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XXXVI

»Lebe wohl, Kedril, Pilot Nummer Eins! Wo ist Jean Louis? Lebt alle, alle wohl!«

Die Fischer umringten mich und rieben ihre stacheligen Wangen an mein Gesicht. Wir küßten uns. »Daß du fort von uns gehst –!« sagten sie und schüttelten die Köpfe. Ihre Hände waren hart wie Holz. Aber ihre Augen waren treu und herzlich. Kedril ließ es sich nicht nehmen mich zum »Kommissionär« hinüberzurudern. Ich schenkte ihm eine Pfeife zum Andenken.

Die Matrosen zogen den Anker auf.

Da kam vom »Arbeiter« ein Nachen herüber und Yann stieg an Bord des »Kommissionärs«. Ich stand am Heck und sah ihn herankommen. Ich fühlte wie mir das Blut aus dem Gesicht wich, meine Hände in den Manteltaschen krampften sich zusammen. Ich begann langsam zu wachsen –! Aber als mich Yann ansah, überkam mich eine heiße Mattigkeit. Yanns blaue Kinderaugen nämlich schimmerten voller Liebe. Es waren Yanns, alte Augen, so wie sie früher waren, und sie entwaffneten mich augenblicklich. Yann trat auf mich zu. Er sah schmutzig aus, auf der Stirn hatte er eine schreckliche, blutige Schramme und das Weiße seiner Augen war immer noch blutunterlaufen.

»Du fährst!« sagte er lächelnd und deutete mit den Blicken auf das kleine Paket, das ich unter dem Arm hatte.

Ich erwiderte nichts. Ich sah ihn an.

Yann wartete eine Weile und sah mir forschend in die Augen, dann begann er von neuem: »Du denkst vielleicht, ich hätte Poupoul umgebracht? Nein, ich war es nicht. Rosseherre tat es.«

Ich öffnete den Mund. »Rosseherre –?«

»Ja. Ich sagte ihr: Poupoul hat mich verraten, er bellte. Darauf sagte sie: so, sein Hund hat dich verraten. Sonst sagte sie nichts. Aber zwei Tage später sagte sie zu mir: nun kann dich Poupoul nicht mehr verraten, Yann.«

Ich sah Yann an und ein verächtliches Lächeln kam auf meine Lippen. Ich lächelte über mich. Sie ist ein Kind, diese Rosseherre. O, jawohl, meine Herrschaften, hier sehen Sie einen Menschenkenner erster Güte vor sich! Ich werde eine Tournee unternehmen und mich mit einem Ring an der Nase und einem Pfahl im Hirnkasten gegen Entree sehen lassen!

Zu Yann aber sagte ich mit einem vorwurfsvollen Blick: »Yann, ich wartete jede Nacht bei Poupons Schlucht. Weshalb kamst du nicht?«

Yann sah mich erstaunt an. »Es ging ja kein Boot hinüber,« antwortete er, »wie konntest du da reisen?«

Ich lachte laut auf. Ich lachte über mich. Also ganz grundlos waren mir die Haare zu Berg gestanden – Yann war es gar nicht in den Sinn gekommen mir einen Besuch abzustatten. Genug! Fort!

»Die letzten Tage waren die Hölle!« fuhr Yann fort und seine blutunterlaufenen Augen sprühten und die Adern an seinem Hals schwollen an. »Dieses Frauenzimmer machte mich verrückt. Hörst du? Toll! Ich glaube, sie ist besessen und hat mich behext. Das glaube ich! Neulich, in der Nacht – da konnte ich es nicht tun. Du hast gepfiffen, du gingst so arglos dahin. Deshalb. Nun, du reist, es ist gut. Ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte. Und wir sind ja doch Freunde, wie? Wenn sie auch bei dir war, was liegt daran? Lebe wohl, mon très cher ami

Yann streckte mir die Hand hin und seine Augen schimmerten feucht. Ich ergriff seine Hand und wir sahen einander lange in die Augen. Wir hatten uns gequält, recht und schlecht, wie Menschen es tun müssen, die einander näherkommen.

Dann griff Yann in die Tasche und zog die goldene Uhr mit dem Springdeckel heraus.

