Jean Paul
Vorschule der Ästhetik
Jean Paul

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Eine der besten Literaturzeitungen wäre die, welche stets 25 Jahre nach den Büchern erschiene. Eine solche ließe dann schlechte Gestalten, welche in der Lethe schon zerschmolzen wären, ungeformt verrinnen; – die gediegnen, festen Schein-Leichen, welche darin schwämmen, führte sie belebend ans Land; – die am Ufer Lebenden wären durch bloße 25 Jahre so alt geworden, daß sie weder die parteiliche Muttermilde, noch die Vaterstrenge der ersten Zeit gegen sie üben könnte.

Hingegen, so wie Journale nach 25 Jahren am besten prüfen könnten, ebenso könnte man sie selber darnach am besten messen. Vorleser dieses blättert sich zuweilen in gelehrten Zeitungen sehr zurück; wie wurden sie ganz zu politischen und zu nichts, und die Zeit fodert von der Zeitung den Namen zurück. Nicht nur als Geschichte des fortschreitenden, wenigstens fortgrabenden Geistes, sondern auch als Lehre und Vorbeschämung kühner Urteile über kühne Geister wünscht' ich oft auch eine Sammlung der frühern kritischen Urteile über unsere jetzo berühmten Schriftsteller gemacht, welche man aussprach, ehe, ja als sie berühmt wurden; wie wurden nicht im 6ten und 7ten Jahrzehend des vorigen Jahrhunderts Herders zu breit ausgespannten Flügel mit schwerem Kot beworfen, damit er belastet tiefer am Boden hinstriche! So sollte es mir auch wohltun, in der vorgeschlagenen Chresto-Mathie z. B. das Urteil der neuen BibliothekB. 23. S. 54 etc. der schönen Wissenschaften wieder gedruckt zu lesen, daß Goethe kein Dichter sei und den hohen Namen nicht verdiene; – oder das Urteil in der allgemeinen deutschen Bibliothek (ich bürge für dessen wirklichen Stand auf der Blattseite mit der graden Seitenzahl), daß Wieland endlich doch als Schwabe im 40ten Jahre werde klug werden. – Überhaupt wäre eine Sammlung von den nur in einem Jahrzehend öffentlich gefällten Splitterrichtersprüchen und unrechtlichen Erkenntnissen samt den höheren Sprüchen Rechtens, insofern sie große Schriftsteller betreffen, die beste Geschichte der Zeit, nämlich der literarischen.

Nur zweierlei Schriftstellern, denen des Auslands und denen der Vorzeit, wird eine neue freie, ja unregelmäßige Bahn von Kritikern verziehen, ja gedankt; denn diese fragen: ob denn das Feld der Schönheit in einige willkürliche Raine einzudämmen sei. Begibt sich hingegen ein Autor ihrer Zeit und Nähe aus den alten, ihm gezognen Furchen hinaus: so leiden sie es nicht, sondern ihm werden von ihnen seine Heiden-Tugenden als glänzende Sünden angerechnet und er damit in die Hölle geworfen.

Indes ist wirklich einer angebornen Kühnheit und Neuheit einiger Tadel gesund, damit sie nicht durch Lob sich verdoppele und über die Schranken der Schönheit springe. Glücklicherweise findet jeder, auch kleine, dichterische Schöpfer schon kritische Kreaturen, welche nichts machen und wagen und daher jenem scharf auf die Hand sehen können; und selten fehlt es einer schreibenden Zeit ganz an einem allgemeinen deutschen Bibliothekar, oder an einem schönen wissenschaftlichen, oder an einem Merkel, welcher gerade das verdorrte Gewächs ist, das man sucht, um es zum Vorteil des grünenden in die Erde zu stecken und mit ihm als einer Regel den Leuten den Gang über Wiesen zu verwehren. Wie oft wurde sogar mir, einem der Geringsten unter den Kühnen, nicht Merkel mein Waschschwamm, womit ich mich sauber genug abrieb! Ich ehre den Mann gern und absichtlich durch die Vergleichung mit einem Badeschwamm, da dieser ja ein lebendes Pflanzentier, in der Größe eines Hut-Kopfes, mit willkürlichen Bewegungen ist und sich selber fortpflanzt durch Auswüchse. Jetzo sitzt leider mein Pflanzentier in Rußland; und es bürdet mir bei der sauern Arbeit, meine Fehler abzulegen, noch gar die andere auf, sie einzusehen.

