Eduard von Keyserling
Fürstinnen
Eduard von Keyserling

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»Also bin ich krank«, sagte sich Streith, als er nach einer Nacht voll qualvoller Schmerzen am Morgen todesmatt in seinem Bette lag. Das war nicht vorausgesehen. Immer diese unnützen Überraschungen. Jetzt wartete er ungeduldig auf den Arzt. Endlich ließ sich im Vorzimmer Doktor Rucks frische, laute Stimme vernehmen: »Was? Der Herr Graf hat Schmerzen? Was habt ihr denn angefangen? So etwas!« Dann kam er zu Streith, die Backen rot, der runde Schädel voll kurzgeschnittener, blonder Haare, die kurzsichtigen braunen Augen blank hinter den großen Brillengläsern.

»Was, Graf, Schmerzen?« rief er schon an der Tür, »Wo haben Sie die her?«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Streith grimmig, »das ist für die Behandlung auch unwesentlich.«

»So, so, unsere Laune ist nicht die beste«, stellte der Doktor fest.

»Wenn Sie, lieber Doktor«, sagte Streith, »das Gefühl hätten, als ob Hunde Sie zerfleischen und dabei so matt wären, daß Ihre eigene Haut Sie drückte wie ein schlecht gemachter, zu schwerer Wintermantel, dann würde Ihre Laune auch nicht die beste sein.«

»Sehr möglich«, gab der Doktor zu, »nun, wir wollen nachsehen.«

Er beugte sich über den Kranken, um ihn zu untersuchen. »Eine dumme Geschichte«, brummte er, »ein rheumatisches Fieber, daß das schmerzt, glaube ich. Und unser Herz mischt sich auch da hinein, das muß bei allem dabei sein. Ich will mal etwas aufschreiben.«

Er ging seine Rezepte schreiben, besprach mit Oskar die Verordnungen, mit Frau Buche die Diät, und als er wieder händereibend vor Streiths Bette stand, sah er diesen verheißungsvoll an: »Wir werden es schon machen, die Pulver werden den Schmerz benehmen, und unser Herz werden wir zur Ordnung rufen.«

»Sagen Sie, Doktor«, begann Streith nachdenklich, »es wird allgemein geklagt, die Leute hätten heutzutage kein Herz, und das, was sich am schnellsten abbraucht, ist doch immer das Herz.«

»Freilich«, meinte der Doktor, »nur, fürchte ich, ist es nicht die Nächstenliebe, die es abbraucht.«

»So, meinen Sie?« fragte Streith. »Möglich. Setzen Sie sich noch ein wenig her, Doktor. Sie haben so etwas Belebendes.«

Der Doktor setzte sich und lächelte geschmeichelt. »Belebend?« wiederholte er, »Nun ja, das ist auch mein Beruf.«

»Ein schöner Beruf«, meinte Streith. »Was gibt es denn Neues?«

Der Doktor dachte nach: »Ich wüßte nicht, doch ja: die alte Exzellenz im Schlosse ist auch krank, eine Lungenaffektion. Bei seinem hohen Alter bedenklich.«

»Also der Alte auch«, murmelte Streith. »Sehen Sie, Doktor, wenn man so bedenkt, wer alles stirbt, so kann man den Respekt vor dem Tode verlieren.«

»Ein Privilegium ist der Tod nicht«, erwiderte der Doktor ein wenig gereizt.

Streith seufzte: »Ach, Doktor, Sie sind ein Demokrat.«

Der Doktor lachte: »Gut, gut, mit dem Philosophieren geht es noch. Ich schaue heute abend wieder nach. Guten Morgen.« Damit ging er.

Streith schloß die Augen und begann wieder aufmerksam der stillen Arbeit der Krankheit in seinem Körper zu folgen. Als die Pulver kamen und er eins genommen hatte, schlief er ein wenig.

Er erwachte von einem leichten Geräusch an seinem Bette. Er schlug die Augen auf, da saß Britta auf einem Stuhle an seinem Bette, sehr gerade, und die dunklen, strahlenden Augen waren angstvoll und gespannt auf ihn gerichtet. »Wie muß ich ausschauen«, dachte Streith, »daß sie mich so ansieht.« Er versuchte zu lächeln: »Du bist es, Kind?«

»Doktor Ruck sagt, du seiest krank«, begann Britta, »da sind wir gekommen. Wie geht es dir jetzt?«

»Nicht gut«, erwiderte Streith.

