Eduard von Keyserling
Fürstinnen
Eduard von Keyserling

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Nach der Abfahrt des Erbprinzen wurde gleich wieder eine Reise nach Karlstadt an den herzoglichen Hof geplant. Von Marie war dabei nicht die Rede, das empörte sie so sehr, daß sie den Mut fand, sich gegen ihre Mutter darüber zu äußern.

»Bei der Reise nach Karlstadt wird auf mich wohl nicht gerechnet?« begann sie.

»Nein, mein Kind«, erwiderte die Fürstin und schaute ihre Tochter zerstreut an, »aber deine Zeit wird auch kommen, werde nur recht gesund.«

»Ich bin gesund«, sagte Marie und zog ein wenig die Augenbrauen zusammen, »ich meine nur, für mich ist also kein Vergnügen in Aussicht.«

Die Fürstin gab darauf keine Antwort. Sie mußte aber darüber nachgedacht haben, denn eines Tages hieß es, die Prinzessinnen würden mit der Baronin Dünhof in die Stadt fahren, um im Theater Schillers Räuber zu sehen.

Den Tag über hatte es geregnet, gegen Sonnenuntergang klärte sich der Himmel auf, die Fahrt im großen Automobil war erfrischend. Marie schaute durch das Wagenfenster mit runden, wachsamen Augen auf das vorüberziehende Land, auf diese Außenwelt, in der das Leben so seltsam selbstverständlich erschien. Die Wolken standen jetzt wie zerklüftete, kupferrote Gebirgszüge am Horizont, Schafe wurden heimgetrieben, ganz rosa im Abendschein zogen sie langsam über die gelben Stoppelfelder, Hüterkinder sangen aus voller Kehle, kleine struppige Dorfhunde riefen sich aufgeregt die Nachricht zu, daß ein Gefährt komme. In den Dorfgärten standen Frauen, die Schürzen voller Salatblätter, schauten auf die Straße hinab und verzogen die Gesichter, als täte die schnelle Bewegung des Wagens ihnen weh. Die Sonne ging unter, die Wälder wurden schwarz und das Land grau. In der Stadt dunkelte es schon, bleich und glasig stand der Schein der Gasflammen in der Dämmerung. Die Straßen waren belebt, langsam gingen die Leute in der Abendkühle auf dem Trottoir dahin, blieben zuweilen stehen und sprachen laut über die Straße hinweg miteinander. Einige Fenster waren schon erleuchtet, und die Vorüberfahrenden sahen in Stuben hinein mit großen Sofas und runden Tischen. Hier saßen Kinder um eine Lampe und machten ihre Schularbeiten, dort wurde zu Abend gegessen, eine Frau mit großer weißer Haube biß in eine Semmel. Aus den kleinen Läden erklang beständig der dünne, schrille Ton der Türglocken. Wie eng die Menschen hier beieinander waren, dachte Marie, und wie eifrig sie lebten. - Das Automobil hielt vor dem kleinen Theater, Menschen hatten sich hier angesammelt, um die Prinzessinnen aussteigen zu sehen. Die Baronin Dünhof und der Baron Fürwit schienen aufgeregt, sie gaben dem Lakaien leise Befehle, flüsterten Französisch miteinander und liefen in der Vorhalle neben den Prinzessinnen her, als müßten sie sie vor etwas schützen. Erst als man eine Treppe hinaufgestiegen war und sich in der Loge befand, mußte alle Gefahr vorüber sein, denn die Baronin murmelte: »Gott sei Dank.«

