Eduard von Keyserling
Fürstinnen
Eduard von Keyserling

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Es gab Stunden, in denen Streith das Glück des Kranken genoß, das müde Glück, wenn die Schmerzen für eine Weile ihn verließen, er erschöpft wie von schwerer Arbeit dalag und dachte: Wie leicht ist doch das Leben ohne Schmerzen. Dann ließ er die Tür seines Zimmers öffnen, um in die Zimmerflucht hinabschauen zu können, er wollte sehen, wie das Licht und die Blätterschatten auf dem blanken Parkett lagen, wie Roller auf seinem sonnigen Plätzchen schlief, wie die Möbel feierlich an den Wänden standen und die Goldrahmen der Bilder blitzten. Die Fenster waren geöffnet, vom Garten strömten warme Düfte herein, zuweilen verirrte eine Biene sich in das Zimmer und erzählte mit ihrem Summen von den sonnenbeschienenen Rosen draußen. Übermannte der Schlummer ihn in solchen Stunden, so kamen angenehme Traumbilder, Bilder früherer Reisen. Er saß in einer Gondel, greller Sonnenschein fiel auf den Kanal, und der Widerschein des Lichtes zitterte wie kleine, rege Goldwellen an den roten Mauern der Paläste hinauf. Oder er stand unter Hollands grünlichem Himmel vor einem blauen Hyazinthenfelde; tiefes, sattes Blau, wohin er auch sah. Ab und zu kam Frau Buche mit ihrer weißen Schürze und ihren friedlichen, grauen Augen und reichte ihm eine Tasse Fleischbrühe. »Ganz frische Hühnerbouillon«, sagte sie, »einige Spargelköpfe habe ich hineingetan, von den kleinen, dunklen. Die großen sind wohl süßer, aber die kleinen bitteren haben noch so die Kraft der Erde.«

»Sie mögen recht haben«, meinte Streith, schob ein Spargelköpfchen in den Mund und sah Frau Buche mit dem hilflosen Blick des Kranken an. »Sie mögen recht haben, das schmeckt allerdings nach Kraft.« Und dann fragte er, wie er das in letzter Zeit öfter getan: »Ist niemand gekommen?«

»Niemand, Herr Graf«, war die Antwort.

»Wen erwartet er denn«, sagte Frau Buche zu Oskar. »Sind es wieder die vom Forsthause?«

»Nein, die sind es nicht«, antwortete Oskar geheimnisvoll.

Das Rollen eines Wagens vor dem Hause ließ Streith gespannt aufhorchen. Der Wagen hielt, eine Tür ging, Stimmen wurden laut, Oskar kam eilig in Streiths Zimmer und meldete: »Ihre Hoheit, die Frau Fürstin sind da und lassen fragen, ob sie den Herrn Grafen sehen dürfen.«

»Ich lasse bitten«, erwiderte Streith und fuhr mit der Hand ordnend über Bart und Haar.

Die Fürstin trat in das Zimmer, sie blieb vor dem Bette stehen und sagte: »Ich wollte doch nach Ihnen sehen, lieber Graf.«

»Sehr gnädig«, antwortete Streith und versuchte es, in das Nicken seines Kopfes etwas Zeremonielles zu legen.

»Dann setze ich mich zu Ihnen«, fuhr die Fürstin fort und setzte sich auf den Stuhl, der an Streiths Bette stand. Als sie jedoch dort saß, fand sie nicht sogleich etwas zu sagen. Sie schaute Streith an mit ihren klaren, ruhevollen Augen; die Wangen waren von der Luft leicht gerötet, die Lippen lächelten ein befangenes Lächeln.

Den kleinen, hellen Sommermantel kannte Streith, die leichte Seide des Kleides hatte eine milde Heliotropfarbe, und am gelben Strohhut steckte ein weißer Möwenflügel. Vor der milden Feierlichkeit dieser Gestalt fühlte Streith wieder die andächtige Zärtlichkeit, die ihm einst so wohl getan hatte.

