Eduard von Keyserling
Fürstinnen
Eduard von Keyserling

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Die Fürstinnen sollten Gutheiden mit dem Morgenzuge verlassen. Alle waren früh aufgestanden, die Abreise brachte eine plötzliche Aufregung in das Haus, Zofen und Lakaien liefen hin und her, Koffer wurden getragen und die Damen und Herren des Gefolges standen noch ein wenig verschlafen beieinander und unterhielten sich zerstreut. Die Familie saß im Boudoir der Fürstin, Eleonore und die Fürstin weinten, auch über Roxanes ruhiges Gesicht rannen Tränen herab, Marie war sehr betrübt, die Trennung von den Schwestern schmerzte sie; aber sie konnte nicht weinen, und das war fatal. Man unterhielt sich mit traurigen Stimmen über gleichgültige Dinge, über Abfahrts- und Ankunftszeit, über Stationen und über das Wetter. Der Baron Fürwit, der seines Podagras wegen ein guter Wetterprophet war, hatte für heute ein Gewitter vorausgesagt. Endlich war der Augenblick des Abschiedes da, und als die Wagen davonrollten, kam ein große Ruhe über das Haus, und um die Mittagszeit war das Haus so still wie bei Nacht. Alle hatten sich zurückgezogen, um den versäumten Morgenschlaf nachzuholen.

Auch Marie sollte schlafen, allein sie fand keine Ruhe. Sie hatte dieses Frühjahr das Gefühl, als müßte sie stets auf dem Posten stehen, um nicht ein Erlebnis zu versäumen. Sie ging hinaus in die leere Zimmerflucht, hinter den zugezogenen Vorhängen hielten die gelben Atlasmöbel ihre Mittagsruhe, in die anstoßende Galerie hatte sich durch das offene Fenster eine Biene hereinverirrt und summte unzufrieden an den Nasen der großen Ahnenbilder vorüber. Im Rauchzimmer endlich lag der Baron Fürwit in einem Sessel, den Kopf zurückgebogen, und schlief, aus seinem geöffnetem Munde kam ein heiser verschlafener Ton wie das Ticken einer alten, rostigen Uhr. Leise ging Marie wieder zurück. Schon als Kind, wenn sie sich um diese Zeit in den leeren, sonnigen Zimmern befand, hatte sie eine seltsame Unternehmungslust gespürt, es mußte etwas getan werden, die Bahn war frei. Heute war diese Empfindung, daß etwas auf sie warte, besonders stark in ihr, sie hatte etwas zu tun, auf das sie sich freute und das sie mit schlechtem Gewissen tun würde, und dann wußte sie auch, was es war, sie hatte in den Park hinauszugehen.

Der Garten war still und sonnig wie das Haus, regungslos standen Tulpen und Narzissen auf den Beeten, und als Marie zwei Narzissen pflückte, waren die Blüten warm wie Menschenlippen. Sie eilte dem Park zu, sie erinnerte sich nicht, um diese Zeit hier gewesen zu sein, und alles hatte ein ungewohntes Aussehen. Da war der Teich, schwarz und unbewegt, kleine Karauschen lagen scharenweise an der Oberfläche und sonnten sich, Enten hatten sich an das Ufer in den Schatten der Weiden geflüchtet und schnatterten leise vor sich hin, selbst der Geruch des sonnenwarmen Wassers, der sonnenwarmen Blätter schien Marie neu. Weiter fort unter einer großen Ulme lagen zwei Gartenburschen auf dem Rasen und schliefen, sie streckten Arme und Füße von sich, die Mützen hatten sie über die Augen gezogen, und sie schnarchten beide, daß es wie ein rauhes Zwiegespräch klang. Marie blieb einen Augenblick stehen, diese großen Männerkörper, von dem tiefen Schlafe so hilflos und schlaff niedergeworfen, erschienen ihr merkwürdig. Als sie weiterging, erblickte sie vor sich am Ende der Allee ein rot- und weißgestreiftes Figürchen, das eilig, eilig vorwärtshastete, die niederhängenden Arme schwangen in regelmäßiger Bewegung hin und her. Das ist ja die kleine Zofe Emilie, dachte Marie, wohin die laufen mag. Jetzt biegt sie vom großen Wege ab und verschwindet hinter den Fliederbüschen, dort bleibt sie stehen, ihr weiß- und rotgestreiftes Kleid schimmert ein wenig durch, ein grüner Hut taucht auf, das mußte der junge Gärtner sein. Was sich hier nicht alles ereignet in dieser stillen, seltsamen Mittagstunde. Marie stieg eine sanfte Anhöhe hinan, dort lag der kleine Teich, ein großes, rundes Loch mit tintenschwarzem Wasser. An seinem Ufer stand die Faulbaumlaube mit dem Steintisch und der Steinbank. Auf der Bank saß Felix, den Hut hatte er abgenommen und schlief, den Kopf auf die Brust gesenkt. Marie blieb stehen und betrachtete ihn. Das durch das Laub fallende Licht machte sein Gesicht bleich, und der Schlaf gab ihm einen kindlichen Ausdruck, und doch lag etwas Bekümmertes in seinen Zügen. Der Arme, dachte Marie, das machen wohl die entsetzlichen Schulden.

