Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

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Sobald Emanuel vor den Nachthimmel, vor den daran angeketteten Orkan und vor seinen Totenberg trat: so hoben Engel seine erweichte Seele wieder – er sah den Tod vom Himmel steigen und auf seinem Grabe den Freiheitbaum aufrichten – er sah die freundlichen Sterne näherkommen, und es waren die himmlischen Augen seiner Freunde und aller seligen Wesen. Viktor durfte seine dichterischen Hoffnungen durch keine Gründe stören; vielmehr wurd' er selber von Stunde zu Stunde tiefer in den Glauben an seinen Tod hineingezogen; wenigstens fürchtete er, daß der heutige Entzückung-Sturm die mürbe Wohnung dieses schönen Herzens und seiner Seufzer zertrennen und daß der Tod so lange um die edle Seele schleichen würde, bis er sie an ihren Flügeln, wenn sie in Wonne sie aufrichtete, vom Leben pflücken könnte, wie Kinder den Schmetterling so lang umgehen, bis er auf seiner Blume die Schwingen aneinandergefaltet in die räuberischen Finger erhebt.

Emanuel verschob durch Umwege das Ersteigen des Berges, um seinen gebrochnen Freund, dessen Augen nicht mehr trocken wurden, von einer Sonne in die andre zu heben, damit er in dieser hohen Stellung aus Lichtern herunterblickte auf diese Schattenerde und darauf den befreundeten Leichnam vor Kleinheit kaum bemerkte. »Darum« (sagt' er) »wird ja diese Erde alle Tage verfinstert, wie Käfige der Vögel, damit wir im Dunkeln leichter die höheren Melodien fassen. – Gedanken, die der Tag zu einem dunkeln Rauch und Nebel macht, stehen in der Nacht als Flammen und Lichter um uns, wie die Säule, die über dem Vesuv schwebt, am Tage eine Wolkensäule scheint und in der Nacht eine Feuersäule ist.« Viktor merkte die Absicht zu trösten und wurde desto untröstlicher und schwieg immer.

Sie gingen nicht an der Seite des Berges zur Trauerbirke hinauf, sondern an seinem langsam aufsteigenden Rücken. Sie übersahen das Theater der Nacht, über welches der Mond und das Gewitter verhüllet heraufrückten. Emanuel stand still und sagte: »O blick hinauf und sieh die ewig funkelnden Morgenauen, die um den Thron des Ewigen liegen! – Hätte aus dem Himmel nie ein Stern geschienen, nur dann würde sich der Mensch ängstlich in den letzten Schlaf auf einer wie ein Leichengewölbe überbauten dunkeln Erde ohne Öffnung legen.« Vor den Augen, die sich an Sonnen hefteten, schweiften blinkende Johanniswürmchen, und eine Fledermaus zischte nach einem grauen Nachtschmetterling – drei Johannisfeuer, vom Aberglauben angeschürt, zogen drei ferne Hügel aus der Nacht – alles Leben schlief unter seinem Blatt, unter seinem Zweig, näher an seiner Mutter, und in den herumgestreueten Träumen waren Gewitter – Fische taumelten wie Leichen auf der Wasserfläche als Vorboten des Donners.

Plötzlich fing Emanuel mit einer unpassenden, nicht genug bezwungnen Stimme an: »Wahrlich wir würden gefaßter neben dem Genius stehen, der die letzten Schlummerkörner auf die Augen unsrer Lieben fallen läßt, wenn sie nachher nicht in Kirchengewölben, in Kirchhöfen, sondern auf Auen ausschliefen, unter dem Himmel, oder als Mumien in Zimmern.... Jetzt, mein Geliebter,« (sie hörten schon das Wehen der Trauerbirke) »herrsche also über deine Phantasie; du wirst neben der Birke meine Ruhehöhle offen sehen – ich habe sie seit vier Wochen mit Blumen ausgesäet und überkleidet, die jetzt meistens blühen – du legst mich morgen ohne alles andre so in meinem Schlafkleide unter die Blumen – und deck es morgen zu – gib aber nicht, du Guter, meinem kleinen Blumenstück solche harte Namen wie andre Menschen – morgen, sag' ich; heute geh sogleich heim zu deinem Julius, wenn ich....« (gestorben bin, wollt' er sagen, konnt' aber die weiche Umschreibung vor Rührung nicht finden.) –

Ach das gebrochne Auge riß Horion mit einem Seufzer heraus aus der kalten offnen Grotte seines Geliebten, und er konnte nicht hinabsehn zu dem Blumenflor darin. Er schluchzete laut und sah aus Tränen zergangen in Emanuels Angesicht, um zu sehen, ob er lebe oder sterbe. Zwei Johanniswürmchen durchkreuzten einander in glimmendem Bogen über dem Grabe, sie senkten sich daneben hin und löschten aus, denn ihr Licht vergeht mit ihrer Bewegung.

