Eduard von Keyserling
Fürstinnen
Eduard von Keyserling

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Der Morgen der Abreise nach Karlstadt kam. Für Marie waren die vorhergehenden Tage schon unerfreulich gewesen. Die anderen waren so sehr beschäftigt, man sprach von Toiletten, von Koffern, von der Abfahrtszeit der Züge, nur sie hatte nichts zu tun, sie konnte mit den Erzieherinnen spazierengehen und allein dem Geschichtsvortrag des Professors Wirth zuhören. Als der Augenblick der Abfahrt kam, hing Marie an Roxanes Halse und weinte leidenschaftlich, aber sie war mit ihrem Schmerze ziemlich allein. Selbst Roxane, von der Erregung der Abfahrt hingenommen, brachte es zu keiner tieferen Rührung. So fuhren sie denn ab. Marie ging in ihr Zimmer, warf sich auf das Bett und schluchzte. Zuweilen kam Alwine, nach ihr zu sehen, stand da und versuchte es, ihr zuzureden: »Wozu das Weinen? Wie lange wird es dauern, und Prinzeßchen wird selbst Hochzeit halten.«

Allein das konnte Marie nicht trösten. Zum Frühstück erschien sie mit verweinten Augen, saß wortlos da und ärgerte sich darüber, daß Fräulein von Dachsberg, der Major, Mademoiselle Laure, alle, die sonst bei Tisch zu schweigen oder nur halblaut zu sprechen pflegten, heute eine laute Unterhaltung führten. Nach dem Frühstück ging sie in den Garten hinaus und streckte sich unter dem alten Pflaumenbaum platt auf den Rasen hin. Sie lag ganz still da, die tiefen, beruhigenden Stimmen der Hummeln sangen nahe an ihrem Ohr vorüber, Libellen setzten sich auf ihre Brust, aber sie regte sich nicht, sie lag da wie tot. Ja, das hätte sie denen im Schlosse gegönnt, wenn sie wirklich tot gewesen wäre, gestorben an Vereinsamung und Enttäuschung. Plötzlich fuhr sie auf, die Dühnenschen Jungen mußten gleich kommen. Sie beschloß, die Knaben heute am Gitter zu erwarten, es war unschicklich, sie wußte es, aber gerade das wollte sie. Sie erhob sich und ging, sich am Gitter aufzustellen. Da kamen sie schon, gerade bogen sie auf die Landstraße ein, voran Coco, die Hände voller Kieselsteine, mit denen er nach den Stäben des Gartengitters warf. Als er Marie sah, blieb er verwundert stehen.

»Holla!« rief er, »heute nur eine.« Auch die beiden anderen Knaben blieben stehen und grüßten.

»Heute allein?« fragte Felix und errötete.

Auch Marie errötete: »Ja«, erwiderte sie, »meine Mutter und meine Schwestern sind verreist.«

Da Felix nichts mehr zu sagen wußte, führte Marie die Unterhaltung weiter: »Haben Sie gebadet?«

Ja, sie hatten gebadet.

»Baden Prinzessinnen nicht?« fragte Coco.

Marie antwortete darauf nicht, sondern wandte sich wieder an Felix: »Ist es weit, dort, wo Sie baden?«

»Nein«, erwiderte er, »gleich hier um die Ecke auf der kleinen Wiese am Waldrande.«

»Ist es dort schön?« forschte Marie weiter.

»Kennen Sie das nicht?« fragte Felix erstaunt, »Wenn Sie hier über den Weg gehen, sind Sie gleich da«, und plötzlich erhellte ein schlaues Knabenlächeln Felix' sonst so ernstes Gesicht, »wir führen Sie hin«, schlug er vor.

»Wie kann ich?« stotterte Marie, und das Herz schlug ihr stärker.

»Nun«, meinte Felix, »Wir laufen ganz schnell über den Weg und die Wiese hinab, im Walde sieht uns keiner.«

Ein leichter Schwindel ergriff Marie, wie er Menschen ergreift, die sich mit einem plötzlichen Entschluß blindlings in eine große Gefahr stürzen. »Warten Sie«, sagte sie, und lief zu der kleinen Gitterpforte des Gartens, und dann stand sie auf der Landstraße.

»Sie kommt! Sie kommt!« triumphierte Coco.

