Jean Paul
Vorschule der Ästhetik
Jean Paul

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XIII. Programm

Über die Lyra

§ 75

Die Ode – die Elegie – das Lied – das Lehrgedicht – die Fabel etc.

Dieses Programm muß zwar nicht zu kurz ausfallen – wie in der ersten Auflage, wo es gar fehlte –, aber doch kurz; es ist wenig darin mit wenigen Worten zu sagen, was nicht schon früher mit vielen wäre gesagt worden. Im frühern Auslassen der ganzen lyrischen Abteilung hatt' ich einen alten, wenn auch nicht guten Vorgänger an EschenburgDessen Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaft. Neue, umgearbeitete Ausgabe 1789. , welcher gleichfalls nur alles in Drama und in Epos einteilt, und in das letzte die ganze lyrische Herde, die Ode, die Elegie und noch Satiren, Allegorien und Sinngedichte einlagert. Er gewann sich nämlich an der Person des Dichters selber einen Markstein und eine Hermessäule einer leichten Abgrenzung aller Dichtarten, jenseits und diesseits: spricht der Dichter selber, dann wirds, sagt er, Epos et compagnie, z. B. Elegie; läßt er andere sprechen, so ist das Drama da. Man könnte so den Dichter in Rücksicht seiner geschaffnen Welt, wie sonst streitende Weltweise Gott in Rücksicht der seinigen, bald extramundan (außerweltlich), bald intramundan (innerweltlich) betrachten. – – Gibt es dann aber eine flüssigere Abteilung und Abscheidung mitten auf dem poetischen Meere? Denn weder die Einmengung, noch die Versteckung des Dichters entscheidet zwischen zwei Formen des Gedichts; der sich sprechend einführende Dichter ist so gut und nicht schlechter ein Glied des ganzen Gedichts als jeder andere Sprecher; er selber muß sich darin verwandeln und verklären wie jeder andere Mensch und aus der Asche seiner Individualität den poetischen Phönix wecken. Der Maler wird zum Gemälde, der Schöpfer zu seinem Geschöpfe. – – Wie leicht wären, falls nur die Kleinigkeiten des Sprechens und des Sprechenlassens abteilten, Formen in Formen einzuschmelzen, und derselbe Dithyrambus würde z. B. bald episch, wenn der Dichter vorher sagte und sänge, er wolle einen fremden singen, bald lyrisch durch die Worte, er wolle seinen eignen singen, bald dramatisch, wenn er ihn ohne ein Wort von sich in ein tragisches Selbstgespräch einschöbe. Aber bloße Förmlichkeiten sind – in der Poesie wenigstens – keine Formen.

Das Epos stellt die Begebenheit, die sich aus der Vergangenheit entwickelt, das Drama die Handlung, welche sich für und gegen die Zukunft ausdehnt, die Lyra die Empfindung dar, welche sich in die Gegenwart einschließt. Die Lyra geht, da Empfindung überhaupt die Mutter und der Zunderfunke aller Dichtung ist, eigentlich allen Dichtformen voraus, als das gestaltlose Prometheus-Feuer, welches Gestalten gliedert und belebt. Wirkt dieses lyrische Feuer allein, außerhalb den beiden Formen oder Körpern, Epos und Drama, so nimmt die freifliegende Flamme, wie jede körperliche, keine umschriebene feste Gestalt an, sondern lodert und flattert als Ode, Dithyrambus, Elegie. Sie dringt ins Drama als Chor, zuweilen als Selbstgespräch, als Dithyrambus in Weh und Lust, obwohl immer nur als abhängiges Mittelglied, nicht sich allein aussprechend, sondern dem Ganzen nachsprechend. Es wäre möglich, durch ein Drama eine Bergkette von hohen Oden gehen zu lassen. Die Vergangenheit im Epos mildert jeden lyrischen Sturm und leidet schwer die erzählende Einwebung eines Chors, Dithyrambus u. s. w.