»Freuen Sie sich ein wenig?« fragte die Fürstin, und eine leichte Aufregung bebte in ihrer Stimme.

»Ja, ich freue mich«, erwiderte Streith ernst, »nur wünschte ich mehr Kraft zu haben, um mich zu freuen.«

»Das kommt noch«, tröstete die Fürstin, »Sie werden sehen, bald geht es wieder aufwärts.«

»Bald«, wiederholte Streith, »bald muß es sein, denn sonst kommt der Mut zum Aufwärtsgehen abhanden. Oft denke ich schon, vielleicht ist es genug, obgleich«, seine Stimme wurde schwach und leise, »hat man da so viel Zeit verschwendet, eine gute Figur zu machen.«

»Wie meinen Sie?« fragte die Fürstin und beugte sich ein wenig vor.

»Ich meine«, versetzte Streith lauter, »wir können aus unserem Leben doch nicht das machen, was wir daraus machen wollen, es tut immer, was es selbst will.«

»Ach, Streith, so geht es uns allen«, meinte die Fürstin, und die Erregung ließ ihre Augen glitzern, »Wir alle glauben, würde unser Leben uns gegeben, damit wir es noch einmal leben, wir würden es besser machen. Wenn es so Korrekturbogen - nicht wahr, so nennt man das? - Korrekturbogen des Lebens gäbe.«

Streith lächelte: »Korrekturbogen, ganz richtig, in denen wir alles, was uns mißfällt, mit dicken, schwarzen Strichen ausstreichen könnten.«

»Und doch«, sagte die Fürstin sinnend, »in guten Stunden, wenn wir geneigt sind zu verzeihen, dann verzeihen wir auch unserem Leben.«

»Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig«, antwortete Streith, »besonders da mir jetzt der Verdacht gekommen ist, daß es gar nicht für uns ist, daß wir leben. Meine Großmutter erzählte uns Kindern das Märchen von der hochmütigen Rosine, die glaubte, der Kuchen wäre nur deshalb gebacken, damit sie ein weiches und warmes Bett habe.« Streith lachte, und auch die Fürstin lachte; es tat ihr wohl, wieder einmal wie früher mit Streith lachen zu können. Aber eine plötzliche Schwäche machte Streiths Gesicht ganz bleich, und er schloß die Augen.

»Das Sprechen greift Sie an«, rief die Fürstin besorgt, »Sie müssen stilliegen, Sie müssen versuchen, zu schlafen. Ich sitze noch ein wenig hier, wenn es Ihnen gut tut.«

»Ja, das tut gut«, sagte Streith leise.

Nun saß die Fürstin schweigend da, die Hände im Schoß gefaltet, sie schaute zum Fenster hinaus, und der Blick ihrer Augen wurde stetig, wie er es in Augen wird, die nicht auf ihre Umgebung, sondern träumend auf ein fernes Erinnerungsbild schauen. Da Streith wirklich ruhig zu schlafen schien, erhob sich die Fürstin und verließ leise das Gemach.

Rote Abendlichter glitten schon über die Wand, als Streith erwachte. Doktor Ruck stand vor dem Bette und rieb sich die Hände. »Geschlafen, das sehe ich gern«, sagte er und griff nach dem Puls des Patienten. »Unser Puls gefällt mir zwar nicht recht. Nun, wir wollen eine kleine Spritze geben.« Er ging zum Tische, um seine Spritze vorzubereiten. Streith richtete sich ein wenig in den Kissen auf; das abends zunehmende Fieber regte ihn an, es verlangte ihn danach, zu sprechen und sprechen zu hören. »Wie geht es Ihren Kindern, Doktor?« fragte er.

»Danke, gut«, antwortete der Doktor, »lauter Musterbuben.«

»Wie viele?« fragte Streith weiter.