Brittas Augen wurden größer und angstvoller: »Das tut mir sehr leid.«

»Nichts zu machen«, meinte Streith. »Was hast du denn getrieben?«

»Ich? O nichts. Ich weiß nicht.« Sie errötete, sie fühlte, jetzt müsse sie etwas erzählen, um den Kranken zu unterhalten, sie fand jedoch nichts. Vorsichtig wurde die Tür geöffnet, und Frau von Syrman trat in das Zimmer. Mit ihren kleinen Schritten und unter dem leisen Klingeln ihrer Armbänder kam sie bis an das Bett, blieb stehen und drohte mit dem Finger: »Schwiegersohn, Schwiegersohn, was Sie uns für Sorgen machen. Als wir hörten, daß Sie krank seien, war meine Kleine nicht mehr zu halten. Sie müssen ihr schon erlauben, bei Ihnen zu sein. Kann ich nicht etwas tun? Soll ich nicht Ihre Kissen richten? Kranke haben mir gesagt, ich hätte eine besonders glückliche Hand darin.«

»Ich danke«, erwiderte Streith abweisend. »Oskar macht das sehr gut.«

»Das ist ja schön«, versetzte Frau von Syrman und schaute sich im Zimmer um, »aber soll ich nicht das Fenster schließen, es geht draußen ein kleiner Wind.«

»Ich bitte, das Fenster offen zu lassen«, entgegnete Streith nachdrücklich.

»So, so.« Frau von Syrman wurde unsicher. »Du bleibst wohl noch hier, mein Kind? Ich glaube, zwei sind zuviel für das Krankenzimmer. Auf baldige gute Besserung, lieber Schwiegersohn.« Damit ging sie.

Streith und Britta schwiegen eine Weile. Streith verzog schmerzhaft sein Gesicht, und endlich sagte er: »Im Garten soll eine Rose aufgeblüht sein, die ›Baronin Rothschild‹. Willst du nicht hinausgehen und sie dir ansehen?«

»Ja«, erwiderte Britta gehorsam, stand auf und ging hinaus.

Nun lauschte Streith auf die Stimmen und Schritte im Nebenzimmer, er hörte Frau von Syrmans spitze Absätze auf und ab klappern. Jetzt geht sie und faßt meine Sachen an, dachte er ingrimmig. Im Garten begann Roller laut zu bellen. Streith klingelte. Als Oskar kam, fragte er ungeduldig: »Warum bellt Roller?«

»Das gnädige Fräulein läuft mit ihm um den Rasenplatz«, berichtete Oskar.

»Roller soll hereingerufen werden«, befahl Streith, »und zu mir wird niemand mehr hereingelassen, ich schlafe.« Damit kehrte er sich der Wand zu.

Streith hatte eine schlimme Nacht. Am Tage lag er in leichtem Schlummer oder wachte über seine Schmerzen. Er beobachtete, wie sie kamen, zunahmen, nachließen, wieder mit neuer Kraft einsetzten; diesen Feind zu studieren war ihm eine peinvolle und ermüdende Aufgabe. Für die Phantasie des Fiebernden nahmen die Schmerzen Gestalt an, er sah das graue Hundegesicht mit den bleichen Augen und den gelben Zähnen, das sich wütend in seine Glieder verbiß.

Am Nachmittage, während Streith im Halbschlafe dalag, fühlte er, daß jemand neben seinem Bette saß. Er wußte, es war Britta; er wußte, jetzt sah sie ihn mit ihren großen, angstvollen Augen an, der Stuhl, auf dem sie saß, knarrte leise. Eine Weile konnte er sich nicht entschließen, die Augen zu öffnen, er war zu müde, um zu lächeln, zu sprechen. Endlich schlug er doch die Augen auf, Britta saß an seinem Bett, sie trug ihr rotes Sonntagskleid. Sie mußte schnell gegangen sein, denn das Gesicht war ganz rosig unter dem Gewirr schwarzer Haare; auf ihren Knien lag ein großer Strauß gelber Trollblumen, der einen leichten Geruch von Honig und feuchten Blättern um sich verbreitete.

»Guten Tag, Kind«, sagte Streith leise.

»Guten Tag«, erwiderte Britta, »wie geht es dir?«

»Nicht gut«, meinte Streith. » Schöne Blumen.«

»Ja, ich habe dir einige Trollblumen gebracht.«

»So, blühen die noch?«

»Ja, die blühen noch.«

Streith wurde unruhig, die Gewaltsamkeit der Farben an dem Mädchen, der Glanz der Augen, das starke Blühen dieser Jugend, dieses Leben bedrückten ihn und taten ihm weh. Er sah zur Decke auf, sein hageres Gesicht mit der kühn geschwungenen, bleichen Nase sah streng und unzufrieden aus. »Liebes Kind, ich wollte dir etwas sagen«, begann er.