Das Theater war schon gefüllt, all die Gesichter, die vom Parkett zur Loge der Prinzessinnen hinaufsahen, die Gläser, die sich aus den anderen Logen auf sie richteten, dazu der Geruch von altem Plüsche, von Kulissen und Gas, all das erschien Marie fremd und spannend. Nun verdunkelte sich das Theater, und der Vorhang ging in die Höhe. Marie folgte aufmerksam den Vorgängen auf der Bühne, allein der alte gebrechliche Graf, der alles glaubte, was man ihm einredete, der kleine rothaarige Franz mit seinen Schurkenstreichen ließen sie kühl, und sie freute sich, als das Theater im Zwischenakt wieder hell wurde und sie sich im Raume umsehen konnte. Es war unterhaltend, in das Stimmengewirr unten im Parkett hineinzulauschen, die Menschen zu sehen, wie sie einander begrüßten, miteinander plauderten, würdig ihre Theatertoiletten trugen. Da war die Konditorsfrau mit einem gelben Vogel auf dem Hut, dort stand Professor Wirth, die Dame neben ihm mußte seine Gemahlin sein, schön war sie nicht, sie sah aus, als habe sie Migräne. Gern hätten die Prinzessinnen über die Leute da unten zusammen gelacht, allein sie mußten ihre Haltung bewahren. Unterdessen kam Besuch in die Loge, der Landrat erschien und sprach vom jungen Schiller: »Welch eine Kraft in diesem jungen Menschen, ja geradezu ein Vulkan.« Die Gräfin Dühnen kam und plauderte mit der Baronin Dünhof. In der Loge, gerade den Prinzessinnen gegenüber, saß eine Dame im schwarzen Kleide, die schwarzen Haarscheitel, flach über die Ohren gekämmt, umrahmten ein bleiches, scharfes Gesicht, neben ihr ein sechzehnjähriges Mädchen im schlecht gemachten grünen Kleide, das reiche, schwarze Haar lockte sich ein wenig wild, und das runde Gesicht mit den großen schwarzen Augen, den breiten, roten Lippen hatte einen so wunderbaren Glanz lachenden jugendlichen Lebens, daß Marie es erstaunt ansah und fühlte, wie das Herz ihr heiß wurde von einer Bewunderung, die fast schmerzhaft war.

»Wer ist denn dort unser Visavis?« hörte sie die Baronin Dünhof fragen.

»Ach, eigentlich niemand«, erwiderte die Gräfin Dühnen, »eine Frau von Syrman, sie hat in unserem Walde das alte Forsthaus gemietet für den Sommer, und ich glaube auch für den Winter. Sie soll eine geschiedene Frau sein, dunkle Verhältnisse, man verkehrt nicht mit ihr.«

»Das Mädchen scheint hübsch«, meinte die Baronin.

»Brutal!« sagte die Gräfin, »von Erziehung wird da wenig die Rede sein. Das wächst auf wie ein Pilz.«

Das Theater verdunkelte sich wieder, und das Spiel nahm seinen Fortgang. Die Studentenszene interessierte Marie nur wenig, auch Armin Biber als Karl Moor, von dem Hilda Üchtlitz eine Zeitlang soviel gesprochen hatte, enttäuschte sie; sie dachte lieber an das schwarze Mädchen drüben in der Loge. Die Worte der Gräfin hatten ihr weh getan, das arme, schöne Mädchen, sie wächst auf wie ein Pilz, und Marie sah deutlich einen der kleinen, feuerroten Pilze, wie sie im Moose stehen, das Köpfchen blank vom Tau, leuchtend wie ein Edelstein. Ja, denen glich das schöne Mädchen, von dem Marie jetzt wußte, daß sie es liebte, und sie konnte den Augenblick kaum erwarten, da sie es wieder würde sehen können. Während des Zwischenaktes wandte Marie die Blicke nicht von der gegenüberliegenden Loge ab. Alles an dem schwarzen Mädchen gefiel ihr und rührte sie, die Art, in der es beide Arme auf die Logenbrüstung stützte, wie ein müdes Schulmädchen sich auf den Schultisch stützt, wie es sorglos den Körper herumwarf und beim Lachen den Mund öffnete und die Zähne sehen ließ, wie es Gefrorenes aß, den Löffel ganz voll nahm und herzhaft zum Munde führte, als äße es Suppe. In dem allen lag etwas, über das Marie gern gelacht und geweint hätte. Auf der Bühne wurde es mittlerweile auch interessanter, Karl Moor war Räuber geworden, er trug einen kleinen schwarzen Schnurrbart, einen breitkrempigen Hut und roten Mantel. Beim Sonnenuntergange lagerte er mit seinen Räubern im Walde, schön und traurig, und seine großen, schmerzvollen Worte erfüllten Marie mit einem unendlich feierlichen Mitleid, alles hätte sie getan, um den armen, schönen Mann zu trösten. Ohne daß sie es wußte, rannen ihr die Tränen über die Wangen. Als sie nach Schluß des Aktes zu der Loge der Frau von Syrman hinübersah, entdeckte sie, daß auch das schwarze Mädchen verweinte Augen und tränenfeuchte Wangen hatte. Die Blicke der beiden Mädchen trafen sich, und unwillkürlich lächelten sie einander an. Das machte Marie glücklich, es war ihr, als hätte sie einen Bund geschlossen mit dem Mädchen drüben und mit dem schönen Armin Biber, er, der seine großen Schmerzen litt, und sie, die über ihn weinten. Von nun an erzitterte ihr ganzes Wesen in einer seltsam schmerzvollen und doch wohltuenden Ekstase, entrüstet wies sie ein Glas Limonade zurück, das ihr angeboten wurde, sie konnte jetzt nicht an Limonade denken. Während des Spieles weinte sie um Karl Moor, während der Pausen lächelte sie zu Fräulein Syrman hinüber, und als das Stück aus war, als alles sich zum Aufbruch rüstete, und die Baronin Dünhof und der Baron Fürwit aufgeregt den Rückzug organisierten, erwachte sie wie aus einem schicksalsschweren Traume.