In Viktors Wunden griff jetzt der Donner mit seinem ersten Schlag – den östlichen Horizont deckte ein zerfließender Blitz, und die Flamme lief über die Alpengebirge – die Gewitterstange auf dem Pulverturm schimmerte, seine Gewitterstürmer erklangen, die Irrwische spielten um den Turm, und mitten in der Luft rückte ein schwebender Lichtpunkt fürchterlich auf ihn zu.

In Maienthal wurde elf Uhr ausgerufen – um zwölf Uhr glaubte Emanuel dahin zu sein. – Endlich fiel Emanuel, selber vom fremden Kummer übermannt, an seinen Freund und sagte: »Was hast du mir noch zu sagen, mein Geliebter, mein unaussprechlich teurer Freund? – Meine Stunden sind dahin – unser Lebewohl kömmt – sage deines und störe dann mein Sterben nicht. – Sei still, wenn der Tod den Berg heraufsteigt, und jammere nicht nach, wenn er mich erhebt. – Was hast du mir noch zu sagen, mein ewig Geliebter?« – »Nichts mehr, du Engel des Himmels! ich kann auch nicht«, sagte der verblutete Mensch und legte das gedrückte Haupt mit Tränenströmen auf Emanuels Schulter.

»Nun so brich dein Herz von meinem ab und lebe wohl – sei glücklich, sei gut, sei groß – ich habe dich sehr geliebt, ich werde dich noch einmal lieben und dann unendlich – Guter! Treuer! Sterblicher wie ich! Unsterblicher wie ich!«

Die Gewitterstürmer läuteten heftiger – der schwebende Lichtpunkt trat an den Pulverturm – alle eingehüllten Wolken-Vulkane tobten nebeneinander und warfen ihre Flammen zusammen, und die Donner gingen wie Sturmglocken zwischen ihnen – die beiden Menschen lagen aneinander dicht, stumm, keuchend, drückend, zitternd vor dem letzten Wort.

»O sprich noch einmal, mein Horion, und nimm Abschied von deinem Freund – sage nur zu mir: Ruhe wohl! und lasse den Sterbenden.«

Horion sagte: »Ruhe wohl!« und ließ ihn. Seine Tränen hörten auf, und seine Seufzer verstummten. Der Donner schwieg fürchterlich. Die Natur ordnete stumm ihr Chaos im Gewitter. Kein Blitz schimmerte durch das Trauergerüste am Himmel. Bloß das Totengeläute der Gewitterstürmer sprach noch fort, und der Lichtpunkt rückte noch fort.

Unter der weiten Stille lag der Schlaf, die Träume und eines Freundes trostloses Herz.

In dieser Ewigkeit-Stille trat Emanuel ohne eine fremde Hand an die hohe Pforte, die schwarz hinaufsteigt über die Zeit.

Die Stille ist die Sprache der Geisterwelt, der Sternenhimmel ihr Sprachgitter – aber hinter dem Sternengitter erschien jetzt kein Geist, und Gott nicht.

Es kam die Minute, wo der Mensch seinen Körper ansieht und dann sein Ich und dann schaudert. – Das Ich steht allein neben seinem Schatten – ein Schaumglobus von Wesen zittert, knistert und wird niedriger, und man hört die Bläschen verschwinden und ist eines.

Emanuel schaute hinein in die Ewigkeit, sie sah wie eine lange Nacht aus.

Er sah um sich, ob er keinen Schatten werfe – ein Schatten wirft keinen Schatten.

Ach ein Stummer legt den Menschen in die Wiege, ein Stummer drückt ihn ins Grab. – Wenn er eine Freude hat, sieht es aus, als lachte ein Schlafender – wenn er jammert und weint, sieht es wie das Weinen im Schlafe. – Wir blicken alle zum Himmel auf und bitten um Trost; aber droben im unendlichen Blau ist keine Stimme für unser Herz – nichts erscheint, nichts tröstet uns, nichts antwortet uns. –

Und so sterben wir....

– O Allgütiger! wir sterben froher; allein der arme Emanuel kämpfte in der stillen Finsternis mit grimmigen Gedanken, die er so lange nicht gesehen hatte und die nach seinem erbleichenden Angesicht krallten. Aber diese Larven rennen davon, wenn ein freundliches Bruderangesicht vor dich tritt und dich umarmt. – Horion richtete sich auf und erwärmte den Gebeugten durch einen stummen Abschied wieder. Ein Sturmwind stürzte sich aus dem klaren Westen in die stumme arbeitende Hölle und jagte alle Blitze und alle Donner heraus. Siehe da flog aus dem zurückgewehten Gewölke der lichte Mond wie ein Engel des Friedens in das unbesudelte Blaue heraus – da unterschied sich im Lichte Emanuel von seinem Schatten – da beschien der Mond einen Regenbogen aus blassen Farbenkörnern, der in Südosten (der Pforte nach Ostindien) durch die dunklen Flutsäulen drang und sich über die Alpen bog – da sah Emanuel die vorige Himmelleiter wieder über die Erdennacht gelehnt – da kam die Entzückung ohne Maß, und er rief mit ausgebreiteten Armen: »Ach dort in Morgen, in Morgen, über die Straße nach dem Vaterland, da schimmert der Triumphbogen, da öffnet sich die Ehrenpforte, da ziehen die Sterbenden hindurch«...

