Jean Paul
Vorschule der Ästhetik
Jean Paul

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Wir kommen zur

zweiten Kautel des Kopfes,

ein gewisses Wissen

betreffend. Ich kann darüber, hoff' ich, mit Zuhörern sprechen, welche ungleich denen der ersten Kapitel, welche fortgegangen, dageblieben sind. Wirklich gibt es jetzo mehr Gelehrsamkeit als Gelehrte, so wie mehr Tugend als Tugendhafte. Die ganze jetzige Zeit – als eine Schwangere vieler Zeiten, mit Kindern und von Vätern - schwärmt; jede Schwärmerei (religiöse, politische, poetische, philosophische) flieht oder entbehrt als Einseitigkeit die Vielseitigkeit, das heißet die Kenntnisse. Einseitigkeit hält sich viel leichter für Allseitigkeit als die Vielseitigkeit; denn jene hat die Einheit, deren die letzte sich nicht fähig weiß.

Meine Herren, daß man jetzo wenig lieset und erfährt – daß man zwar ein paar wild aus dem Mittel- und anderem Alter herausgegriffene Köpfe studiert, aber ohne die Reihe weder rück- noch vorwärtsZ. B. Spinoza, nicht Leibniz; – Shakespeare, nicht Swift, geschweige seine Nebenmänner; – Chamfort, nicht Voltaire. – daß man nur Ebenbilder philosophischer und poetischer Götzen und Götter anschauet – daß daher viele Spinozisten an geistiger Schwindsucht versterben wie Spinoza an leiblicher – – alles dies führt mich auf hundert Betrachtungen, bloß um die Leute zu rechtfertigen, erstlich die Weltweisen, dann die Dichter. Jene wüßten sich eben ganz glücklich, wenn sie nur gar nichts wüßten (empirisch); sie wollen die geistigen Luftpumpen der Welt sein, fühlen aber, wie wenig sie es, gleich den gläsernen, über eine 300fache Verdünnung hinaus treiben können, so daß nachher bei allen Versuchen im sogenannten Abstrakten und Absoluten doch noch ein verfluchtes Stück Luft und Wind mitwirkt. Dieser Mangel an Nichts schlägt viele nieder; durch Nichts wäre das Sein oder Haben so leicht zu haben.

Wenn Blumenbach bemerkte, daß die Vögel durch leere Höhlen im Kopfe und in den Flügelknochen eben zu ihrer Flughöhe steigen; und wenn Sömmering fand, daß große leere Höhlen in den Gehirnkammern außerordentliche Fähigkeiten verkündigen: so ist dies eben nur physisch, was sich geistig bei den größten Poetikern wiederholet, welche recht gut wissen, daß das, was man mit einem krassen Worte Ignoranz nennt, ihren dichterischen Kräften an und für sich gar nicht schade. Ja mehre gehen so weit, daß, wie die Mönche dreierlei ArmutDie Armut des Besitzes, die des Gebrauchs und die des Affekts, der sogar das Notwendige hasset. haben, wovon die stärkste sogar das Notwendige entbehren will, sie gleicherweise sich des Nötigsten für Autoren, nämlich des Deutschen zu entschlagen suchen und, so wie Pomponius Lätus kein Griechisch erlernte, um sein Latein nicht zu verderben, kein Deutsch lernen, um ihre eigne Sprache nicht zu verfälschen. Es gibt jetzo kein Deutsch und keine Prose aus irgendeinem Jahrhundert (desgleichen keinen Reim und Versbau), die nicht könnte geschrieben werden; und wie bisher jeder seine eigne Wörterschreibung behauptete und zu nichts gehalten war als bloß zum Halten derselben, so verficht jeder seine eigne reichfreie deutsche Sprachlehre. Allerdings haben wir Schreiber uns jetzo so köstliche poetische Freiheiten – die nötigen prosaischen schalten sich von selber ein – errungen durch unseren Schreib-Aufwand von Ladenhütern, in welchen wir uns gegen viele Kenntnisse von Sachen und Worten und Wörtern höchst gleichgültig und stolz zeigten und solche gänzlich »ignorierten«, daß man diese Kenntnisse zum Glücke gar nicht von uns fodert und erwartet. Wenn wir nicht, wie französische Schriftsteller, die Wörterschreibung gar den Setzern und Druckern selber anheimstellen: so tun wir es nur, weil wir nicht, wie die Franzosen, eine bestimmte Schreibung haben, sondern weil uns jede eine richtige ist, wie Spaziergängern jeder Weg, und wir daher die Hülfe eines Setzers weniger vermissen. Mit desto mehr Recht sinnen wir die Sachenschreibung unserem Leser an, und er soll das Gehirn unseres Kopfes sein, ist unser erstes Postulat. Manches Wissen wird uns auch dadurch erspart, daß wir den ungelehrten Shakespeare darin erreichen, daß keiner von uns ausstreicht, wobei wir ihn noch dazu im Unterstreichen überbieten. Wir schreiben denn unsere Sachen nur so hin, und lernen wir später über sie hinaus, kommts uns sonst zupass' als Überschuß. – Sonst mögen übrigens manche dem Sokrates an Vorsicht nachahmen, welcher darum sich nicht in die eleusinischen Geheimnisse einweihen ließ, weil er darin seine eignen Gedanken zu hören besorgte, welche man dann später für ausgeplauderte eleusinische ausgeschrien hätte; aus gleicher richtigen Vorsicht lesen und erlernen viele Poetiker wenig, weil sie fürchten, die besten Sachen, die sie selber erfinden können, in fremden Büchern anzutreffen und dann gerade durch ihr Neuestes für Abschreiber zu gelten.