»Ach ja«, rief Britta und beugte sich vor, bereit, etwas für ihn zu tun.

»Es ist sehr liebenswürdig von dir und deiner Mutter, zu mir zu kommen«, fuhr er fort, »sehr liebenswürdig, und ich bin äußerst dankbar dafür. Aber siehst du, der Mensch, wenn er krank ist, ist eben ein anderer; er ist eigentlich nur ein halber Mensch und ein uninteressantes, unliebenswürdiges Wesen. Auch bin ich gewohnt, allein zu sein, wenn ich krank bin. Krankheit ist nun einmal eine einsame Sache, Ruhe brauche ich, sonst nichts. Und du, was sollst du in einem Krankenzimmer? Du gehörst in den Wald und in den Sonnenschein. Wenn es besser geht, schicke ich nach dir, aber bis dahin -«

Britta schlug beide Hände vor das Gesicht und begann zu schluchzen.

Ungeduldig zog Streith die Augenbrauen zusammen: »Warum weinst du?« fragte er. »Da ist ja nichts zu weinen.«

Sie aber glitt von ihrem Stuhl herab, kniete vor dem Bett, beugte sich auf seine Hand nieder und stöhnte: »Du magst mich nicht mehr«.

»Ach, Kind«, sagte Streith müde, »wie habe ich deine Jugend, deine Schönheit angebetet. Jetzt möchte ich, daß es ein wenig stille um mich ist. Später vielleicht gehen wir wieder zusammen in den Wald oder wir tanzen zusammen in der blauen Stube. Vielleicht, wer kann das wissen.«

Britta erhob den Kopf, ihr Gesicht war von Tränen überströmt, und mit einer Stimme, die heiser vom Weinen war, sagte sie böse: »Warum mußt du krank sein!«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Streith, »geh jetzt, Kind.«

Britta stand auf und verließ das Zimmer, den Kopf gesenkt, wie ein gescholtenes Kind.

Sie ging hinaus in den Wald, gerade vor sich hin, und während sie ging, flossen die Tränen über ihr Gesicht, sie weinte über Streith, über sein bleiches, kummervolles Gesicht, das sie so fremd und alt angesehen hatte, aber sie weinte auch aus Zorn, am liebsten hätte sie laut in den Wald hineingescholten: »Warum das, warum das? Krank sein, Sterben, das verdirbt alles, das zerstört alles. Warum?« Sie ging, bis sie müde wurde, dann warf sie sich auf das Moos nieder, lag regungslos da und horchte in sich hinein, auf die ungewohnte Klage ihres ganzen Wesens.

Sie mochte lange dort gelegen haben, denn ihre Haare und ihre Kleider wurden feucht vom Nachttau, sie sprang auf, tiefe Dämmerung herrschte unter den Bäumen, der Wald war ganz still, und Nebel schlichen über den Sumpf. Britta fürchtete sich, zum ersten Mal fürchtete sie sich im Walde und begann schnell zu gehen, sie wußte nicht, wohin, nur nach Hause wollte sie nicht. Jetzt in der blauen Stube bei der Lampe sitzen und ihre Mutter sprechen hören, das konnte sie nicht. Auf einer kleinen Lichtung sah sie sich um, grau in der grauen Dämmerung stand hier das Häuschen der alten Annlise, dahin wollte sie. Britta kannte Annlise gut, sie war Andrees Mutter und Marguschs Großmutter. Früher, wenn Frau von Syrman verreiste, mußte Annlise kommen, auf die kleine Britta achtgeben.

Britta trat in das Häuschen. Die niedrige Stube war finster, nur die glimmenden Kohlen des Herdes warfen ihren roten Schein in die Dämmerung. Es roch hier nach Rauch und den Kräutern, die Annlise zu sammeln pflegte. Aus einer Ecke tönte leises Schnarchen, Margusch war es, die dort schlief, Annlise saß müßig vor ihrem Herde. »Was ist das, mein Fräulein kommt so spät?« fragte sie.

»Ja, Annlise«, erwiderte Britta, »ich komme zu dir, nach Hause will ich nicht, ich bleibe bei dir.«

»So, so«, brummte die Alte, »komm nur her.«

Britta setzte sich auf einen Schemel zu Annlise; jetzt in der sanften Wärme des Herdes fühlte sie, daß sie müde war und gefroren hatte.