In der eigentlichen lyrischen Dichtkunst waltet die Begebenheit nur als Gegenwart, und die Zukunft nur als Empfindung. Die Empfindung wird sich allein und unabhängig darstellen, ohne etwan wie im Epos alle ihre Eltern, oder wie im Drama ihre Kinder zu malen. Der verschlungene Plan der Ode ist daher keine verlarvte Larve einer kleinen epischen Begebenheit; die geschichtlichen Einwebungen sind nur Ausbrüche des lyrischen Feuergusses, welcher überrinnend nach allen Seiten des Berges abläuft. Die Empfindung fliegt ohne alle historische Weg-Linie zwischen Ende, Anfang und Mitte umher, nur von ihrer Überspannung und Ermattung wechselnd getrieben; daher sie z. B. vielleicht am Ende einer Ode von ihrem geschichtlichen Anfange an noch stärker ergriffen sein kann als anfangs derselben. Ja die Empfindung darf sich kühn hinstellen, im Verlaß auf die Gemeinschaftlichkeit aller Herzen, ohne ein eingewebtes Wort Begebenheit; z. B. eine Ode über Gott, Tod etc.; der Dichter besingt nur eine alte feste Geschichte in der Menschenbrust. Übrigens wird, könnte man noch sagen, das Geschichtliche im Epos erzählt, im Drama vorausgesehen und gewirkt, in der Lyrik empfunden oder erlebt.

Wird die Empfindung, wie eigentlich sein soll, für das Gemeinschaftliche, für den Blutumlauf aller Dichtkunst angesehen: so sind die lyrischen Arten nur abgerissene, für sich fortlebende Glieder der beiden poetischen Riesenleiber, insofern die Dichtkunst ein Doppeladler oder eine Apollons-Sonne im Zwilling ist. Mithin wäre die Ode, der Dithyrambus, die Elegie, das Sonett nur als ein Unisono aus der harmonischen Tonleiter des Drama ausgehoben und für sich belebt. Ebenso sind die Romanze, das Märchen, die Ballade, die Legende etc. nur ein Tongang aus der Fuge des Epos. Freilich der Kunst selber wird mit solchen immer enger einlaufenden Abteilungen, welche sich bloß nach der poetischen, so unwesentlichen Verschiedenheit der Gegenstände und der Zeilen-Räume regeln, nicht hoch aufgeholfen; indes wollen wir aus den beiden großen Flügeln, dem Epos und dem Drama, noch einige Federn ziehen und nachsehen, ob sie dem linken oder dem rechten gehören, nicht sowohl des Nutzens oder der Lehre und Wahrheit wegen, als weil es zu sehr um Vollständigkeit eines ästhetischen Lehrbuchs zu tun ist.

So müssen wir z. B. sogleich in der Nähe das sogenannte beschreibende Gedicht aus der lyrischen Gattung stoßen in die epische hinein, so seltsam das Urteil erscheine, da wir später das Lehrgedicht in die lyrische bringen. Das Beschreibgedicht, z. B. Thomsons, Kleists etc., stellt ein Teilchen Schauplatz dar, ein bowling green der großen epischen Landschaft, nur ohne die Spieler. Es ist das poetische Stilleben. In ihm handelt die Bühne, und die Personen sind der Schauplatz.

Das Lehrgedicht gehört in die lyrische Abteilung. Diese Absonderung darf wohl befremden, weil man dem sinnlichen Landschaftgedichte weit mehr Wärme zutrauet als dem unsinnlichen Lehrgedicht. Aber das Beschreib-Gedicht hat als solches nur mit der epischen körperlichen Fläche zu tun, welche an und für sich dasteht, ausläuft und weit blüht. Das Lehrgedicht läßt auf innere geistige Gegenstände den Brennpunkt der Empfindung fallen, und in diesem leuchten und brennen sie; und dieses so sehr, daß der flammende Pindar ganze Reihen kalter Lehrsätze zu seinem korinthischen Erz einschmilzt.

