Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

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Er sprengte über den Hügel, auf dem er morgen sich mit seinem Horion wieder verknüpfen wollte, zehnmal hinauf und hinab. Er fluchte und donnerte auf alle seine Leidenschaften – freilich mit Leidenschaft –, die bisher die Beinsäge an ihre verbundnen Freundschafthände angelegt hatten: »O wenn ich dich nur wieder habe, Sebastian,« (sagt' er und riß den Gaul herum) »so will ich so sanft sein, so sanft wie du, und dich niemals verkennen, oder das Donnerwetter soll mich hier auf dem Platze....« Beschämt über den eiligen Widerspruch ritt er bloß im Paß nach Hause.

Seine Sehnsucht nach seinem wiederkehrenden Freunde drückt' er im Stalle dadurch aus, daß er die Scheitelhaare hinaufstülpte, den Zopf wie die vierte Geigensaite anzog und dem Schlüssel des Futterkastens den Bart abdrehte....

Nur ein Mensch, der nach einem Freunde gerade so wie nach einer Freundin schmachtet, verdienet beide. Aber es gibt Menschen, die aus der Erde gehen, ohne je darüber betrübt oder besorgt gewesen zu sein, daß sie niemand darin geliebt hatte. Derjenige, der nach dem Kommerzientraktat des Eigennutzes, nach dem gesellschaftlichen Vertrag der Höflichkeit, sogar nach dem Grenz- und Tauschvertrag der Liebe nichts Höheres kennt, ein solcher – ich wollt' aber, er hätte mich gar nicht vom Verleger verschrieben –, dessen fahles Herz nichts weiß von der Brüderunität befreundeter Menschen, vom Ineinanderverzweigen ihrer edlern Gefäße und von ihrer Eidgenossenschaft in Streit und Schmerz – – ich seh' aber nicht, weswegen ich von diesem Tropfe so lange rede, da er nicht einmal in Flamins Sehnen sich hineinzufühlen weiß, der ein liebendes, achtendes Auge begehrte, weil seine Fehler und seine Tugenden in gleichem Maße abstießen; denn bei andern Menschen machen wenigstens entweder die Flecken die Strahlen gut, oder die Strahlen die Flecken. – –

Bloß in fürstlichen Pferdeställen ist das Getöse früher und lauter, als das in der Kaplanei am ersten Wonnemonat war. Ich frage die erste beste Leserin, ob es je mehr zu bohnen und zu sieden geben kann als an einem Morgen, wo ein Lord mit dem Star erwartet wird und sein Sohn dazu und ein Starstecher. Die männlichen Rasttage fallen allezeit in die weiblichen Raspeltage; Vater und Sohn gingen gelassen dem Doktor und dem Stecher entgegen.

Der erste Mai fing sich, wie der Mensch und seine Weltgeschichte, mit einem Nebel an. Der Frühling, der Raffael der Norderde, stand schon draußen und überdeckte alle Gemächer unsers Vatikans mit seinen Gemälden. Ich hab' einen Nebel lieb, sobald er wie ein Schleier vom Angesicht eines schönen Tages abgleitet, und sobald ihn größere als die vier Fakultäten machen. Wenn er (der am 1. Mai war so) wie ein Zugnetz Gipfel und Bäche überflicht – wenn die herabgedrückten Wolken auf unsern Auen und durch nasse Stauden kriechen – wenn er auf der einen Weltgegend den Himmel mit einem Pech-Brodem besudelt und den Wald mit einer unreinen schweren Nebelbank bestreift, indes er auf der andern, abgewischt vom nassen Saphir des Himmels, in Tropfen verkleinert, die Blumen erleuchtet; und wenn dieser blaue Glanz und jene schmutzige Nacht nahe aneinander vorüberziehen und die Plätze tauschen: wem ist alsdann nicht, als säh' er Länder und Völker vor sich liegen, auf denen giftige und stinkende Nebel in Gruppen herumziehen, die bald kommen, bald gehen? – Und wenn ferner diese weiße Nacht mein schwermütiges Auge mit dahinfliegenden Dunstströmen, mit irrenden zitternden Duftstäubchen umzingelt: so erblick' ich trübe in dem Dunst das Menschenleben abgefärbt, mit seinen zwei großen Wolken an unserm Auf- und Untergange, mit seinem scheinbar lichten Raume um uns, mit seiner blauen Mündung über uns....

