Jean Paul
Vorschule der Ästhetik
Jean Paul

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Ungezwungener gehen wir jetzo vom Mystizismus auf die letzte oder

vierte (8te) Kautel des Herzens,

die sinnliche Liebe,

über als in frühern Vorlesungen, wo wir von der dritten des Hasses zur Liebe übersprangen. Wie kann ein Menschenfeind eine Frau lieben, ohne zu erröten?- Ein Mann, der unmittelbar von Plato und den alten Tragikern herkommt und den paphischen Hain der neuern Poetiker so ohne Blätter und so nackt und durchsichtig findet, glaubt nicht aus Griechenland nach Griechenland, sondern nach Kamtschatka zu kommen, wo man Amors Pfeile in Kot taucht.

Der stärkste Einwand gegen die Ausmalerei der sinnlichen Liebe ist kein sittlicher, sondern ein poetischer. Es gibt nämlich zwei Empfindungen, welche keinen reinen freien Kunstgenuß zulassen, weil sie aus dem Gemälde in den Zuschauer hinabsteigen und das Anschauen in Leiden verkehren, nämlich die des Ekels und die der sinnlichen Liebe. Freilich postuliert man für letzte das Gegenteil vom Zuschauer – man geb' ihm aber auch vorher eine Hand voll dünnes Silberhaar dazu und ein sedates Alter von 80 Jahren. Wenn schon Scioppius (nach Bayle), ob er gleich aus den Klassikern weniger Vergnügen als Phrases schöpfen wollte, sich genötigt sah, Fisch und Fleisch zu fliehen, schlecht zu essen (z. B. Käse) und hart zu schlafen, um nur zu bleiben, wie er war: so steht ja das Allerschlimmste von Kunstliebhabern zu erwarten, welche zugleich lesen und essen; sogar in La Trappe, wo nicht der beste Tisch ist, hatte ein De RancéSchlichtegrolls Nekrolog. nötig, ein Bibelbuch zu verbieten, die Geschichte der Susanne, so wie die alten Rabbinen die Lesung des Hohen Liedes vor dem 30. Jahre. Wozu eine Malerei, welche poetische Seelen unterbricht, zarte verletzt und bloß schlechte erquickt? Welcher Künstler möchte sich zum gemeinen Kuppler der letzten erniedrigen und Augenzeuge ihres beschimpfenden Anteils werden? – Ich fürchte aber, es hat mehr die eine Leichtigkeit, manche immer hinter Schleiern gezeichnete und eben darum seltene Verhältnisse zu geben, und die andere, damit auf Kosten der Kunst zu bestechen, also nicht die Rücksicht der Kunst, sondern der Mangel daran, uns bisher so viele freche Ausstellungen gegeben, so wie freche Gönner derselben dazu, welche lieber der Kunst durch sittlichen Stoff zu bestechen verbieten als durch unsittlichen. Die größten Dichter waren die keuschesten, unter unsern nenn' ich nur Klopstock und Herder, Schiller und Goethe; des letzten drei sittliche Grazien in Tasso, Iphigenie, Eugenie können sogar ihre wie von einem Sokrates angelegte Kleider unbeschämt entbehren und diese dem nicht lüsternen, nur poetischen Zynismus einiger seiner männlichen Darstellungen als Draperie umwerfen. Welches Volk gab denn von jeher die frechsten Gedichte? Gerade das, welchem beinahe gar keine andern glücken, das gallische, so wie sogar Voltaire mehr Dichter in der Pucelle als in der Henriade war; Rom, weniger dichterisch und frecher als Athen, gebar das Schlimmste erst unten im finstern Abgrund des eingesunkenen Dichter-, Sitten- und Römer-Reichs. Unsittliche Frechheit könnte man mit dem Arseniksublimat vergleichen, das die Farbenstoffe glänzender macht, am Ende aber den Zeug zerfrisset und dessen Träger gelinde vergiftet.