Der einzige Mensch, der nach einem Rezensenten nichts fragt, ist ein Rezensent. Lieset er allgemeine Satiren auf seine Amtbrüder: so lächelt er schelmisch genug und sagt nachher, wenn er in den Klub kommt: »es sei ihm aus der Seele geschrieben; denn er kenne, hoff' er, das Wesen besser als einer,« und nennt darauf zwanzig oder dreißig Spitzbuben, mit denen er briefwechselt.

Rezensier-Anstalten sollten so richten, als sie gerichtet werden; man verurteilt sie nämlich nicht nach der Mehrheit der schlechten Artikel – denn so wie ein großer Kopf nicht lauter große Stunden, so kann noch weniger ein »Redakteur« lauter große Köpfe gewinnen –, sondern man beurteilt sie nach dem Dasein des Geistes in der Minderzahl. Ist eine Anstalt so glücklich, nur für jedes gelehrte Glied einen lebendigen Geist zu haben und zu salarieren, für die Theologie einen, für die Wappenkunde einen u. s. w., so bildet die Anstalt wirklich einen lebendigen Menschen; die übrigen Mitarbeiter, z. B. am geistlichen Arm, sind dann, sobald er nur beseelt ist, ohne Schaden dessen bloße Hemd-Ärmel, des letzten Rock-Ärmel, des letzten Überrock-Ärmel und Ärmel-Manschetten u. s. w., und wer ist dann so zufrieden als die ganze gelehrte Welt!

Daher wirft sich der Heiligenschein einiger glänzenden Rezensionen bloß durch Namenlosigkeit, welche hier Richtern und Parteien Namen verschafft, so vorteilhaft einer ganzen Anstalt an, daß sogar ein von berühmten Namen unterschriebenes Urteil, wie z. B. in den Erfurter Anzeigen, oder auch ein Urteil, das ein Hoher namentlich in seinen Schriften ausspricht, nicht so viel wirkt und täuscht als ein ununterschriebenes Urteil, weil dieses sich uns für den Ausspruch einer ganzen gelehrten Kirchenversammlung ausgibt, die man über einen heiligen Vater hinaufsetzt.

Die niedrigste und vorläufigste Rezensier-Anstalt, die ich kenne, sind freilich Lesebibliotheken. Doch verbinden sie Lesen und Urteilen zugleich – haben Unparteilichkeit – die Mitglieder sprechen einander nicht nach, sondern vor – werden nicht bezahlt, sondern bezahlen – und treffen vergleichweise doch etwas.

Wenn man sich fragt, warum die meisten Literaturzeitungen zwar wie Sonnen auf-, aber wie Monde untergehen – denn sogar die Literaturbriefe wurden zuletzt Prose der Zeit, und sogar die allgemeine deutsche Bibliothek war anfangs Poesie der Zeit –: so muß man diese Verschlimmerung sich nicht bloß aus dem ähnlichen Absterben aller lang fortgesetzten Sammelwerke beantworten, sondern besonders aus der Erwägung, daß eine gute neue Richt-Anstalt dieser Art nur als ein Frucht- und Stachelzweig einer neuen, heiß vortreibenden Zeit entstanden und daß sie diese Zeit selber in ein schnelles und durch die Menge gewaltiges Wachsen und Treiben setzt, welchem sie in ihrer Einzelheit nicht nachwachsen kann. Anfangs folgt der Zeitung rüstig die Zeit, dann der Zeit hinkend die Zeitung, und endlich legt diese sich nieder. Darauf wird eine kritische Gegenfüßlerin geboren, und später wieder eine Gegen-Gegenfüßlerin, fast gleich der alten Füßlerin, je heftiger sich die gärende Zeit entwickelt. Allerdings verlieren unsere Rezensier-Anstalten durch ihre Menge so viel als unsere Bühnen durch ihre, indem die auftreibliche Zahl guter Kunstrichter oder Künstler, welche eine Zeitung oder eine Bühne zur Allmacht erhoben hätte, nun in auseinandergerückten Räumen mit gesellenlosen Gliedern erscheint, ohne die Beihülfe der Mitwirkung, ja mit der Voraussicht der parteiischen Entgegensetzung der Bühnen und Blätter. Die Alleinherrschaft einer Zeitung wie einer Hauptstadt würde uns mit blindem Glauben oder Nachsprechen anstecken. Die Menge der Sprecher und Widersprecher nötigt den Vielkopf (das Publikum) in seine Würde hinein, der Allrezensent zu sein. – In einer literarischen Hauptstadt wie London oder Paris sind Preis und Los eines guten und eines schlechten Autors bald und stark vom Vielkopf entschieden, aber um so stärker, da der Schriftsteller überall die mündliche und sichtbare Vollstreckung der Urteile über sich in der Gesellschaft empfängt. Diese Wirkung einer Hauptstadt wird uns weniger durch eine Hauptzeitung als durch eine Kompagnie von Zeitungen ersetzt, welche durch ihre ganzen Gassen lang den laufenden Sünder mit Ruten begleitet.