Da überhaupt die Bücher nur größere Briefe an das Publikum sind: so ringen wir nach jener angenehmen Nachlässigkeit, die man in kleineren Briefen so achtet und genießt; auch sahen mehre ihr Ringen dadurch belohnt, daß sie jene Kunstlosigkeit der Wörterstellung, der Holperigkeit, des Übelklangs und der Sprache überhaupt wirklich erreichten, welche Cicero dem Briefschreiber so beredt anpreiset.Cic. in orat. num. 23: Primum igitur eum (stilum epistolarem) e vinculis numerorum eximamus – Verba enim verbis coagmentare negligat – Habet enim ille tanquam hiatus concursu vocalium molle quiddam et quod indicet non ingratam negligentiam de re hominis magis quam de verbis laborantis. Auch dieser höhere Briefbücherstil ist keines von den schwächsten Sparmitteln des Wissens. Wie viele Sprach- und Periodenbau-Kenntnisse ersparen sich nicht wieder andere Poetiker schon dadurch, daß sie wie das einfache Kind bloß das Und zum Anfange und Bande ihrer Gliedersätze machen – denn ich setze bei ihnen voraus, daß sie es nicht aus verheimlichter Kenntnis und Nachahmung des ebenso mit Und anfangenden Hebräers und Demosthenes tun – und wie viel Kopf- und Zeit-Aufwand vermeiden sie bloß durch die Wahl eines älteren Stils, welcher zwar im 16. und 17ten Jahrhunderte selber noch schwierige Kunst warDennoch dringen die altdeutschen Volkmärchen und Geschichten auf den Sprachton ihrer Zeit; daher Büsching, Tieck u. a. das A1te mit Recht nur alt erzählen. Für Musäus war, auch mit Recht, die alte Sage nur Fahrzeug neuester Anspielungen. Weisser warf in das Orientalisch-Romantische der 1001 Nacht die Brand- und Leuchtkugeln des Verstandes; aber dafür bestreute er die Stätte mit desto mehr Salz. , aber jetzo im 19ten uns bei dem höheren Stande der Sprachbildung nur leicht wie Wasser entgeht und fließt! – Diese Leicht-Flüssigkeit schätzt man erst gerecht und ganz, wenn man dagegen den fast verdrüßlichen und strengflüssigen metallschweren Redefluß eines Lessings, Goethens, Herders, Schillers und noch vieler andern hält oder gar ihn sich zuleiten und fahrbar machen will.