Etwas ganz anderes und Erlaubteres ist der Zynismus des Witzes und Humors. Denn wenn dort der Zynismus der ernsten Poesie durch die geneigte Ebene einer langen Gestalten-Folge einen Fall des Wassers hervorbringt, der endlich ein reißender Strom wird – welche üppige Gestalten-Folge aber bei den Griechen nie vorkommt –: so zersetzt der Witz und der Humor eben die Gestalt zum bloßen Mittel und entzieht sie durch die Auflösung in bloße Verhältnisse gerade der Phantasie; daher ist bei den keuschern Alten und Briten der komische Zynismus stärker, aber die üppige Gestalten-Melodie schwächer; bei den verdorbenen Nationen hingegen beides umgekehrt. Ein Aristophanes, Rabelais, Swift sind so keusch als ein anatomisches Lehrbuch. Etwas anderes, aber Schlimmeres ist jenes persiflierende Gedicht, z. B. der Franzosen, der Weltleute und manches von Wieland, das, zwischen den Grenzen des Ernstes und Lachens schwebend, nur Geister vernichtend belacht und Körper ernst schaffend malt; denn wenn in Homer, selber in Goethe (in der hyper-dithyrambischen Braut von Korinth) der Ernst einer höhern Schönheit und Empfindung die üppige Gestalt gleichsam in ihren eignen Glanz einschleiert – und die Gewalt der Schönheit die Schwere des Stoffs verklärt: so ist in jener französischen Gattung ein umgekehrter Zentaur: der Mensch wird besiegt und das Tier befreiet; alles Edle wird lachend, d. h. vernichtend behandelt, alles Sinnliche ernst und warm ins Feld geführt und der Mensch zum Affen des Urangutangs gemacht; so daß die ganze Gattung gerade so sittlich- als poetisch-zweideutig verbleibt.

Fast schamhaft, nämlich mich schämend des Schämens, bring' ich meinen halb sittlichen, halb poetischen Zweifel gegen Bordell-Ausstellungen vor und wage an den jetzigen poetischen Musen-Tempel – der aus den schönen Säulen-Sturzen und andern Ruinen des alten Tempels aufgeführt worden, den die Griechen der Unverschämtheit errichtet hatten –, mit beiden jüdischen Gesetztafeln auf den Schultern, hinzutreten, weniger um sie aufzustellen, als um sie abzulesen.

Ich dringe gar nicht darauf, daß wir gen Himmel fahren anstatt zum Teufel, der früher in uns gefahren und dem wir also den Gegenbesuch, meines Erachtens, schuldig sind; sondern die Haupt-Frage ist hauptsächlich die: da man behauptet, daß dem Dichter, als Dichter, die ganze Erde und Welt und alles zum Nach- und Vormalen frei vorstehe und vorliege und ihn keine beschränkende Zeit und Sitte bekümmere, wo ist denn, fragt man, der glücklich freie Mann zu finden? In der Wirklichkeit schwer; noch ist uns kein griechischer oder sonstiger Poet aufgestoßen, der ohne Magen, ohne Vaterland und dessen Sitten und ohne Zeit gewesen wäre, desgleichen seine Verehrer, sondern er hatte seine Verwandten, Gedärme, Wochen und Winkel zu jener Individuation, welche Philosophen von ihm fodern. Nur Gott allein könnte der Dichter sein, welcher ohne alle Rücksichten als eigne schaffen könnte; er hat es auch getan, wie denn jeder Dichter eine kleine Metonymie von ihm ist, und andere Leute End- und Leberreime, und ein Jahrhundert ein säkularischer Vers.

Noch hat also kein Dichter Zeit und Raum verschmäht – nämlich Jahrhundert und Vaterland –, sondern er war darin. Er tat das auch vorzüglich mit, weil er bald merkte, daß seine Zuhörer und Leser ebensogut als er sowohl geboren als begraben würden. Daraus erklärt sichs nun sehr, daß die griechischen Dichter – ungeachtet aller dichterischen Gottes-Freiheit – doch die vaterländischen Sitten dichtend achteten und schon darum nie gegen sie arbeiteten, weil sie bloß durch sie arbeiteten. Himmel, wie barbarisch wär' es ihnen vorgekommen, mit barbarischen ausländischen Sitten zu bestechen, statt damit abzustoßen – über die heilige Scheu und Liebe gegen ein Vaterland roh wie ein Tier wegzutreten! Und hätt' es ein Grieche getan – und vollends auf der Bühne, wie es doch der jetzige Deutsche versucht, z. B. Schiller und Schlegel –: das zartfühlende Volk hätte ohne Kunstrichter gerichtet als Sittenrichter. Denn jedes Volk ehrte seine Sitte als das Blut des moralischen Herzens; – und nur wir Deutsche wollen unsern Kosmopolitismus des Geschmacks auch zu einem der Sitten ausdehnen, so sehr sich letztes selber aufhebt, da Sitte als solche eben sich beschränkt. Freilich kann die Dichtung da frei sein, wo es Sitte vorher war, und vor nackten Logen mag die tragische Muse unbekleidet tanzen; aber geziemt denn die Entschleierung der Ehefrau einer Jungfrau? Da es keine absolute Schamhaftigkeit oder Schäme gibt, aber doch relative gegen die Phantasie, nicht gegen die Wirklichkeit; und da die Enthüllung eines Fußes in Spanien oder eines Gesichts im Orient so groß ist als eine gänzliche bei uns: in welchem Lande oder an welchem Feigenblatte könnte denn das Ver- und Entschleiern Grenzen anerkennen? Wer keine absolute Nacktheit annimmt, muß jeden längsten Schleier der Sitte ehren und nicht verkürzen. Ist Schamhaftigkeit einmal etwas Heiliges, was nur den Menschen angehört: so muß sie verehrt und geschont werden, in welche Zeiten-Hülle sie auch sich werfen wolle.