»Nun los!« kommandierte Felix, und sie begannen zu laufen. Von der Landstraße bogen sie auf eine kleine, gemähte Wiese ab. Der Boden war dort feucht, bei jedem Schritte gab es ein leise glucksendes Geräusch, und ein wenig schwarzes Wasser spritzte über die Schuhe. Da war auch der kleine Fluß blitzend im Mittagsscheine, umstanden von hohem, grünem Schilfe. Hier roch es nach Wasser, nach Schilf und feuchter Erde. Eine seltsam aufregende Abenteurerluft, dachte Marie. Und endlich waren sie am Waldrande, Marie blieb stehen, legte die Hand auf die Brust und rang nach Atem.

»Tüchtig gelaufen«, bemerkte Felix.

Marie versuchte zu lächeln: »Es ist nichts«, sagte sie, aber das Weinen war ihr nahe.

»Jetzt können wir langsam gehen«, meinte Felix. Bruno und Coco liefen voraus, sammelten Tannenzapfen und warfen damit nach einem Eichkätzchen, das von einem Baume spöttisch auf sie niedersah. Felix ging neben Marie her und machte höflich den Wirt des Waldes. Alte Tannen standen hier mit majestätisch niedergebogenen Zweigen und grauen Moosbärten, weiter fort kam dichtes Unterholz, mächtige Wurzeln schlängelten sich über den Boden, der mit grünem und rotem Moose bedeckt war. Die Sonne sprühte auf den Tannennadeln, und die Luft war schwer von warmem Harzgeruch. »Ja, mit den Wurzeln muß man sich hier in acht nehmen », sagte Felix, »man sieht sie nicht, und dann fällt man. Das dort ist eine Eidechse, soll ich sie fangen? Sie hat einen gelben Bauch.«

»Ach nein«, bat Marie.

»Oh, sie tut nichts«, sagte Felix, »ja, Heidelbeeren gibt es hier auch, aber wir kommen an eine Stelle, da gibt es mehr davon, da können wir uns voll essen.«

Marie blieb stehen und lauschte einem Ton, der durch das Gehölz zu ihr drang. »Was ist das?« fragte sie.

»Das sind die Tauben«, berichtete Felix. »Am Morgen, wenn man sich unter einen abgestorbenen Baum stellt und sie lockt, dann kommen sie.« Und Felix begann den Ruf der Waldtauben nachzuahmen.

»Das können Sie gut«, sagte Marie bewundernd.

Felix zuckte die Achseln: »Ich kann noch viele Vögel locken«, meinte er. Allerdings, dieser Wald war anders interessant als der Wald, durch den Marie nachmittags mit der Kalesche fuhr oder in dem sie mit Fräulein von Dachsberg, den Lakaien hinter sich, spazierenging. Und wie zu Hause die Knaben hier waren, Bruno und Coco sprangen umher wie in einer großen Spielstube, und Felix sprach von den Tannen und Eidechsen wie von Kameraden, und es war ihr demütigend, nicht auch zu dem allen zu gehören, sondern hier umherzugehen wie ein fremder Besuch. Jetzt kamen sie an einen kleinen Bach, der sich durch die schwarze Walderde durchwühlte, auch sein Wasser war schwarz, nur hie und da mit einer grünen Pflanzendecke überdeckt. Ein morsches Brett diente hier als Brücke. Coco und Bruno liefen sicher hinüber und ließen das Brett schaukeln.

»Können Sie hinüber?« fragte Felix höflich.

»O ja«, antwortete Marie zuversichtlich, aber das Herz klopfte ihr, das Brett war schlüpfrig und schaukelte, sie fürchtete zu fallen, und - dann fiel sie auch schon, stand mitten in dem schwarzen, lauwarmen Wasser, und am Ufer erhoben Bruno und Coco ein lautes Gelächter. Hilfesuchend schaute sie zu Felix auf, aber auch dessen höfliches Gesicht war von einem breiten, höhnischen Knabenlachen verzerrt. Auf einem großen Blatte saß eine dicke Kröte und sah sie starr und verdrießlich an, und über ihr in den Baumwipfeln lachten die Waldtauben.

Das ist ja wie ein ganz, ganz böser Traum, dachte Marie, und sie begann zu weinen.