Das vollendete Journal aller Journale, die Kritik aller Kritiker, die uns noch in die Hände gefallen, wird wohl das jenaische Repertorium der Literatur bleiben; hier überschaut und überhöret ein Deutscher den ganzen deutschen Richter-Kreis bis unter jede richterliche Querbank hinab; und die Richter werden durch ihre eigne Zahl gerichtet. Es ist das Dionysius-Ohr der deutschen Fama und Zunge; es ist der gelehrte deutsche Reichs-Anzeiger der ungelehrten deutschen Reichs-Anzeiger. Obgleich Journale nur die in Paris aufgeschlagenen Bücher sind, worin das vorbeigehende Volk eine Krönung unterzeichnet, und wo ein Name tausend Namen schreiben kann, um einen fremden zu machen: so ist doch – nämlich eben darum – das Repertorium die einzige rechte Kritik, besonders aller Kritiker. Sehr ist zu wünschen, daß ein so kurzes, unparteiisches Journal – denn es führt nichts an als einfache Zeichen fremder Urteile – am Ende alle Zeitungen durch den Auszug daraus unnötig und ganz ungelesen mache; und ich wüßte nicht, was die Literatur dabei verlöre, wenn alle gedachte Zeitungen niemand läse und kaufte als eben die Repertoren des Repertoriums, welche doch am Ende das Beste und Herrlichste aus ihnen ziehen; denn Zeichen der Urteile sind selber die Urteile ganz, da diese, wie bekannt, keine Beweise dulden. –

