Jean Paul
Vorschule der Ästhetik
Jean Paul

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§ 72

Der poetische Geist in den drei Schulen der Romanenmaterie, der italienischen, der deutschen und niederländischen

Jeder Roman muß einen allgemeinen Geist beherbergen, der das historische Ganze ohne Abbruch der freien Bewegung, wie ein Gott die freie Menschheit, heimlich zu einem Ziele verknüpfe und ziehe, so wie nach Boyle jedes rechte Gebäude einen gewissen Ton antworten muß; ein bloß geschichtlicher Roman ist nur eine Erzählung. In Wilhelm Meister ist dieser Lebens- und Blumengeist (spiritus rector) griechische Seelen-Metrik, d. h. Maß und Wohllaut des Lebens durch VernunftNach jedem Göttermahle und mitten unter den feinen Feuer-Weinen wird in jenem Romane seltenes Eis herumgegeben. Überhaupt versorgen die Höhlen dieses Vesuvs unser jetziges brennendes Welschland mit allem dem Schnee, dessen es bedarf. – in Woldemar und Allwill der Riesenkrieg gegen den Himmel der Liebe und des Rechts – in Klingers Romanen ein etwas unpoetischer Plage- und Poltergeist, der Ideal und Wirklichkeit, statt auszusöhnen, noch mehr zusammenhetzt – im Hesperus das Idealisieren der Wirklichkeit – im Titan steht der Geist vorn kraus auf dem Titel, dann in vier Bänden der ganze Titanenkrieg, aber dem Volke auf dem Markte will er, wie Geister pflegen, nicht erscheinen. Ist der Geist eines Romans eine Tierseele, oder ein Gnome, oder ein Plagegeist: so sinkt das ganze Gebilde leblos oder tierisch zu Boden.

Derselbe romantische Geist findet nun drei sehr verschiedene Körperschaften zu beseelen vor; daher eine dreifache Einteilung der Romane nach ihrer Materie nötig ist. – Die erste Klasse bilden die Romane der italienischen Schule. (Man verzeihe dem Mangel an eigentlichen Kunstwörtern den Gebrauch von anspielenden.) In ihnen fallen die Gestalten und ihre Verhältnisse mit dem Tone und dem Erheben des Dichters in eins. Was er schildert und sprechen läßt, ist nicht von seinem Innern verschieden; denn kann er sich über sein Erhabnes erheben, über sein Größtes vergrößern? – Einige Beispiele, welche diese Klasse füllen, machen das Spätere deutlicher: Werther, der Geisterseher, Woldemar, Ardinghello, die Neue Heloise, Klingers Romane, Donamar, Agnes von Lilien, Chateaubriands Romane, Valérie, Agathon, Titan etc.; lauter Romane zu einer Klasse, obwohl mit sehr auf- und absteigendem Werte, gehörig; denn keine Klasse macht klassisch. In diesen Romanen fodert und wählt der höhere Ton ein Erhöhen über die gemeinen Lebens-Tiefen – die größere Freiheit und Allgemeinheit der höhern Stände – weniger Individualisierung – unbestimmtere oder italienische oder natur- oder historisch-ideale Gegenden – hohe Frauen – große Leidenschaften etc. etc.

Die zweite Klasse, die Romane der deutschen Schule, erschwert das Ausgießen des romantischen heiligen Geistes noch mehr als sogar die niedrigere dritte. Dahin gehören z. B. – damit ich durch Beispiele meinen Erläuterungen vorbahne – Hippel, Fielding, Musäus, Hermes, Sterne, Goethens Meister zum Teil, Wakefield, Engels Stark, Lafontaines Gewalt der Liebe, Siebenkäs und besonders die Flegeljahre etc. Nichts ist schwerer mit dünnem romantischen Äther zu heben und zu halten als die schweren Honoratiores – –

Ich will aber lieber sogleich die dritte Klasse, die Romane der niederländischen Schule, dazunehmen, um beide wechselseitig aneinander zu erhellen; dahinein gehören Smolletts Romane teilweise – Siegfried von Lindenberg – Sterne im Korporal Trim – Wutz, Fixlein, Fibel – etc.

Die Tiefe ist als die umgekehrte Höhe (altitudo) beides den Flügeln des Dichters gleich brauchbar und wegsam, nur die Mitte, die Ebene nicht, welche Flug und Lauf zugleich begehrt; so wie Hauptstadt und Dorf, König und Bauer sich leichter der romantischen Darstellung bequemen als der in der Mitte liegende Marktflecken und Honoratior, oder so wie Trauerspiel und Lustspiel sich leichter in den entgegengesetzten Richtungen einträchtig aussprechen als Diderots und Ifflands Mittelspiel. Nämlich der Roman der deutschen Schule oder der der Honoratioren und gerade der, welcher meist von Seines-Gleichen zugleich geschrieben und gelesen wird, legt die große Schwierigkeit zu besiegen vor, daß der Dichter, vielleicht selber auf dem Lebens-Wege des Helden stehend und von allen kleinen Verwickelungen gefaßt, den Helden weder hinauf noch hinunter, noch mit den Folien der Kontraste male, und daß er doch die bürgerliche Alltäglichkeit mit dem Abendrote des romantischen Himmels überziehe und blühend färbe. Der Held im Roman der deutschen Schule, gleichsam in der Mitte und als Mittler zweier Stände, so wie der Lagen, der Sprachen, der Begebenheiten, und als ein Charakter, welcher weder die Erhabenheit der Gestalten der italienischen Form, noch die komische oder auch ernste Vertiefung der entgegengesetzten niederländischen annimmt, ein solcher Held muß dem Dichter nach zwei Richtungen hin die Mittel, romantisch zu sein, verteuern, ja rauben, und wer es nicht einsehen will, setze sich nur hin und setze die Flegeljahre fort. Sogar Werther würde sich aus der italienischen Schule in die deutsche herabbegeben müssen, wenn er nicht allein und lyrisch sich und seine vergrößernde Seele im Nachspiegeln einer kleinen Bürgerwelt ausspräche; denn dies alles ist so wahr, daß, wenn der große Dichter selber alles erzählt und also nur episch anstatt lyrisch gedichtet hätte, die Verhältnisse der Amtmännin und des Amtmanns und Legationsekretärs gar nicht über die deutsche Schule wären hinaus zu färben gewesen. Aber alles Lyrische stößt als das Reingeistige, welches alle gemeinen Verhältnisse in allgemeine verwandelt, wie die Lyra-Schwester, die Musik, jedes Mittlere und Niedrige aus.