Endlich sprang Felix herzu, streckte ihr die Hände entgegen und sagte gutmütig: »Kommen Sie.« Mühsam wurde Marie an das Ufer hinaufgezogen, da stand sie dann, das Kleid schwarz und naß, die Füße schwer von Schlamm. Sie weinte noch immer, und Coco lachte noch immer sein wildes Lachen, Felix aber wurde ernst und nachdenklich. »Das ist dumm, was tun wir?« sagte er. Er besann sich und faßte einen Entschluß. »Bitte, Prinzessin Marie, gehen wir hier hinein«, wandte er sich jetzt wieder sehr höflich an Marie und führte sie in das Dickicht an einen kleinen mit Moos und Heidekraut bedeckten Platz, der ganz von jungen Tannen umstanden war. »Bitte es sich hier bequem zu machen«, fuhr Felix fort, »hier sieht Sie keiner, hier sind unsere Badetücher, bitte. Ich laufe schnell nach Hause und sehe, ob ich etwas Trockenes erwische. Ich bin bald wieder da, Sie können ganz ruhig sein.«

Damit ging er. Marie ließ sich auf das Moos nieder, sank kummervoll in sich zusammen. Ihr war sehr elend zumute, jetzt hatte sie Gewissensbisse, was würden die zu Hause sagen, aller Mut, alle Abenteuerlust waren gewichen, und sie war nur noch das kleine Mädchen, das fürchtete, gescholten zu werden. Mechanisch begann sie sich die Strümpfe und Schuhe auszuziehen, legte die nassen Röcke ab und hüllte sich in die Badetücher. Der Erregung folgte eine große Müdigkeit und eine dunkle Ergebung. Aus der Ferne hörte sie die Stimmen der beiden Knaben, Coco sang: »Ich habe die Beine der Prinzessin gesehen!« Sie streckte sich auf das Moos aus, über ihr in einem lichtblauen Himmel wiegten sich Tannenwipfel langsam hin und her, um sie an den Zweigen schaukelten sich winzige Spinnen an blanken Fäden, und Meisen flogen lautlos hin und her wie kleine, graue Federknäuel, alles war so beruhigt und sorglos, es war fast demütigend hier zu liegen und ein böses Gewissen zu haben. Der Wald sang seine Töne zu ihr herüber, ein Specht arbeitete unermüdlich irgendwo, und der Eichelhäher stieß zuweilen seinen erregten Wacheruf aus. Marie streckte sich, die Sonne schien jetzt warm auf ihre nackten Füße. Wenn es nicht so schrecklich gewesen wäre, so hätte es gemütlich sein können, dachte sie, griff nach einigen Heidelbeeren, die neben ihr wuchsen und aß sie. Über ihr auf einem Föhrenzweig ließ sich ein großer, blauer Vogel nieder, ruhig saß er da, und äugte auf Marie herunter. Sie aber empfand es wie eine Ehre, daß der schöne Vogel auf sie wie etwas Bekanntes und Hierhergehöriges herabsah. Sie schloß die Augen, sie dachte nicht mehr an das Schloß und an Fräulein von Dachsberg, das alles schien plötzlich unendlich weit, sie dachte an nichts mehr; ein süßes Daseinsbehagen erwärmte ihren Körper, es war ihr, als wiegte sie sich wie die besonnten Tannenwipfel dort oben im Blau sachte hin und her, oder als würde sie wie die kleinen Spinnen an silbernen Fäden sanft geschaukelt.

Sie wurde von etwas aufgeschreckt, das auf sie niederfiel. Sie richtete sich auf, mißmutig darüber, daß sie gestört wurde. In ihrem Schoß lag ein Paket in eine Zeitung gewickelt, und als sie es öffnete, fand sie darin ein Paar Knabensocken und eine reingewaschene blaue Leinwandhose. Ratlos blickte sie die Gegenstände an, dann legte sie sich zurück und begann zu lachen, lachte so, daß es ihren ganzen Körper schüttelte und ihr warm dabei wurde. Das gab ihr neuen Mut. Gut, es ging auch so. Sie zog die Socken an, schlüpfte in die Leinwandhose, legte darüber ihre nassen Kleider an und trat so aus dem Dickicht hervor. Die drei Knaben empfingen sie ernst, gewaltsam hielten sie ihre Gesichter und ihre Lippen in Zucht. »Nicht wahr, Prinzessin«, sagte Felix zeremoniös, »so geht es auch, etwas anderes war nicht zu haben.«

»Oh, ich danke«, erwiderte Marie, jetzt wieder ganz Prinzessin, »so ist es sehr gut.«

Sorgsam wurde sie über den gefährlichen Steg geleitet, und auf dem Gang durch den Wald gab Felix Anleitungen dazu, wie sie ungesehen an das Haus gelangen könnte. Er tat das mit der Sachkenntnis eines, der in verbotenen Unternehmungen wohl bewandert ist. Auf der Wiese begannen sie wieder zu laufen, jagten über die Landstraße hin und hielten vor der Gittertüre des Schloßgartens.