Marie drückte sich in die Wagenecke, versonnen und verweint träumte sie vor sich hin. Die Straßen des Städtchens waren jetzt stiller, die Vorhänge an den Fenstern niedergelassen. In einem Fenster, das offen stand, lehnte ein Mädchen und sprach mit einem Herrn unten auf der Straße, ein kleiner Biergarten war hell erleuchtet und Musik scholl aus ihm herüber. Das Leben geht hier weiter, dachte Marie, das Leben, zu dem auch Armin Biber und das schöne Mädchen gehörten, sie aber fuhr hinaus in das nächtliche, schweigende Land. Doch sie hatte jetzt mitzutragen an Karl Moors Schmerzen, hatte zu tragen an dem Mitleid für das schöne Mädchen, von dem die anderen schlecht sprachen und das sie verachteten, sie gehörten jetzt zu ihr, sie nahm sie mit in ihre Einsamkeit.

*

Mariens Leben war jetzt um einen erregenden Traum reicher, einen Traum, vor dem die Ereignisse des Tages verblaßten. Die Fürstin fuhr mit Eleonore nach Karlstadt, um Eleonores Verlobung zu feiern. Marie ertrug es ohne allzu große Empörung, daß sie zurückbleiben mußte. Auf den Spaziergängen mit Fräulein von Dachsberg oder Mademoiselle Laure war sie schweigsam, in den Unterrichtsstunden des Professors Wirth schweiften ihre Gedanken weit ab. Sie fühlte ein großes Bedürfnis, allein zu sein. Der Arzt hatte gemeint, die Herbstluft würde ihr gut tun, so irrte sie denn unablässig im Garten umher und wies schroff jede Begleitung ab. »Wenn Sie mich kontrollieren wollen«, sagte sie zu Fräulein von Dachsberg, »so können Sie das vom Fenster aus tun, ich gehe ohnehin nur vor dem Hause auf und ab.«

Fräulein von Dachsberg zog ergeben die Augenbrauen hinauf und sagte zum Baron Fürwit: »Prinzessin Marie wird immer schwieriger.«

Der Baron nickte: »Ja«, meinte er, »ihr fehlt die Hofluft, es ist schwer, Kamelien in Spargelbeeten zu ziehen.«

Die Herbsttage waren hell und kühl. Nachtfröste versengten die Köpfe der Dahlien, das Laub der Parkbäume wurde gelb und rot, und auf den Wegen der Allee raschelten schon welke Blätter. Drüben im Obstgarten hörte man das beständige Fallen der Äpfel, und ihr säuerlicher Duft erfüllte den Garten. Die Johannisbeeren in der Grube am alten Pflaumenbaum verloren ihre Blätter, die Trauben schrumpften ein und schmeckten ganz süß. Hier nun ging Marie, fest in den langen Herbstpaletot geknüpft, die Hände im Muff verborgen, mit kleinen, eiligen Schritten auf und ab. Ihr Gesicht hatte einen seltsam gespannten Ausdruck, ihre Augen schauten drein, als müßten sie sehr scharf in die Ferne sehen. Marie dachte an Armin Biber, ja, sie sah ihn, er kam durch die Allee auf sie zu, mit seinem breitkrempigen Hute, das schöne Gesicht ganz bleich, Marie blieb vor ihm stehen, das Herz brannte ihr, sie wollte etwas sagen, das sie mit einem Schlage ihm ganz nahe brachte.

Da lächelte er sein schwermütiges Lächeln und sagte: »Kleine Prinzessin, kleine Prinzessin, Sie verstehen mich, Sie haben um mich geweint.«

Auch an das schöne, schwarze Mädchen dachte Marie, sie nannte es »Armelia«, weil das mit Armin verwandt war. Sie legte den Arm um Armelias Taille und war ihre Freundin.