»Bis jetzt vier.«

»Bis jetzt?« wiederholte Streith, »rechnen Sie auf mehr?«

»Das will ich meinen«, erwiderte der Doktor, »Kinder sind doch das Beste, das wir der Welt geben können, sie sind doch sozusagen unsere Unsterblichkeit.«

»So, so, Ihre Unsterblichkeit«, meinte Streith, »ich weiß nicht, ob diese Unsterblichkeit mich besonders locken würde; aber das sind doch so die eigentlichen Lebensgeschäfte, und ich bin gegenwärtig nicht recht in der Lage, kompetent darüber mitzureden.«

Der Doktor trat an Streiths Bett: »Ach was«, sagte er, »wenn Sie die Spritze im Leibe haben, dann sind Sie wieder in der Lage, über alles mitzureden.« Er beugte sich über den Kranken, um die Einspritzung zu machen, und als er fertig war, setzte er sich auf Streiths Bett und sagte befriedigt: »So. Nun fühlen wir uns gleich frischer.«

»Ja, vielleicht«, gab Streith zögernd zu. »Aber, sagen Sie, Doktor, Sie sprechen von Ihrer Unsterblichkeit. Sie glauben also, daß mit diesem Leben alles zu Ende sei.«

»Ich weiß nicht«; erwiderte der Doktor und schaute ein wenig betroffen drein, »es sieht fast so aus.«

»Gut, gut«, fuhr Streith fort, »es kommt nur darauf an, ob das Wort ›zu Ende‹ über unser Leben hinaus noch einen Sinn hat, oder ob das nicht nur eine irdische Einrichtung ist, daß etwas zu Ende geht.«

»Wie gesagt...« stotterte der Doktor.

»Sie wissen es nicht«, unterbrach ihn Streith, »woher sollten Sie auch. Ich meine nur, wenn nach unserem Leben hier doch etwas anderes kommt, müßten wir nicht etwas davon spüren, wenn wir ihm nahe sind? Wenn hier alles anfängt zu verblassen, müßten wir dann nicht ganz in der Ferne, so etwas wie Farben sehen? Na, gleichviel, hören Sie, Doktor, sind Sie einmal so vom Binnenlande her dem Meere zugefahren?«

»Nein, ich erinnere mich nicht«, antwortete der Doktor.

»Ich bin einmal in Pommern«, fuhr Streith fort, »durch den Wald dem Meere zugefahren. Es war der heißeste Tag, dessen ich mich erinnern kann. Die Föhrenstämme, an denen ich hinfuhr, glühten wie überheizte Öfen, die Luft lag auf mir wie eine wollene Decke. Das Atmen war unter diesen Umständen kein Vergnügen, so ließ ich mich stumm und gedankenlos durch den heißen Sand vorwärtsschleppen. Da plötzlich fühlte ich, als würde der Druck, der auf mir lag, leichter, das Atmen wurde bequemer, ein Windchen kam und spielte mir um die Lippen und schmeckte so gut, wie mir lange nichts geschmeckt hatte, und je weiter wir fuhren, um so angenehmer wurde das Atmen, und der kleine Wind kam immer häufiger und verstärkte sich. Er fing schon an, in den Föhrennadeln zu flüstern und wurde zu einem leisen Rauschen, und ich sperrte den Mund auf und die Nasenflügel und trank diesen Wind in mich hinein, denn er schmeckte nach Weite; er roch köstlich nach unendlicher Weite. Und dann hörte ich einen Ton, ganz weit, ganz leise, und doch lag in ihm etwas Großes, etwas Befreiendes, Kühlendes, es lag in diesem leisen, fernen Ton etwas wie das Donnern der Stimme der Unendlichkeit. Sehen Sie, Doktor, das war das Meer.«