Der Doktor kann auch so gedacht haben, aber nicht Vater und Sohn, die ihm entgegengehen. Flamin wird stärker von der entfernten als nahen Natur, mehr von der großen als kleinen gerührt, so wie er mehr für den Staat als die Wohnstube Gefühl hat, und sein innerer Mensch windet sich am liebsten an Pyramiden empor, an Gewittern, an Alpen. Der Kaplan genießet bei der ganzen Sache nichts als – Maibutter, und aus seinem Munde geht bei so vielem moralischen Apparate nichts als – Speichel, beides, weil er befährt, der Dampf fress' ihn an und zerbeiße seinen Schlund und Magen.

Als sie vom Hügel des nächtlichen Galopps in ein mit Nebeldampf verschüttetes Tal einschritten, zogen ihnen daraus drei Garnisonregimenter im Doppelschritt entgegen. Jedes Regiment war vier Mann stark und ebenso hoch – ohne Pulver und Schuhe – aber versehen mit fein durchbrochnen Schenkel-Manschetten, nämlich mit porösen Hosen, und überflüssigen Offizieren, weil keine Gemeine dabei waren. Da ich jetzt in meiner Beschreibung gar dazu setze, daß beide Stäbe, sowohl der Regiment- als der Generalstab, über 600 Kanonen in der Tasche hatten und überhaupt einen ganzen Artillerie-Zug, und daß die Prima Plana ganz neue, im Kriege ungewöhnliche gelbe Kugeln, die eher aufkeimten als das von Wilden gesäete Schießpulver, mit der Zunge in die Flinten steckte: so würd' ich (ich befürchte das) die Leser, zumal die Leserinnen – um so mehr, da ichs noch nicht erraten lasse, warens Soldaten-Eltern oder Soldaten-Jungen – ein wenig zu ängstlich machen, wenn ich gar eintunken und vollends den verdrießlichen Umstand, daß die Truppen auf den benebelten Hofkaplan Feuer zu geben anfingen, hinzu erzählen wollte, ohne spornstreichs schon vorher mit der Nachricht vorzusprengen, daß hinter der Armee eine Mannstimme rief: Halt!

Herausfuhr aus dem letzten Treffen der Generalfeldmarschall, der gerade noch einmal so lang war als sein Stückleutnant – mit rundem Hut, mit fliegenden Armen und Haaren stürzt' er sich wütend auf Flamin zu und erpackte ihn, um ihn umzubringen – aus Haß weniger als aus Liebe – der Doktor wars – die beiden Freunde lagen zitternd ineinander, Gesicht in Gesicht gehüllt, Brust von Brust zurückgedrückt, mit Seelen ohne Freudenworte, aber nicht ohne Freudentränen – die erste Umarmung endigte sich mit einer zweiten – die ersten Laute waren ihre zwei Namen....

Der Kaplan privatisierte neben der Armee und stand verdrießlich auf seinem Isolierschemel mit dem leeren Halse, um den nichts fiel. »Umhalset euch nur noch einen Augenblick« – sagte er und wandte sich halb um – »ich muß mich nur dort ein bißchen an die Haselstaude stellen, will aber gleich wieder da sein und auch auf meiner Seite den Herrn Doktor mit tausend Freuden umarmen.« – Aber Horion verstand den Unwillen der Liebe, er flog aus des Sohnes Armen in die des Vaters und verweilte lange darin und machte alles wieder gut.

Mit befriedigter Liebe, mit tanzenden Herzen, mit schwelgenden Augen, unter dem aufgeblühten Himmel und über den Schmuck der Erde – denn der Frühling hatte sein Schmuckkästchen aufgeschlossen und blühende Juwelen in alle Täler und auf alle Hügel und bis weit an die Berge geworfen – wandelten beide selig dahin, und die britische Hand preßte die deutsche. Sebastian Horion konnte nichts sagen zu Flamin, aber er sprach mit dem Vater, und jeder gleichgültige Laut machte den mit Blut und Liebe überhäuften Busen freier.

