerichteten deutschen Arbeitern.
Davon weiß man wenig in Australien. Man weiß nicht, daß der oberste Naziführer in seinem Buch selbst zugibt, als Spitzel der Reichswehr zu den Nationalsozialisten geschickt worden zu sein, und auf diese Weise Anschluß an die Politik bekam, man weiß nicht, daß er für das Eiserne Kreuz I. Klasse nie eingegeben war, es nie verliehen erhielt, aber immer trägt, man weiß nicht, daß er monatelang bei Hindenburg um seine Ernennung gebettelt und antichambriert hat, und im Augenblick, da sich seine Anhängerschaft um Millionen verminderte, nur deshalb zum Kanzler ernannt wurde, damit durch Diktatur eine öffentliche Diskussion über den Osthilfeskandal verhindert werde, welche Ernennung jetzt den offiziellen Namen »Deutsche Revolution« führt. 50
Deutsche Bauern und Winzer aus Hahndorf, aus Blumberg und anderen deutschen Dörfern in der Umgebung von Adelaide, stehen im Rund, sie kamen hierher, den Landsmann zu begrüßen und Fragen zu stellen.
Viele Fragen, viele Antworten, ehe sich die Taue des Schiffes lösen. Unten am Kai sieht unser Mann zum erstenmal die Flagge Australiens, gestirnt mit dem Kreuz des Südens, sie weht auf dem Pianino einer Kriegsinvalidenfamilie, die um Almosen singt. An einem japanischen Kauffahrteischiff vorbei navigiert die »Strathaird« in den Ozean und schwimmt melbournewärts. Zum Kongreß kommt sie nicht mehr zurecht.
Am nächsten Morgen stoßen unser Mann und die anderen Passagiere in den täglich ausgegebenen Schiffsnachrichten auf einen Namen, den wir und unsere Leser bereits kennen: Gerald Griffin. Der Mann dieses Namens, Delegierter Neuseelands zum Antikriegs-Kongreß in Melbourne, ist bei seiner Ankunft in Sydney angehalten und mit dem nächsten Dampfer zurückgeschickt worden. Was die Radio-News nicht hinzufügen, ist die Tatsache, daß man Gerald Griffin, der britischer Staatsbürger, ein Ire aus Cork ist, einer Diktatprüfung in holländischer Sprache unterworfen hat, und das Nichtbestehen dieser Prüfung zum Anlaß der Ausweisung nahm.
Der Kongreß selbst weiß in diesem Augenblick noch nichts von der Prüfung Gerald Griffins in holländischer Sprache. Zwar hat es Griffin telegrafisch mitgeteilt, aber das Telegramm wird erst mit zweitägiger Verspätung eintreffen, der Postminister Mac Lachlan wird auf Befragen erklären, die australische Post befördere täglich 100.000 Telegramme, es lasse sich bei größter Sorgfalt usw. usw. 51
Auf dem Podium in der Stadthalle von Port Melbourne, wo der Kongreß heute beginnt, sind zwei Stühle unbesetzt, über ihnen hängt ein Plakat: Reserviert für die beiden überseeischen Delegierten, die von der Regierung des Ministerpräsidenten Lyons verhindert wurden, gegen Krieg und Faschismus aufzutreten.
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