Jetzt schlug er die Augen auf, einen Augenblick starrte er Marie schlaftrunken an, dann sprang er auf. »Ich bitte um Vergebung«, sagte er, »ich glaube, ich habe geschlafen.«

»Wie fest Sie schliefen«, erwiderte Marie. »Ich ging hier zufällig vorüber, und da sah ich Sie.«

Felixens Lippen zuckten, Marie kannte das, wenn seine Lippen so zuckten, wenn seine Augen dunkel wurden, dann war er zornig, dann sah er grausam aus, und sie fragte sich, was ihn wohl jetzt ärgern mochte.

»Natürlich«, begann er, »ich glaube ohnehin nicht, daß es um meinetwillen geschah. Prinzessinnen gehen immer nur zufällig vorüber.«

Maries Augen wurden rund vor Schrecken. »Warum sagen Sie das?« fragte sie. »Warum sprechen Sie so mit mir?«

Felix zog die Augenbrauen zusammen und nagte an seiner Unterlippe. »Ich bitte um Vergebung«, sagte er förmlich, »ich vergesse mich, ich weiß, ich benehme mich schlecht, ich bitte um Vergebung. Ich hoffe, Durchlaucht werden deshalb nicht gleich fortgehen. Ich verspreche tadellos korrekt zu sein, tadellos korrekt.«

Jetzt aber wurde Marie heftig, sie schlug mit den Narzissen auf die Steinplatte des Tisches, und ihre Stimme klang, als seien die Tränen ihr nahe: »Ich will gar nicht, daß man mit mir immer tadellos und korrekt spricht, aber ich weiß, es ist Hilda, die Ihnen das eingeredet hat, daß man mit Prinzessinnen nur steif und langweilig sprechen kann. Hilda verachtet Prinzessinnen, weil sie sich nicht entwickeln, weil sie nicht moderne Mädchen sind.«

Nun lächelte Felix wieder gutmütig, das erregte, blonde Mädchen mit den runden, feuchten Augen gefiel ihm so gut, und er spürte es angenehm, daß er Macht über dieses hübsche Mädchen hatte. »Wollen Durchlaucht sich nicht setzen?« sagte er.

Marie ging zur Bank und setzte sich, die Knie zitterten ihr, und das Stehen fiel ihr ohnehin schwer. »Von der ewigen Prinzessin«, fuhr sie klagend fort, »höre ich schon genug von Fräulein von Dachsberg. Prinzessin, das ist so wie ein Riegel, der vor alle Türen vorgeschoben wird, hinter denen es lustig zugeht. Sprechen Sie doch, wie Sie zu anderen Mädchen sprechen, wie Sie zu Hilda sprechen, sagen Sie, was Sie wollen, Sie brauchen auch nicht immer Durchlaucht zu sagen, das hält nur auf.«

»Wie soll ich sagen?« fragte Felix.

»Wie Sie wollen«, erwiderte Marie ärgerlich, »das müssen Sie doch besser wissen.«

Felix schaute Marie mit einem Blick nachdenklicher Überlegenheit an. »Eine Prinzessin«, meinte er, »ist ja etwas Hübsches, sie ist wie diese kleinen Madonnen, die haben rosa Gesichter und Goldtressen auf den Kleidern, sie stehen in kleinen Schilderhäuschen, und wer an ihnen vorübergeht, der verbeugt sich.«

»Ich will aber nicht allein im Schilderhäuschen stehen«, rief Marie, »was muß man denn tun, was tun die anderen Mädchen? Was tut ein modernes Mädchen?«

Felix wiegte bedächtig seinen Kopf hin und her. »Ein modernes Mädchen«, meinte er, »wenn es in den Park geht, um jemanden zu treffen, dann sagt es nicht, es sei zufällig vorübergegangen.«