Die drei Regimenter hatte jeder aus dem Kopfe verloren; aber sie waren selber dem Generalfeldmarschall gehorsam nachmarschiert. Sebastian, zu menschenfreundlich, um jemand zu vergessen, drehte sich gegen den Nachtrab von kleinen Ohnehosen herum, die nicht aus Paris, sondern aus Flachsenfingen waren und als bettelnde Soldatenkinder ihn begleitet hatten: »Meine Kinder,« (sagt' er und sah nichts an als sein stehendes Heer) »heute ist für euren Generalissimus und euch der merkwürdige Tag, wo er drei Dinge tut – Ich dank' euch erstlich ab, aber meine Reduktion soll euch so wenig wie eine fürstliche hindern, zu betteln – zweitens bezahl' ich euch den rückständigen Sold von drei Jahren, nämlich jedem Offizier das Traktement von zwei Siebzehnern, weil man jetzo die Gage erhöhet hat – drittens lauft morgen wieder her, ich lasse den sämtlichen Regimentern Hosen anmessen.«

Er kehrte sich gegen den Kaplan und sagte: »Man sollte lieber Sachen verschenken als Geld, denn die Dankbarkeit für dieses wird zugleich mit diesem ausgegeben, aber in einem Paar verehrten Hosen hält der Dank so lang wie sein Überzug selber.«

Das Schlimme dabei wird nur sein, daß der flachsenfingische Fürst und sein Kriegkollegium sich zuletzt in die Hosen mengen, da beide unmöglich verstatten können, daß regelmäßige Truppen mehr auf als in dem Leibe haben, nämlich etwas. In unsern Tagen sollt' es endlich dem dümmsten Montierung- und Proviantkommissar einleuchten – aber in der Tat gibt es kluge –, 1) daß unter zwei Soldaten der hungrige stets dem satten vorzuziehen sei, weil schon von ganzen Völkern bekannt ist, daß sie desto tapferer sind, je weniger sie haben – 2) daß, so wie in BlotzheimIm oberen Elsaß, wo alle drei Jahre bloß der beste Jüngling Kranz und Schaumünze und die Verwaltung der Aue empfängt. unter zwei gleich tugendhaften Jünglingen der ärmere gekrönt wird, ebenso der arme Untertan billig dem reichen trotz aller gleichen Tapferkeit dennoch vorgezogen und allein angeworben werde, weil der arme Teufel besser mit Hunger und Frost bekannt ist – daß 3) jetzt, da auf allen Stufen des Throns wie auf Wällen Kanonen stehen (wie die Sonne ihren Glanz von tausend speienden Vulkanen empfängt) und da in einem guten Staate das männliche Stammholz zu Ladstöcken abgetrieben wird, das Volk mit Nutzen in zweierlei Hausarme zerfalle, in beschützte und in schützende – Und 4) soll der Teufel den holen, der murrt. –

Als meine drei geliebten Menschen endlich vor der Kaplanei ankamen, war das ganze aufgelöste Heer ihnen heimlich nachgerückt und wollte die Hosen. Aber noch etwas Größeres war ihnen aus Flachsenfingen nachgefahren – der blinde Lord. Kaum hatte den jungen Gast die Britin nicht höflich, sondern freudig hereingelächelt, kaum hatte Agathe zum erstenmal ernsthaft sich hinter die Mutter, und die alte Appel sich hinter die Kochtöpfe versteckt: so tat der aufräumende Eymann einen langen Sprung vom Fenster hinweg, an welches vier Engländer – keine Ausländer, sondern Pferde – herantrabten. Jetzt fiel erst allen die Frage ein, wo der Augenarzt sei; und Sebastian hatte kaum die Zeit, darauf zu antworten, es komme keiner nach, denn er selber operiere seinen Vater. In den engen Zwischenraum, den sich der Vater von der Wagentüre zur Stubentüre durchführen ließ, mußte der Sohn die Lüge drängen, oder vielmehr die Bitte um die Lüge, die die Familie Seiner Herrlichkeit anhängen sollte, »der Sohn wäre noch nicht da, sondern bloß der Okulist, dem der letzte Schlagfluß die Sprache genommen«.