»Ein Glas mußt du dir einsetzen lassen,« sagte er, »nimm doch! So nimm doch!«

Ich lächelte. Nein, niemals werde ich diese Menschen verstehen. Die Uhr aber nahm ich nicht.

»Ich will nichts besitzen, was mehr als zehn Franken wert ist, verstehst du, Yann?« sagte ich. »Etwas anderes vielleicht?«

Yann suchte in den Taschen und gab mir sein feststehendes Messer.

»Ja, das kann ich brauchen, danke!« Ich griff in meinen Rock und zog die kleine Flöte heraus. Ich gab sie Yann.

» Merci!« sagte er. »Wieviele schöne Stunden – nun, lebe wohl! Vergiß mich nicht!«

Ich schüttelte den Kopf und drückte Yann nochmals die Hand.

Das Segel stieg.

Der »Kommissionär« galoppierte durch die Bai. Wir hatten mehr Wind als nötig war. Um das »Kamel« spielten schwarze kleine Enten und tauchten und überschlugen sich. Die Möwen saßen auf den Klippen und ihre Köpfe blendeten so weiß wie frisch mit Ölfarbe gestrichene Knöpfe. An den Riffen saugte und atmete das Meer.

Wir durchquerten den Strom und der »Kommissionär« ging auf den andern Bug über.

Dann passierten wir die versteckte Klippenreihe, wo ich so oft mit dem Meerkönig gefischt hatte. Das Meer donnerte und die Gischtschleier stoben in die Höhe. Da sah ich ein kleines wohlbekanntes Segel, das in der schweren See pendelte. Es kam auf uns zu. »Jean Louis!«

Aber es war nicht der kleine Meerkönig, der im Boot saß. Eine weiße Haube tauchte unter dem Segel auf.

»Rosseherre – ho! ho!« schrien die Matrosen.

Das Boot segelte dicht an uns heran. Rosseherre saß mit gebeugtem Rücken am Steuer, die Augen auf ihren Weg geheftet, die niedere Stirn in hundert kleine Falten gerunzelt. Sie sah nicht auf.

Eine Woge hob das Boot in die Höhe und trug es fort. Im Nu war das kleine pendelnde Segel unsern Blicken entschwunden.

»Dieser Satan! Seht an!« schrien die Matrosen und lachten.

Warum? Warum kamst du heraus aufs Meer? –

Wie eine hohe violette Felsenburg mit zwei dünnen Türmen liegt die Insel im Meer. Möwen umschwirren uns und von den fernen Klippen her dringt ein feines feilendes Geschrei.

Die hohe Felsenburg wird blau und sinkt ins Meer. Nun ist nichts mehr zu sehen, nur Creachs dicker Kopf schwimmt am Horizont.

Da spürte ich einen Schlag im Herzen. Yvonne! Gott stehe mir bei, ich hatte all die Tage nicht mehr an sie gedacht, ich hatte sie vollkommen vergessen.

Sonderbar ist der Mensch.

Nun, Yvonne wird bald einen anderen Geliebten finden.


An der Küste drüben traf ich Mathieu, L’honneur und Petitjean. Gott sei Dank, sie waren da. Ich glaube, ich hatte Tränen in den Augen, als ich sie sah.

»Da bin ich!«

»Ah, da bist du!«

Wir zechten bis spät in die Nacht. Dann nahmen wir Abschied. Ha, was ist das? Das Meer war schwarz und schwarz war der Himmel. Am Horizont aber atmete ein Blinkfeuer, weiß, weiß, rot, und eine Lichtwindmühle warf ihre Flügel in die Höhe. Das waren Stiff und Creach.

»Lebt wohl, Kameraden! Und wenn ihr hinüberkommt nach Ösa, grüßt mir Amorik und seine Tochter, Yann und Jean Louis! Und vergeßt mir nicht Rosseherre zu grüßen! Grüßt alle, alle!«

Zwei Tage später betrat ich in Cherbourg den großen Zwanzigtausendtonnen-Dampfer. Die Sirene tutete, die Kapelle spielte auf dem Promenadedeck, en route!