Die Gräfin Dühnen beleidigte Armelia, Marie aber trat für sie ein, fand prachtvolle entrüstete Worte, dann führte sie die Freundin fort an einen stillen Platz des Waldes. Dort saßen sie festumschlungen, bis die Zweige sich auseinanderbogen und Armin Bibers schönes Gesicht auf sie niederschaute, er lächelte und sagte: »Meine treuen Kameradinnen. »

Zuweilen wollten die Traumbilder nicht kommen, dann war es nur ein köstliches starkes Fühlen, das Maries Herz schneller schlagen ließ, sie hätte weinen können vor Sehnsucht nach Armin Biber, nach Armelia, nach Liebe, nach großen Worten und großen Schmerzen. Dieses Gefühl machte sie stolz, hob sie hoch über die anderen empor. Wie verachtete sie die Teestunde am Nachmittage, während der der Baron Fürwit von früheren Verlobungen früherer Prinzessinnen erzählte. Oder die Abende im Gartensaal, der Baron Fürwit las langsam und deutlich die Kreuzzeitung vor, Fräulein von Dachsberg und Mademoiselle Laure häkelten, der Major saß gerade auf seinem Stuhle und hörte aufmerksam zu.

Wenn eine Pause eintrat, wandte er sich mit einer höflichen Bemerkung an Marie. »Ich glaube, mit den Balkanvölkern werden wir noch manches erleben.«

»O wirklich, glauben Sie, Herr Major?« erwiderte Marie, die jäh aus ihren Gedanken auffuhr.

An einem Nachmittage kam Hilda von Üchtlitz. Sie war hübsch und lebensvoll, mit kühlen, rosa Wangen und blanken, scharf aufmerkenden Augen.

Marie ließ den Tee in ihrem Schreibzimmer servieren, sie hatte Hilda so viel zu sagen. Sie begann damit, von Armelia zu sprechen, allein das interessierte Hilda nur wenig.

»Die kenne ich«, meinte sie, »ich kümmere mich natürlich nicht um das Gerede, daß man mit diesen Leuten nicht umgehen kann, gerade deshalb bin ich zum Forsthause gegangen, nun, vielleicht wird einmal etwas aus dem Mädchen, Rasse hat es, aber bisher ist es noch ein wildes, kleines Tier. Sie heißt übrigens nicht Armelia, sondern Britta.«

Marie war verletzt, auch verstimmte es sie, daß Armelia Britta heißen sollte. Sie ließ daher dieses Thema fallen und sprach von Armin Biber.

Hilda hörte sehr aufmerksam zu. »Ja, das kenne ich«, sagte sie dann ernst, »das habe ich auch durchgemacht, das kommt so über uns, und da hilft nichts anderes, du mußt ihn sehen und sprechen.«

»Ihn sehen und sprechen«, rief Marie und wurde ganz rot vor Schrecken, »das ist doch nicht möglich!«

Hilda blieb ruhig und dachte ein wenig nach: »Es ist möglich«, erklärte sie dann. »Du bist eine Prinzessin, wenn du ihm schreibst, dann kommt er.«

»Das werde ich nie tun«, versicherte Marie mit zitternder Stimme.

»Doch, das mußt du tun«, fuhr Hilda fort, »du schreibst ihm, du willst ihm für seine große Kunst danken und so weiter, er soll um ein Uhr mittags auf der Landstraße an eurem Gartengitter vorübergehen, du erwartest ihn bei eurem alten Pflaumenbaume, nun und dann sprecht ihr miteinander durch das Gitter, mehr ist für den Augenblick nicht zu erreichen.«

Marie fühlte, wie ihre Hände kalt wurden vor Aufregung, und sie hatte Lust zu weinen. »Ich würde sterben, wenn er käme«, sagte sie leise.

Hilda lachte: »Davon stirbt man nicht, und dann du bist zwar eine Prinzessin, aber du könntest dich doch bemühen, ein modernes Mädchen zu sein. Dieses Anschmachten aus der Ferne tut kein modernes Mädchen mehr. Wenn wir uns in einen Mann verlieben, und das läßt sich nicht vermeiden, dann handeln wir auch. Nur keine unnütze Gefühlsverschwendung mehr.«

»Ich werde es nie können«, stöhnte Marie.

Hilda zuckte die Achseln. »Setze dich nur an deinen Schreibtisch«, befahl sie, »ich nehme den Brief mit und besorge ihn, das wird gemacht, und du wirst sehen, es beruhigt.«

Und es wurde gemacht. Hilda fuhr mit Maries Brief in der Tasche nach Hause.


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