Und da es jetzt zwölf Uhr schlug: so breitete er seine Hände verzückt gegen den Himmel, der blau war über dem Berge, und gegen den Mond, der heiter neben dem Gewitter ruhte, und rief brechend mit seligen Tränen: »Habe Dank, Ewiger, für mein erstes Leben, für alle meine Freuden, für diese schöne Erde.« –

Um Maienthal zogen Julius' Flötentöne, und er sah auf die Erde nieder.

»Und bleibe du gesegnet, du gute Erde, du gutes Mutterland, blühet, ihr Gefilde Hindostans, lebe wohl, du schimmerndes Maienthal mit deinen Blumen und mit deinen Menschen – und ihr Brüder alle, kommt mir nach einem langen Lächeln selig nach. Jetzt, o Ewiger, nimm mich hinauf und tröste die zwei Bleibenden.«

Die Todesengel standen auf allen Wolken und zogen ihre blitzenden Schwerter aus den Nächten – ein Donner schlug hinter dem andern, wie wenn aufgeworfen würde eine Gefängnistür des Erdenlebens nach der andern.

Der schreckliche Lichtpunkt hatte sich verkrochen aus der Mitte der Luft in den Pulverturm.

Die Todesstunde war schon vorüber und doch das Leben noch nicht.

Emanuel zitterte sehnend und bange, weil er noch kein Sterben fühlte – bewegte die Hände, als wenn er sie jemand geben wollte – starrte in die Blitze, als wenn er sie auf sich ziehen wollte....

»Tod! fasse mich,« rief er außer sich – »ihr gestorbnen Freunde! o Vater! o Mutter! brecht ab mein Herz, nehmet mich – ich kann, ich kann nicht mehr leben.« – –

Da fuhr ins Gewitter eine lodernde rasselnde Weltkugel hinauf, und der Pulverturm zerschoß wie eine auseinandergesprengte Hölle. –

Der Knall warf den flammenden Emanuel erblaßt in sein Blumengrab; der ganze donnernde Osten zitterte; der Mond und der Regenbogen wurden zugehüllt....

Die selige Nachmitternacht

Viktor regte, sinnlos darniedergeworfen, endlich den Arm und tastete damit an das kalte Angesicht, aus dem heute das tolle Totengebein diese Nacht gelesen hatte und das aus dem Grabe ragte, gen Himmel gekehrt. Er warf sich darüber und drückte seins an das bleiche. Eh' noch seine Tränen durch den harten Schmerz sich durchgerissen hatten: trugen die Wolken ihre Sturmfässer und ihre Leichenfackeln zurück, und durchsichtige Schaumflocken überflossen weichend den Mond und senkten sich endlich über das ganze Tal und über das stille Paar in tausend warmen Tropfen nieder, die den Menschen so leicht an seine erinnern. Der von einem der drei Engländer aufgesprengte Pulverturm hatte das Seetreffen der brennenden Wolken zertrennt.

Das zerstückte Gewitter hatte sich in kleinen Wolken herumgezogen und stand über der Mitternachtröte in Nordosten, als die kalte Betäubung die beiden Menschen noch zusammenheftete; endlich kam von oben herab eine heiße Hand zwischen ihre Angesichter, und eine furchtsame Stimme fragte: »Schlafet ihr?«

»O Julius,« (sagte Horion) »komm ins Grab, dein Emanuel ist gestorben«....

Ich mag die grausamen Minuten nicht zählen, die zwei Unglückliche liegen ließen mit dem Stachelgürtel des Jammers an einen Erblaßten gebunden. Aber schönere kamen, die vorher jedes Wölkchen aus dem Himmel drückten und den angelaufnen Mond abwischten und dann die heißen Augen öffneten vor der gereinigten abgekühlten Silbernacht.

»Ach er ist wohl nur ohnmächtig?« sagte Viktor sehr spät. Sie richteten sich seufzend auf. Sie zogen müde den Geliebten aus dem Grabe. Sie wollten ihn in seine Wohnung hinuntertragen, um da die Sonnenwende dieser schönen Seele wie der Johannissonne wieder zu erzwingen. Mit den dünnen Kräften, die ihnen der Gram noch übrig gelassen, und mit dem wenigen Licht, das noch in zwei nasse Augen kam, rangen sie sich mit dem zerknickten Engel, indes zwei arbeitende Schatten neben ihnen fürchterlich einen dritten im Schimmer trugen, vom Berge in die Wiesen herunter. Hier ging Viktor allein ins Dorf, um vielleicht einen tröstlichern als einen Leichenwagen zu besorgen. Der Blinde hielt sich an einen Birkenbaum, Emanuel schlief wie die andern Blumen, und auf ihnen, vor dem Monde... Aber Julius hörte plötzlich den Toten reden und ihn durch das Gras streifen; und er rannte, von Entsetzen verfolget, davon....


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