Reflexionen oder Kenntnisse werden nicht an sich zur Lehre, sondern für das Herz zur Einheit der Empfindung gereiht und als eine mit Blumenketten umwickelte Frucht dargeboten, z. B. von Young, Haller, Pope, Lukrez. In der Dichtkunst ist jeder Gedanke der Nachbar eines Gefühls, und jede Gehirnkammer stößt an eine Herzkammer. Ohne dies wäre ja eine Philosophie wie z. B. die platonische ein Lehrgedicht. Zuweilen liegen die Gegenstände des Lehrgedichts, dieses prosaischen Chors, weiter vom Herzen als vom Gehirne ab, z. B. Horazens und Popens Lehrgedicht der Ästhetik. Virgils Georgika und die sogenannten Episteln sind schweifendes Grenzwildpret der beschreibenden und der lehrenden Dichtkunst. Wohin die Lehrdichtereien von de Lille gehören, ist wohl jedem gleichgültig, der sie nicht lieset.

Da in der Fabel nicht die Moral der Geschichte wegen gemacht wird, sondern die Geschichte für jene nur der Boden ist: – so gehört sie, so breit auch der geschichtliche Boden eines kleinen Samenkorns ist, doch nicht dem epischen an, sondern dem lehrenden Gedichte eines – Gedankens.

Das Sinngedicht – oder wie die deutschen Alten, z. B. Gryphius, besser sagten, das Beigedicht – kann, wenn es ein griechisches ist, welches eine Empfindung ausspricht, schon in die ersten lyrischen Fachwerke geordnet werden; insoferne es aber als ein römisches oder neueres sich zu einem bloßen Stechgedanken zuspitzt, wird es in die fernern Unterabteilungen, nämlich in das Lehrgedicht, als ein verkleinertes Lehrgedichtchen fallen.

Zuletzt sind noch richtig-eingefacht unterzubringen das Rätsel, desgleichen die Scharade, samt ihren Absenkern und Wasserreisern, den Logogryphen, Anagrammen u. s. w. Ich glaubte von jeher am wenigsten willkürlich zu verfahren, wenn ich sie alle als Mittelwesen und Mittelsalze (wie die Epistel, nur aber verkleinerter) auf die Grenze zwischen Beschreib- und Belehr-Gedicht aussetzte.

Noch weiter ins Kleinere abzuteilen und zu zerfasern, möchte wohl mehr angenehmen Zeitvertreib für den scharfsinnigen Kunstrichter als nützliche Kunstlehre für den ausübenden Dichter gewähren; ich wünschte daher nicht, daß mir Mangel an System vorgeworfen würde, wenn ich wenigsilbige, mikroskopische Gedichte nur flüchtig berühre, als da sind z. B. ein bloßes Wehe! Ach! – (es würde zur Elegie, diesem Bruchstück des Trauerspiels, gehören) – oder ein bloßes Heisa! Juchheh! – (offenbar der verkürzte Dithyrambus).

Nur eine Nebenbemerkung bei diesen Kurzgedichten! Die Griechen sind weit reicher an Schmerzrufen, diese Miniatur-Elegien, als wir Neuern, gleichsam zum Zeichen ihrer tragischen Meisterschaft. Die Ausrufungen der Franzosen sind meistens kürzer als unsere: ah (wir: ach!) – fi (wir: pfui, die Kurzsatire) – aie (au weh!) – parbleu (potztausend!) – hélas (leider!); wieder ein Beispiel, daß sie sogar in diesen kleinsten Kunstwerken nicht so unendlich weit und breit sind wie wir in allen.

Nun noch als die ordentlich kürzesten Gedichtformen gar Frag- und Ausrufzeichen anzuführen und die einfachen, doppelten etc. zu klassifizieren, wäre wohl in jedem Falle nur ein Scherz und wahrhaft überflüssig. Schon durch das Vorige hofft der Verfasser der Vorschule hinlänglich dem Vorwurf systematischer Lücken begegnet zu haben, der ihm allerdings zu machen war.


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