»Mein Fräulein ist ja naß«, sagte Annlise und strich mit der Hand über Brittas Haar, »was ist denn geschehen? Dein Herr ist krank, ich habe es gehört, ist es denn so schlecht? Jung ist er ja auch nicht mehr.«

Da fuhr Britta auf: »Warum sprichst du so, Annlise? Ich glaubte, bei dir wird es ruhig und gemütlich sein, und nun sprichst du solche Dinge.«

»Ich sag' ja nichts, sei nur ruhig«, meinte die Alte.

Britta schwieg einen Augenblick und schaute in die Kohlen, dann fragte sie: »Fürchtest du dich vor dem Tode?«

»Was soll ich mich fürchten?« brummte die Alte. »Ich habe mich genug geplagt im Leben, was kann der Tod mir tun?«

Das klang so beruhigend, fast gemütlich. »Ich bin hungrig«, sagte Britta.

»Brot haben wir heute gebacken«, erwiderte Annlise, stand auf, holte eine Tasse Milch und ein Stück Brot.

»Iß, Kind, iß«, sagte sie.

Britta trank und aß, jetzt fühlte sie sich hier sicher und geborgen, und als sie satt war, wurde sie heiterer.

»Jetzt, Annlise«, sagte sie, »mußt du erzählen, aber nichts Trauriges. Erzähl' so was von Liebe. Wie war es, als Andrees Vater dich liebte?«

»Da ist nicht viel Gutes zu erzählen«, antwortete Annlise, aber Britta drängte sie: »Erzähle, erzähle.«

»Nun, er war hier beim Grafen bei den Pferden, der Peter«, begann die Alte, »ich war bei der Wäsche. Damals wurden die Arbeitspferde im Sommer bei Nacht auf den Klee getrieben, um zu weiden. Er hatte eine kleine Holzhütte auf Rädern, so wie ein Hundehaus, die schob er sich auf das Feld, und da konnte er hineinkriechen, wenn es regnete. Nun, wie Marjellen schon sind, ich ging damals oft des Nachts zu dem Peter hinaus auf das Feld.«

»Das war hübsch«, schaltete Britta ein.

»In den hellen Nächten war es ganz gut«, fuhr die Alte fort, »aber später, wenn die Nächte dunkel wurden, da hatten wir unsere liebe Not. Immerfort mußte der Peter nach den Pferden sehen, viel Zigeunervolk trieb sich damals hier herum, leicht konnte einer ein Pferd fortführen, ohne daß der Peter und der Hund es merkten. Wenn nun der Peter fort war, um nach den Pferden zu sehen, dann saß ich allein vor der Hütte, und da fürchtete ich mich zuweilen, besonders auf dem einen Felde, bei dem das Wasser ganz nahe ist, in dem der lange Jakob ertrank. Besoffen ist er da bei Nacht hineingegangen, nur seinen Hut und Stock fand man, ihn selbst hat man nicht gefunden, so tief ist das schwarze Wasser dort. So sitze ich einmal vor der Hütte, die Nacht ist ganz schwarz und mir so eigen zumute. Da merke ich, daß einer vor mir steht, ich denke, es ist der Peter. ›Bist du es, Peter?‹ fragte ich. Er antwortet nicht, ich fühle aber, wie es ganz kalt zu mir herüberkommt, als ob ein Windchen den Nebel vom Wasser heranbläst, und ich rieche auch einen ganz starken Geruch nach Schlamm und Sumpf. Da weiß ich, es ist der lange Jakob. Vor Furcht kann ich nicht sprechen, und ich zittere nur so am ganzen Leibe. Da höre ich, wie er einmal ganz tief aufseufzt, dann höre ich nichts mehr. Als der Peter kommt, frage ich ihn: ›Warst du eben hier?‹ ›Nein‹, sagt er. ›Dann war's der lange Jakob‹, sage ich. ›Dummheiten‹, sagt er, ›komm, kriechen wir in die Hütte‹, und da krochen wir in die Hütte.«

»Da war es sicher«, bemerkte Britta; »wenn man nah beieinander ist, dann ist es sicher, wenn auch draußen die Gespenster herumlaufen.«

»Freilich«, meinte Annlise, »ich bin damals auch nicht früher nach Hause gegangen, als bis es hell war. Ja, das waren so Zeiten. Was half es? Der Peter ging zum Militär, und ich saß da.«

»Nein, nicht das«, fuhr Britta heftig auf, »nicht das! Warum muß alles traurig enden?«

Die Alte seufzte: »Da ist nichts zu machen, Kindchen, zum Lachen sind wir nicht auf der Welt«.

Beide schwiegen nun, Britta stützte die Ellbogen auf die Knie und das Gesicht in die Hände und starrte in die Kohlen, die flüsternd verglommen.

*


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