Vorleser dies setzte sich selber einigemal auf den ästhetischen Richterstuhl und beurteilte herab, aber ihm war immer in seinem Sitzen, als sei die aufrechtstehende Partei mehre Zolle länger. Jenes grobe Gefühl von Überlegenheit versprach er sich vergeblich, welches sonst auch die niedrigsten Kunstrichter gegen den höchsten Schriftsteller in so bedeutendem Grade aufrecht erhält, das sie allein gegen einen Mann, vor welchem alle Leser scheu und achtend stehen, in eine so behagliche Lage setzt, daß er sich allein vor ihm wie ein Grobian heiter hinflegelt und ausspricht, wie etwan nach Pouqueville vor dem mächtigen Pascha in Morea sich niemand setzen darf als nur der Scharfrichter. Soll eine Rezension etwas Besseres als eine Antwort sein, die man einer Tee-Wirtin auf die Frage gibt, wie uns das Buch gefallen: so gehört so viel zu einer, daß sie selber zu einem Kunstwerk ausschlägt: erstlich ein schnelles Durchlesen, um die ungestörte Kraft des Ganzen aufzunehmen – zweitens ein langsames, um die flüchtig einwirkenden Teilchen dem Auge zu nähern – drittens ein genießend-klares, das beide vergleicht – viertens eine rein unparteiische Absonderung des Urteils über den Geist des Werks von dem Urteile über den Geist des Verfassers – fünftens eine Zurückführung des Urteils auf bekannte oder auf neue Grundsätze, daher eine Rezension leicht eine Ästhetik im kleinen wird – sechstens, siebentens, achtens etc. versteht sich von selber, nämlich Liebe für Wissenschaft und für Autor zugleich, für deutsche Sprache etc. – Darf man allerdings nicht schonen, sondern recht strafen jedes Talent und jedes Genie, welches als Verbrecher an seiner eigenen geistigen Majestät vor dem Gewinne, vor dem Vielkopfe und vor dem Lobe sich als den Schöpfer und seine höheren Geschöpfe wegwirft und lieber mit niedrigen besticht: so ist hingegen mild und menschlich jede Mittelmäßigkeit zu empfangen, welche nicht, wie ein nicht-wucherndes Talent, ein Pfund hergibt, sondern nur ihr Scherflein. Übrigens würde ich, liebe Amtbrüder, in jedem Zweifel-Falle die Milde der Härte vorziehen und auch hier im literarischen Gerichte, wie die Griechen im gerichtlichen, jedesmal, wenn die Zahl der weißen und die der schwarzen Kugeln sich glichen, im Namen der Minerva die weißen überwiegen lassen. Einige Kunstrichter aber geben bei solchem Kugel-Gleichgewicht durch Hineinwerfen einer schwarzen aus der Brust das Übergewicht. Ich würde, gute Richtamtbrüder, jeden herzreinen, aber irrigen Autor über meinen pflichtmäßigen Tadel womöglich durch Hinweisen auf seine anderen Kräfte oder auf die Wege, die genützten besser zu nützen, hinweisen. Denn der Rezensent sollte überhaupt mehr den Schriftsteller als den Leser aufzuklären suchen, weil niemand eine Rezension so oft lieset als jener, und niemand eine so wenig als dieser. Überhaupt, meine lieben Richtamtbrüder, was hätte nicht ein Richtamtbruder zu bedenken! So viel in der Tat, daß man fast lieber nur als der Rezensent seiner selber auftreten möchte, weil man da doch loben und tadeln kann, ohne bei dem Gegenstand anzustoßen. Denn, lieben Brüder, es gibt noch mehr fortzubedenken: z. B. treffender wird ein Preis-Autor gezeichnet durch Ausheben der meisterhaften Stellen – die ja nur er machen konnte – als durch Ausheben der schülerhaften, die ihn von der Masse nicht unterscheiden. Mit anderer Absicht würd' ich auch aus dem Unter-Autor nur sein Bestes auftragen und sagen: nun schließt daraus auf sein Schlimmstes! Überall übrigens sollte uns Richtamtbrüdern (da Erfahrung nur bejahen, und nicht verneinen kann) bloß das Schönste zum Maßstab eines Dichters dienen; denn das Schlechteste kann der beste haben, aber nicht das Beste der schlechte. Wie nach Jacobi die Philosophie überall das Positive, so hat die Kritik das Schöne zu suchen und zu zeigen; nur wird dadurch das Richten sauer; Fehler lassen sich beweisen, aber Schönheiten nur weisen; denn diese sind gleichsam die ersten Grundsätze, welche als ihr Selberbeweis nicht unterstützt werden, sondern unterstützen; jene aber lassen dem Kritiker ihr Zergliedern und ihr Zurückführen an den niedrigen Gerichtstuhl des Verstandes zu. Was uns widerspricht, hebt sich als Glied-Ecke heraus; was uns gefällt, verliert sich ins runde Ganze. Allerdings geben kühle Gefühle einem Manne ein Recht, warmen vorzuschreiben; er kann (gelehrt genug) sagen, er sei bei Kunstwerken, nach Gebrauch der Alten bei Gastmahlen, als der sogenannte Trinkkönig, welcher allein unter allen berauschten Gästen nüchtern und trocken dazusitzen habe. Ja er kann sagen – will er auf mehre Zeiten anspielen –, er halte sich die Leser als Champions, welche an seiner Statt das Berauschen und Genießen übernehmen, wie jeder sonst in Frankreich sich einen Trink-Champion halten konnte, der für ihn den Becher annahm und bestand.Histoire générale de la vie privée des Français dans tous les temps et dans toutes les provinces de la monarchie.


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