Ich war in jämmerlicher seelischer Verfassung. Gleich am Anfang passierte mir das Mißgeschick den Obersteward durch meine Stimme zu beleidigen. Ja, glauben Sie, verehrtester Herr, daß ich erst drei rohe Eier trinke, bevor ich es wage mich einer so hochstehenden Persönlichkeit zu nähern? Ich nahm den Mann ins Auge. Wie sollte ich es anstellen, diesen Gesandtschaftsattaché um eine anständige Kabine zu bitten? Glatt geleckt von der Zunge der Kultur stand er vor mir. Er kam mir schrecklich bekannt vor. Ich bertillonierte seinen Schädel. Ja, ich hatte ihn schon gesehen. Tausendmal und allerorts. Es war das europäische Gesicht! Nichts anderes.

Ich sprach kein Wort mehr. Ich nahm ein Fünffrankenstück und ließ es in seine europäische Hand gleiten. Er verstand augenblicklich und verbeugte sich: mögen der Herr getrost die heilige Ruhe dieses eleganten Dampfkarussells durch seine Stimme entweihen –

In der Kabine prüfte ich den Teppich mit den Fingern und auch den Treppenbelag untersuchte ich verstohlen: Gummi! Yann, wo sind wir? Elektrische Brennscheren, Dampfheizung, Blumenladen, Druckerei, Hotel à la Riz, he, ich war von der Peripherie der Zivilisation direkt ins kochende Zentrum gesprungen. Der Dampfer war still wie eine Kirche, nur da und dort hörte man einen fürchterlichen Brüllhusten: das war ich.

Ich stieg hinauf aufs Sonnendeck und lächelte verächtlich: ihr kleinstes Rettungsboot war größer als das größte Boot, das wir auf der Insel hatten. Es wehte. Nordwestnord, Windstärke acht, grobe See! Aber der Koloß regte sich nicht. Er fuhr achtzehn Knoten in der Stunde und doch schien er vollkommen still zu stehen und nur die schmalen Korridore wanderten. Das Meer lag tief unten, unscheinbar und nichtig. Wir waren Durchreisende, nichts sonst. Es wurde Abend und die Feuer des Kanals zuckten und wirbelten. Eine elende Fischerbarke zog an uns vorbei. Sie schlingerte und schlug aus und stieg.

»Hallo!« schrie ich und schwenkte die Mütze.

Aber sie beachteten mich gar nicht.

Und nun überkam mich die Erkenntnis, die nackte, schreckliche Erkenntnis: ich gehörte nicht mehr dazu! Die Wogen, der Wind, das ganze große Meer – ich gehörte nicht mehr dazu

Ich ging in den Rauchsalon, legte mich in einen Klubsessel und nahm einen Whisky und noch einen. Dann kaufte ich die ganze Flasche. Unsere zwei Gestirne glühten jetzt über der schwarzen Insel im lauten Meer –

Warum? Warum kamst du heraus aufs Meer?

Da lauschte ich: hörst du die Maschinen pumpen? Durch die Vibration hindurch, durch all die Stockwerke und Korridore, hindurch, hörst du das große Stahlherz pochen? Das war Europas Herz, Europas, woher ich kam! Und plötzlich strömte die ruhige Kraft der Maschinen, die da drunten unter mir sangen, in mich über und erfüllte mich mit Stärke und unermeßlicher Zuversicht. Ich goß mein Glas voll und summte mir ein Lied.

»Sei ruhig, mein Herz,« sagte ich zu meinem Herzen, »die Jagdgründe des Lebens sind groß. Du wirst sie alle wiederfinden, Yann, Yvonne, Rosseherre und Jean Louis, alle! Und auch Poupoul wirst du wiederfinden, nichts ist unersetzlich!«

In der Nacht aber erwachte ich plötzlich. Der Dampfer knarrte wie Leder knarrt. Ich lauschte. Da draußen war der Wind, das Meer, es waren Stimmen da draußen und ich verstand sie. Mein Herz krampfte sich zusammen.

»Lebt wohl, ihr Geliebten,« sagte ich und lauschte auf die Stimmen, »lebt wohl, ich komme wieder!«

 

Ende

 

Druck von Paß & Garleb G. m. b. H., Berlin

 


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