Marie wurde dunkelrot. »Ach, die lügen auch zuweilen«, sagte sie, »nun gut, ich bin hergekommen, weil ich wußte, daß Sie hier sitzen werden.«

Felix lachte über das ganze Gesicht und schlug sich mit der flachen Hand auf das Knie: »Dann ist alles gut. Wie ich Sie anbete! Und sagen darf ich auch, was ich will.«

Marie nickte: »Also sagen Sie.«

»Damals dort unter den Johannisbeeren«, begann Felix, »da fing es an, und seitdem hat es mich nicht losgelassen. Als Sie vorigen Sommer verreist und als Sie im Winter in Italien waren, da war der Urlaub für mich wie verloren, traurig wie die Kaserne. Hilda war wütend, sie sagte, es sei dumm, sich in eine Prinzessin zu verlieben, dabei komme nichts heraus. Nein, vielleicht kommt dabei nichts heraus, ein Avancement gibt es dabei Gott sei Dank nicht, für das man sich schinden muß. Bei den schönsten Dingen kommt nie etwas heraus, die haben keine Zukunft. Und wenn Sie heute hierhergekommen sind und wenn wir hier beieinandersitzen und ich Ihnen alles sagen darf, ist das nicht schon viel? Ist das nicht kolossal viel?«

Marie hielt die Hände im Schoße gefaltet, ihr Gesicht war ernst, als hörte sie einer Andacht zu, einer seltsam erregenden Andacht.

»Eines könnten wir noch tun«, sagte Felix nachdenklich.

Marie lächelte matt, ließ die Arme schlaff an sich niedergleiten und fragte: »Was muß ich noch tun?«

Diese Willenlosigkeit, die sie schwach machte, tat ihr wohl. »Ich denke, wir gehen dort durch das Tor hinaus«, schlug Felix vor, »drüben ist ein Stück Heideland und eine kleine Kiesgrube, und dort in der Kiesgrube da muß es jetzt wundervoll sein.«

Marie schüttelte den Kopf, nein, das war zu gefährlich.

»Es ist gefährlich«, gab Felix zu, »aber zusammen in einer Gefahr sein, das befreundet.«

Allein, Marie wollte das nicht wagen, nein, das ging nicht.

»So, so, das geht nicht«, wiederholte Felix kleinlaut. Einen Augenblick schwiegen beide. Drüben in der Allee tauchte wieder das rot- und weißgestreifte Figürchen der Zofe auf und rannte, die Arme hin und her schwingend, dem Schlosse zu. »Diese kleine Zofe«, sagte Felix, »sehe ich jedesmal, wenn ich hier sitze. Sie läuft in die Fliederbüsche zu ihrem Burschen.«

Marie erhob sich von der Bank. »Gehen wir also in Ihre Kiesgrube«, sagte sie entschlossen.

Vorsichtig schlichen sie unter den Flieder- und Faulbaumbüschen bis an das Parktor. Dort führte die Landstraße vorüber, und jenseits derselben lag das Heideland und die kleine Kiesgrube. Es ging steil in sie hinab und Marie mußte sich fest auf Felix stützen. Unten war es voller Sonnenschein, vorjähriges Heidekraut bedeckte die Wände, hier und da das große Blatt einer Klettenstaude und die goldene Puschel einer Löwenzahnblüte, es roch nach warmem Sand.

»Bitte, sich zu setzen«, sagte Felix und rieb sich vergnügt die Hände, »hier auf das Heidekraut, das knistert wie Seide, nicht wahr? Ein famoses Chambre à part. Wir sind hier sozusagen aus der Welt fort, nichts ist mehr da, fühlen Sie nicht, wie die Prinzessin hier von Ihnen abfällt?«

»Ja«, meinte Marie, »ich glaube, ich fühle so etwas.«

Da schob Felix seinen Arm um ihre Taille, sie wunderte sich ein wenig darüber, sie dachte jedoch, das muß wohl so sein. Dann beugte er sich über sie und küßte sie.

Marie fühlte seine heißen Lippen, seinen kleinen Schnurrbart auf ihren Lippen. Es ging ihr durch den Sinn: Also das ist das, wovon Hilda spricht, und habe ich dabei auch etwas zu tun, vielleicht muß ich meine Arme um seinen Hals schlingen, und sie schlang ihre Arme um seinen Hals. Es mußte wohl das rechte sein, denn ihr wurde dabei warm um das Herz.