Gewöhnlicherweise bauen die drei Schulen oder Schulstuben in einem Romane wie in einer Bildergalerie quer durcheinander hin, wie in den Werken des uns so bekannten Verfassers deutlich genug zu sehen ist; doch würd' ich, um den mir bekannten Verfasser nicht zu beleidigen, manches, z. B. das Kampanertal und besonders die drei letzten Bände des Titan, mehr in die italienische Klasse setzen. Desto weniger wird er mir verargen, daß ich im ersten Bande Titans noch viele niederländische Schleichwaren, z. B. den Doktor Sphex antreffe, welcher unter dem romantischen Saitenbezug sich wie eine Maus im Sangboden aufhält; daher der Verfasser mit Einsicht dieses Tier aus den folgenden Bänden vertrieben in den Katzenberger. An sich versöhnt sich schon die italienische Gattung so gut mit einem lächerlichen Charakter als sogar das Epos mit einem Thersites und Irus; nur aber spreche nicht der Dichter, sondern der Charakter das Komische aus.

Die deutsche Schule, welcher gemäß Goethens Meister das bürgerliche oder Prose-Leben am reichsten spielen ließ, trug vielleicht dazu bei, daß Novalis, dessen breites poetisches Blätter- und Buschwerk gegen den nackten Palmenwuchs Goethens abstach, den Meisters Lehrjahren Parteilichkeit für prosaisches Leben und wider poetisches zur Last gelegt. Goethen ist das bürgerliche Dicht-Leben auch Prosen-Leben, und beide sind ihm nur kurze und lange Füße – falsche und wahre Quantitäten – Hübners Reimregister, über welchen allen seine höhere Dichtkunst schwebt, sie als bloße Dicht- Mittel gebrauchend. Hier gilt im richtigen Sinne der gemißdeutete Ausdruck Poesie der Poesie. Sogar wenn Goethe sich selber für überzeugt vom Vorzuge der Lebens-Prose angäbe: so würde er doch nur nicht berechnen, daß er bloß durch sein höheres Darüberschweben dieser Lebens-Prose mehr Vergoldung leihe als der ihm näheren Gemeinpoesie. –

Die Romane der Franzosen haben in ihrer Allgemeinheit einen Anflug der italienischen Schule, und in ihrer Gemeinheit einen Anflug der niederländischen; aber von der deutschen haben sie nichts, weil ihrer Dichtkunst, wie dem russischen Staate, der mittlere Bürgerstand fehlt.

– – Ehe wir zu einer kleinen Ährenlese vermischter Bemerkungen über den Roman gelangen: hält uns die zweite Auflage mit einem ganz neuen, in der ersten überhüpften Paragraphen (dem folgenden) auf, welcher eine dem Romane verwandte Dichtart, die Idylle, behandelt. Es wünscht freilich besonders der Verfasser dies als Vorschulmeister (Proscholus) dadurch womöglich von sich den Vorwurf abzutreiben, als sei er keinesweges systematisch genug. Solche Vorwürfe kränken an sich, vorzüglich aber einen Mann, der sich bewußt ist, daß er anfangs für seine Ästhetik sich Pölitz zum Muster nehmen wollte in dem Punkte, worin dieser sich Bouterwek zum Muster insofern nahm, als dieser seiner scharf abgeteilten Ästhetik hinten einen Reserve-Schwanz von »Ergänzungklassen« aller der Dichtarten anband, welche (z. B. wie Idylle, Roman, Epigramm) vornen nicht abzuleiten gewesen.... Der Vorschulmeister unterließ es aber, weil er auffuhr und umfragte: »Wird denn auf diese Weise nicht mit dem Ergänz-Schweife die ganze vordere Geschmacklehre stranguliert? So schreibt doch lieber auf das Titelblatt: kurze, aber vollständige Ableitung aller Dichtarten, ausgenommen die sämtlichen unabgeleiteten, welche in die Ergänzklasse fallen.« So wollt' ich doch lieber meine ganze Ästhetik, und wäre sie die vollständigste, bloß unter dem Titel herausgeben »Ergänzklasse« oder »Vorschule«, wie ich denn früher wirklich getan.


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