Noch eine dahinschlagende Anmerkung sei über die guten Poetiker gegeben. Ich kann sie aber auf zwei Arten ausdrücken, in einer düstern harten Manier und in einer heitern gefälligen. In jener, die aber nicht die meinige ist, müßt' ich sie etwan so aussprechen: »Die meisten jetzigen Jünglinge geben zuerst das beste Buch, das ganz andere Bücher verspricht, als die nachherigen immer mehr abblühenden und verfalbenden sind; nicht nur unsere jungen Dichter im Ernsten und Komischen (und darunter gehört ein großer Teil der in meiner Vorschule mit Namen gelobten), sondern auch die jungen Philosophen zu Reinholds und Fichtens Zeit gaben uns anfangs ein Karneval mit Mardi-gras und Butterwoche und darauf die Fastenzeit. Erscheint neuerer Zeiten ein ausgezeichneter Kopf, so weiß ich voraus, daß er nichts wird – als schlechter. Hingegen unsere früheren großen Schriftsteller wurden erst aus Wandelsternen Sonnen. Wie verschieden sind Wielands ersten Gedichte von dessen letzten Gedichten und die ersten Lessings von dessen Nathan und Freimäuergesprächen! Wie bildete sich Goethe an sich selber, und Schiller sich an Goethen, und Herder an den Zeitgenossen hinauf! Nur der einzige Klopstock stand, sogar in der Jugend, wie der Polstern, schon in seiner Nordhöhe. Ebenso gaben uns Kant, Fichte, Schelling ihre Karwochen in der Philosophie früher als die Ostertage der Erstehung. Nur der einzige Jacobi machte eine Klopstocksche Ausnahme – vielleicht nur eine halbe, denn wir kennen nur seine philosophischen Früchte, nicht seine philosophischen Blüten – aber Leibniz macht eine ganze, denn in der Blütenzeit trug er schon Früchte. – Woher aber dieser Unterschied der Neuern? Daher: viele sind nur Überschwängerung einer fruchtbaren Zeit, welche die Köpfe durch deren Zahl zu größerer Wirkung steigert, wie denn plane flache Spiegel, recht zusammengestellt, gleich dem Brennspiegel beleuchten und zünden; Köpfe, die die Zeit unterdrücken kann, kann sie auch erheben; – ferner: der jetzige Zeit- und Jugenddünkel erhebt jeden Anfänger über jeden großen Mann, also zum größeren; und was ist hier weiter fort zu studieren als fremde Schwächen statt eigner – dazu kommen noch Mangel an Liebe, daher Mangel an Achtung der Leser und an Selbstbesserung – Verschwelgung der sinnlichen und geistigen Kräfte in der Blütenzeit beider – die unserm Jahrhundert eingeimpfte Gesetzlosigkeit aller Art u. s. w. Doch, um gerecht zu sein, tragen manche dieser vorreifen Gewächse zuletzt, wenn sie aus dem Selber-Treibhaus in den stärkenden Winter des Lebens kommen, doch Winterfrüchte und werden als Lagerobst weniger herb oder, ohne Allegorie, gute vielseitige, ja milde Kritiker.«

Nun genug dieser grellen Kunstmanier im Darstellen einer Bemerkung, welche der gefällige Kunststil ganz anders ausdrückt. Unsere neueren Autoren fangen freilich nicht mittelmäßig an, sondern sogleich auf der Stelle vortrefflich; dann aber ist es kein Wunder, wenn Sonnen, welche im Zeichen des Krebses zuerst erscheinen, also mit dem längsten, hellesten, wärmsten Tage, nicht darüber hinauskönnen, sondern sogleich und täglich niederwärts rücken, bis sie endlich ganz kalt-bleich abgehen. Ich erwarte daher von unsern jungen Schriftstellern, da sie sogleich mit ihrer ganzen Größe auftreten, so wenig ein Wachsen als von jungen Fliegen, von welchen der Unwissende der Naturgeschichte wegen der verschiedenen Fliegen-Größen meint, daß die kleinen zu großen wüchsen, indes doch jede, auch die kleinste, im ersten Wuchse verbleibt, und die größere nur eine andere Gattung ist.


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