Nirgend aber, in keinem Gedichte, Gemälde, Gebilde kann sie mehr verwundet werden als auf der Bühne – vor dem lebendigen Volk, wovon ein Fünftel aus Jungfrauen und Knaben besteht – mit lebendigem Wort und Spiel – und endlich durch den lebendigen Menschen, der vor einer Menge erotische Geheimnisse an seiner Person entwickelt...

Lasset uns wenigstens die Schauspielerin (wenn auch nicht den Mann oder Vater) schonen. Ist es nicht Grausamkeit eines Dichters, welcher ihr eine Öffentlichkeit aufdringt, deren sich eine Öffentliche schämt? – Auch begeht der Dichter mit dem Plagium an den Römern, welche Sklaven auf dem Theater wirklich foltern und ehebrechen ließen, ein Menschen-Plagium; denn er soll die Grenze respektieren, wo der schauspielende Körper aus dem Scheinen heraustritt ins Sein; und wie er dem männlichen kein zerstörendes oder berauschendes wahres Trinken, so darf er dem weiblichen kein Opfer befehlen, das nicht der reinsten Jungfrau in der Loge anzusinnen wäre. Begehrt er mehr, so ist er ein Tyrann, kein Künstler, den ich hasse, weil er Menschen-Haß in Kunst-Liebe versteckt.

Die Dichter lassen gern ihre dichtende Nacktheit – um sie zu retten – mit der griechischen, mit der steinernen, ja auch mit der malerischen vermengen. Aber welcher Unterschied zwischen allen dreien! Denn erstlich die steinerne ist keine; eine Statue muß nackt sein; ein Stein-Mantel würde eben nur einen Mantel zeigen, keinen Leib darhinter. Die plastische Bestimmtheit der Wirklichkeit ist das eiserne Kerker-Gitter, ja Mauerwerk der Phantasie; diese wird dabei ein Geschöpf, kein Schöpfer – und da alles Wirkliche als solches, nämlich ohne Phantasie, heilig ist und kein Scham-Rot aufzulegen braucht, wie die unschuldigen Kinder zeigen: so habe die Bildsäule, wie eine spanische Jungfrau, nichts um als den allgemeinen Schleier der Gesinnung. In der Tat haben daher Wollüstlinge in ihren Kabinetten alle andere nackte Kunstwerke eher als steinerne.

Kurz, in der Bildhauerei schafft die Wirklichkeit die Phantasie – anstatt daß im Gedicht diese jene schafft –; auch kennt sie als vereinzelnde Darstellung (denn wer sah noch ein in Stein gehauenes historisches Stück?) nur die allgemeinsten Verhältnisse der Menschheit, welche jede hinfällige Sitte so gut ausschließen, als ein Kind es tut. –

Die Malerei aber, die Mitteltinte und Mittlerin zwischen Poesie und Plastik, hat schon keine Kleidung mehr an, die einen Leib verdrängte oder ersetzte, statt zu verheißen. Sondern sie öffnet der Phantasie die Schranken, unbekleidet ebensogut als angekleidet. – Und jede Pariser Bestie sucht ja eben ein Bilderkabinett mit Schürzen und hat eine Handbibliothek ohne diese – 