»Ich danke Ihnen«, sagte Marie jetzt wieder befangen, »es war doch sehr schön.«

»Das machen wir jetzt öfters«, meinte Felix, dann trennten sie sich.

Vorsichtig schlich Marie durch die Stachel- und Johannisbeerbüsche, den Buchsbaumhecken entlang, dem Schlosse zu, das noch schweigend in seiner Mittagsruhe dalag. Wäre nicht ihr nasses Kleid gewesen, und die übel zugerichteten Schuhe, sie hätte das eben Erlebte für einen Traum halten können, so unwahrscheinlich erschien es ihr hier mitten in der altgewohnten feierlichen Stille. Ungesehen gelangte sie an die Hintertüre des Schlosses und in ihr Zimmer. Dort klingelte sie nach Alwine, die würde schelten, aber sie nicht verraten. Vordem jedoch zog sie die leinene Hose aus und verbarg sie.

Alwine kam, und als sie erfahren hatte, was geschehen war, schalt sie sehr heftig: »Eine Prinzessin, die sich mit fremden Jungen im Walde umhertreibt, hat man je so etwas gesehen! Es war eine Schande! Das wird eine schöne Königin geben. Ich möchte das Volk sehen, das solch eine Königin will.« Marie mußte sich zu Bett legen und ruhig liegenbleiben, Alwine wollte draußen sagen, die Prinzessin habe Kopfweh und dürfe nicht gestört werden.

Als die Alte fort war, schloß Marie die Augen, nein, sie bereute nichts, sie war nur sehr müde und schlief lächelnd ein.

Marie erwachte heiter und erquickt. Sie mußte sich zuerst darauf besinnen, was denn Besonderes geschehen war, und dann wußte sie es, in ihr einfaches Prinzessinnenleben hatte sich ein Geheimnis, eine lustige Ungeheuerlichkeit, eingeschlichen, die ihr entgegenkicherte, sobald sie daran dachte. Und sie dachte viel daran. Sie dachte daran, wenn der Baron Fürwit sie zum Diner führte, und sie dachte daran während des Essens, mitten in der Feierlichkeit des Eßsaals, vor dem weiß und silbernen Altar des Eßtisches, und dann spürte sie ordentlich wieder den Hauch der Moorerde, des Harzes und der Tannen. Abends ging sie mit Mademoiselle Laure im dunklen Garten auf und ab, und Mademoiselle erzählte von der Pension und den Studenten. Als sie schlafen ging, bat sie Alwine, ein wenig bei ihr zu bleiben, denn sie fürchtete sich allein in dem großen, weißen Zimmer. Es war behaglich, vom Bette aus Alwines friedliches Gesicht, mit der großen Brille über den Strickstrumpf gebeugt und von der Lampe hell beschienen, vor sich zu haben.

»Alwine«, sagte Marie, »warst du hübsch, als du jung warst?«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Alwine verdrießlich, »Prinzeßchen soll schlafen.«

Aber Marie fragte weiter: »Alwine, liefst du auch zuweilen mit fremden Jungen in den Wald?«

»So was fragen Prinzeßchens nicht«, antwortete die Alte.

Marie schaute zur Decke empor. Ja, das eigentliche Leben eines jeden sind seine Geheimnisse, das war ihr jetzt klar. Alle hatten sie ihre Geheimnisse, alle, das ganze Schloß war voll davon. Mademoiselle Laure hatte einmal erzählt, wenn sie sich zur Mittagsruhe in ihr Zimmer zurückzieht und ihre Türe verschließt, dann tanzt sie ganz allein für sich oft eine Stunde lang, denn, sagte sie, das Leben hier im Schlosse war kein Leben, »on étouffe«. Ja, das war es, so machten sie es alle, das ganze Schloß mit seinem feierlichen Leben war voll von solchen verschlossenen Türen, hinter denen die Leute heimlich tanzten. Alle taten sie das, der alte Baron Fürwit und das traurige Fräulein von Dachsberg, der Major, die kleine Baronin Dünhof und die Mama - ja, auch die Mama. Und dieser Gedanke erregte Marie so sehr, daß sie mit ihrem ganzen Körper aufschnellte wie eine Forelle im Wasser.

»Heute sind Prinzeßchen aber schlimm«, brummte Alwine.


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