Streith schwieg und schloß die Augen, auch der Doktor schwieg eine Weile, und als er zu sprechen begann, mußte er sich räuspern, er fürchtete, seine Stimme würde unsicher klingen. »Jetzt werden Sie schlafen, lieber Graf«, sagte er, »und angenehm träumen, vielleicht von der großen Stimme.«

»Ja, vielleicht von der großen Stimme«, antwortete Streith schlaftrunken, »gute Nacht, Doktor.«

*

Graf Donalt Streith war gestorben. Im Schlosse hörte man, der Bruder des Grafen sei gekommen, um die Leiche auf das Stammgut der Streiths überführen zu lassen, am Vormittag sollte der Wagen mit dem Sarge unten auf der Landstraße am Schlosse vorüberfahren. Um dieses zu sehen, ließ Baron Fürwit, Rekonvaleszent und noch schwach, einen Sessel auf die Hoftreppe stellen, dort saß er und wartete. Neben ihm stand der Major, die hervortretenden, blauen Augen starrten traurig vor sich hin. »Ein edler, ein nobler Mensch war unser Streith, es ist schade um ihn«, sagte er.

»Natürlich war er edel und nobel«, meinte der Baron, und seine Stimme nahm etwas Zänkisches an, »ich bin gewiß der letzte, der von einem verstorbenen guten Bekanntem etwas Schlechtes sagt, aber er wußte nicht, was er wollte. Bald wollte er dies, bald wieder etwas ganz anderes. Er hatte ein unruhiges Herz und, sehen Sie, Major, ein unruhiges Herz taugt nicht, ist nicht gesund, unruhige Herzen dauern nicht.«

»Das mag sein«, erwiderte der Major, »Wir alle irren. Ich habe unseren Streith verehrt.«

Das schien den Baron zu ärgern: »Ja, ja, wer sagt denn etwas anderes? Nun, das ist nicht zu leugnen. Sehen Sie, Major, es gibt eben Menschen, die sich einzurichten verstehen und Menschen, die sich nicht einzurichten verstehen. Streith war einer von denen, die sich nicht einzurichten verstehen.«

Auf der anderen Seite des Schlosses auf der Gartenveranda lag Prinzessin Marie in einem Korbsessel, und die runden, blauen Augen sahen in den Mittagsonnenschein hinein, ruhig und ein wenig traurig, Augen, die nicht mehr erwarten, daß dort vor ihnen in dem flimmernden Lichte etwas Schönes und Erregendes auftauchen könnte. Neben der Prinzessin saß Fräulein von Dachsberg und warf eine weißwollene Haube auf, welche die Prinzessin für eine arme Frau im Dorfe stricken sollte.

Die Fürstin aber war in den Garten hinabgestiegen, sie ging bis zum Gartengitter, blieb dort stehen, schützte die Augen mit der Hand und spähte auf die Landstraße hinaus. Auf der anderen Seite der Straße, am Waldrande, standen zwei Frauen in schwarzen Trauerkleidern, Frau von Syrman und ihre Tochter. Britta hielt einen großen Feldblumenkranz, flammend von den Farben der Trollblumen, Lichtnelken, Sumpforchideen und Skabiosen. Nun hörte man den Hufschlag von Pferden, und der Leichenwagen kam, mit einem Viererzuge bespannt. Der Sarg war mit einer schwarz und silbernen Decke überdeckt und auf ihr lagen Palmenzweige und große Kränze aus weißen Rosen. Als der Wagen langsam am Waldrande hinfuhr, traten die beiden Frauen vor, und Britta legte ihren Kranz auf den Sarg. Dann setzte Britta sich am Wegrain nieder, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte. Die Fürstin stand noch immer regungslos da und schaute dem Wagen nach, wie er die Allee hinabfuhr, umgeben von dem blonden Flimmern einer leichten Staubwolke, immer kleiner wurde mit seinem schwarzbedeckten Sarge, seinen weißen Kränzen, in deren Mitte Brittas Kranz lag, heiter in seiner Farbenpracht, wie ein helles Jugendlachen.


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