Mein letzter Grund für einiges Maßehalten in der erotischen Entschleierung ist bloß – und man wird mir leicht zutrauen, daß ich ihn nicht für den stärksten geben will – vom Glück der Menschheit hergenommen, oder doch des Jahrhunderts. Gehörig eingeschränkt, ist Rücksicht auf Menschenwohl an keinem Dichter verwerflich. Wenn es nun wahr ist, daß die Schmarotzerpflanzen der sechs Sinne ganz Europa aussaugend umschlungen halten, und daß besonders der Geschlecht-Efeu bald an die Stelle des vertrockneten Baumes den Gipfel heben werde: so sollte der knechtischen Zeit durch die freie Poesie eine sinnliche Richtung mehr genommen als gegeben werden. Sonst, wo es noch Religion und große Zwecke gab und Stärke des Körpers und der Seele, folglich Schwäche der Geschlecht-Phantasie, wo ein Boccacio noch mit Petrarca Briefe wechselte und über Dante eine Professur hatte, sonst mochte wohl eine poetische Flamme von Amor nicht schaden, weil man dem Pulver glich, das sich nicht an der Flamme, sondern an der berührten entzündet. – Jetzo ists schlimmer. Nehm' ich Hauptstädte aus, wo die Bühne den Sitten wenig schaden kann, weil da die Kunst mehre Gebildete als Sittliche findet und also nur erfreuen, nicht entstellen kann: so könnt ihr ebensogut ein Feuerwerk in einer Pulvermühle abbrennen als eines und das andere schreiben; und die Wut einiger neuern Poetiker gegen die bisherige Ehrbarkeit-Sprache, als werde sie gerade jetzo über die Grenze getrieben, ist fast sündig-dumm.

Indes eben aus dem Menschenglücke wird ein Grund für erotische Ausstellung hergeholt, von dem angenehmsten Reisenden, der je aus Frankreich wiederkam. Freie Gemälde möchten nämlich – hofft der Verfasser der Reisen im mittäglichen Frankreich, da er mit der fürstlichen Brautkapelle sich rechtfertigt – der matten Schattenwelt der großen Welt etwan einigen Geschmack an der Sinnlichkeit beibringen oder auffrischen, woraus denn vieles Gute, hofft er, entsprießen könnte, z. B. Erbprinzen. Sollte der gute eifernde Weltmann wohl gegen die Phantasie der Weltleute gerecht genug sein? Denn an erotischer Phantasie sind sie, ungleich den alten Kraftvätern und gleich allen Schwächlingen, statt arm, gerade krank und reich; gerade weniger davon wäre fast Austernkur. – So aber gibt ihnen der witzige Reisende die materia peccans (den Sünden- oder Giftstoff) als materia medica (als Heilstoff) ein und martert die arme reiche und große Welt nur noch mehr mit idealen Lavaterschen Aussichten in einen Himmel, zu welchem ihr so oft ein Flügel gebricht. Einen mitleidigen Mann bewegt es – sogar zum Lachen –, wenn er sich den Jammer gerade der Leute von Geburt bloß denkt, welchen solche Werke nur bitterer machen. Nur dem alten Kraftdeutschen an Seel' und Leib sind daher die freiesten Malereien bloß Malereien; und es ist für diese Rücksicht kein böses Zeichen, daß die Zensur in Dresden und Leipzig gerade Althings Werke und einige Artikel von Gräff – welche gleichsam die in beiden Städten verbotnen Dirnenhäuser geistig repräsentieren – mit den Namen der Städte und Verleger zu drucken erlauben konnte. – – Und nun sapienti sat! – Auf diese wenigen 8 Kautelen schränkt sich mein ganzer Tadel der Poetiker ein. Die Stammutter und Eva dieser Sünden-Familie ist bloß - Jugend, teils der Individuen, teils der Zeit. Man schaffe die Mutter fort, so bleiben die Geburten aus. Da nun schon so viele wahrgenommen, daß jede Jugend, sei sie noch so groß, täglich abnehme (in unsern Tagen vorzüglich) und endlich ganz eingehe, so schauen wir ja dem herrlichsten Vertrocknen der Ströme entgegen, wenn das Versiegen der Quelle so entschieden ist.

Doch, meine Herren, da Sie, wie ich merke, sämtlich – wahrscheinlich aus Verdruß – nach Hause gegangen sind, so daß keiner von uns mehr da ist als ich allein: so breche ich ohne weiteres ab und auf und geh' auch fort; denn mich brauch' ich wahrlich nicht zu überreden.


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