Befriedigt lehnte Felix sich in das Heidekraut zurück und schloß die Augen. »Ach, süße Durchlaucht«, sagte er, »schön, schön ist es hier, wenn ich die Augen schließe, höre ich etwas klingen, das ist mein Blut, es zirpt wie die Feldgrillen.«

»Ich kann die Augen nicht schließen«, erklärte Marie kleinlaut, »wenn ich die Augen schließe, dann fürchte ich mich; ich fürchte mich davor, daß ich hier bin und daß Sie hier sind, und ich sehe das Schloß und Fräulein von Dachsberg, die mich sucht.«

»Nur keine Gewissensbisse«, fuhr Felix auf, »Gewissensbisse sind gewöhnlich, Gewissensbisse verderben alles. Wir werden uns solange nicht wiedersehen«, fuhr er gefühlvoll fort, »heute nachmittag fahre ich mit meinem Vater zu einem langweiligen, alten Onkel, dort bleiben wir zwei Tage und kommen dann abends spät nach Hause, und morgens früh geht es dann wieder fort in den Dienst. Also nur eine Nacht bin ich noch hier, aber diese eine Nacht werde ich dort im Parke auf der Bank sitzen.«

»Im Park?« fragte Marie erstaunt. »Ich kann doch bei Nacht nicht in den Park kommen.«

»Nein, das können Sie vielleicht nicht«, fuhr Felix fort, »gleichviel, ich werde die ganze Nacht auf der Bank sitzen und an Sie denken und auf etwas Unmögliches warten, auf ein Wunder.«

»Ich kann ja nicht einmal aus meinem Zimmer heraus«, stöhnte Marie gequält, »ohne daß Emilie es merkt.«

»Nun, die kleine Zofe Emilie«, meinte Felix, »die würde die richtigen Wege wohl wissen. Aber ich sage nicht, daß es möglich ist, ich sage nur, ich werde auf der Bank sitzen.«

Unruhig wandte Marie sich im Heidekraut hin und her. »Nie werde ich das tun!« wimmerte sie. Sie empfand jetzt diesen fremden Willen, der Macht über sie hatte, wie etwas Schmerzhaftes. Felix antwortete nicht.

Lautlos schwirrten kleine blaue und goldbraune Schmetterlinge über sie hin, leise vor sich hin scheltend kamen Hummeln zu den Löwenzahnblüten, hoch oben aber über den hellblauen Himmel flogen Schwalben pfeilschnell dahin und stießen schrille, kleine Jauchzer aus, die Marie unendlich sorglos schienen.

»Jetzt müssen wir wohl gehen«, sagte Felix.

Sie standen auf und kletterten die steile Wand der Kiesgrube hinan. Sie sprachen nicht miteinander, Marie hatte das Gefühl, schuldig zu sein, und das machte sie elend. Als sie glücklich am Parktor angelangt waren, küßte Felix ernst Marie die Hand und sagte: »Leben Sie wohl, hier auf der Bank werde ich an sie denken.« Marie wußte nichts darauf zu erwidern, und so trennten sie sich.

Jetzt hatte Marie Eile, nach Hause zu kommen, sie lief fast, und unwillkürlich schwenkte sie die Arme, wie sie es bei der Zofe Emilie gesehen. Im Schlosse ging Fräulein von Dachsberg schon durch die Zimmer und suchte die Prinzessin; sie war sehr ungehalten, daß Marie so erhitzt war, der Doktor hatte jede stärkere Erhitzung verboten. Das Sitzen um die Mittagszeit im Garten war unzuträglich, jetzt konnte an einen Spaziergang nicht gedacht werden, die Prinzessin sollte ruhig im Boudoir sitzen und Fräulein von Dachsberg wollte ihr vorlesen. Sie nahm Vilmars Literaturgeschichte und las von den Meistersängern in Nürnberg. In ihrer Stimme zitterte die Unzufriedenheit nach. Marie lag im Sessel und hörte nicht zu. Sie hatte Herzklopfen und war todmüde. An das eben Erlebte dachte sie wie an etwas, das schon sehr fern schien, es war so unwahrscheinlich. Was hatte die kränkliche Prinzessin hier, der Fräulein von Dachsberg Vilmar vorlas, zu tun mit dem Mädchen dort in der Kiesgrube, das sich von Felix küssen ließ? Von diesem Mädchen ließ sich auch das Unmögliche erwarten, es würde ruhig bei Nacht in den Park gehen. Mit der kleinen Emilie ließ sich reden, sie konnte ihr Geld geben, sie konnte ihr damit drohen, daß sie gesehen hatte, wie sie in die Fliederbüsche zum jungen Gärtner ging. Das wäre natürlich unedel, aber so war das Leben.

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