Ich und der Leser stehen unter einem solchen Gedränge von Leuten, daß ich ihm noch nicht einmal so viel sagen können, daß der Doktor Kuhlpepper dem Lord das linke Auge mit der plumpen Starnadel so gut wie ausgestochen; – um also das rechte des geliebten Vaters zu retten, hatte Sebastian sich auf die Kur jener Verarmten gelegt, die schon mit den Augen im Orkus wandeln, und nur noch mit vier Sinnen außerhalb des Grabes stehen. –

Als der Sohn die teure, mit einer so langen Nacht bedeckte Gestalt, für die es kein Kind und keine Sonne mehr gab, erblickte: so schob er sein Hand, deren Puls von Mitleid, Freude und Hoffnung zitterte, der Eymannischen unter und reichte sie eilend hin und drückte die väterliche unter dem fremden Namen. Aber er mußte zur Haustüre wieder hinaus, damit seine bebende Retterhand auszitterte, und er hielt draußen das vor Hoffnung pochende Herz mit dem Gedanken an, daß die Operation nicht geraten werde – er sah lächelnd an dem zwölfspännigen Kadettenkorps auf und ab, damit die Rührung und die Sehnsucht aus der bewegten Brust entwichen. Drinnen hatt' unterdes die Kaplänin aus dem Blinden einen noch Blindern gemacht und ihm vorgelogen quantum satis; sobald eine Lüge, pia fraus, ein dolus bonus, eine poetische und juristische fictio auszufertigen ist: so stellen sich die Weiber von selber als expedierende Sekretäre und Hofbuchdruckerinnen hinzu und helfen dem ehrlichen Mann. »Ich wünschte sehr,« – sagte der Vater beim Eintritt des Sohnes – »die Operation ginge jetzo vor sich, ehe mein Sohn angekommen ist.« Die Kaplänin holte den beklommenen Sohn zurück und entdeckte ihm den väterlichen Wunsch. Er trat leise unter die verlegene Gesellschaft. Das Zimmer wurde verschattet, die Starlanzette vorgeholt und das kranke Auge festgemacht. Alles stand mit banger Aufmerksamkeit um den ruhigen Blinden. Der Kaplan guckte mit einer lächerlichen Angst und Qual auf das schlafende Wochenkind, um mit ihm bei dem kleinsten Schrei sogleich aus dem Starstechzimmer hinauszulaufen. Agathe und Flamin hielten sich weit vom Patienten, und beide mit gleichem Ernst. Die edle Mutter Flamins näherte sich mit ihrem von Freude und Sorge und Liebe zugleich ergriffenen Herzen und mit ihren überfließenden Augen, die dem erschütterten Herzen gehorchten. Viktor weinte bang und froh neben dem stummen Vater, aber er zerquetschte heftig jeden Tropfen, der ihn stören konnte. – So teilt jede Operation durch das Steigen der Zurüstungen dem Zuschauer Herzklopfen und Bangen mit. Nur der verhüllte Brite – ein Mensch, der sein Haupt wie ein hohes Gebirge kalt und heiter über eine Feuerzone hob – dieser hielt der kindlichen Hand ein schweigendes Angesicht ohne Zuckung vor; er blieb vor dem Schicksal gefaßt und stumm, das jetzt entscheiden wollte, ob seine öde Nacht langen sollte bis ans Grab, oder nur bis an diese Minute....

Das Schicksal sagte: es werde Licht, und es ward. – Das unsichtbare Schicksal nahm eines Sohnes ängstliche Hand und schloß damit ein Auge auf, das einer schönern Nacht als dieser ungestirnten würdig war: Viktor drückte die reife Starlinse – diese auf die Schöpfung geworfene Dampfkugel und Wolke – in den Boden des Augapfels hinab; und so, da ein Atom drei Linien tief versenket war, hatte ein Mensch die Unermeßlichkeit wieder und ein Vater den Sohn. Gedrückter Mensch! der du zugleich ein Sohn und ein Knecht des Staubes bist, wie klein ist der Gedanke, die Minute, der Bluts- oder der Tränentropfen, der dein weites Gehirn, dein weites Herz überschwillt! Und wenn ein paar Blutkügelchen bald deine Montgolfiers-Kugeln, bald deine Belidors-Druckkugeln werden, ach wie wenig Erde ist es, die dich hebt und drückt! –

»Viktor! du? – Du hast mich geheilt, mein Sohn?« (sagte der errettete Mensch und nahm die noch mit dem Arbeitzeuge bewaffnete Hand) – »Leg weg und bind mich wieder zu! Ich freue mich, daß ich dich zuerst sah.« – Der Sohn konnte vor Rührung nicht. – »Verbinde mich! das Licht schmerzt. – Du warst es? Rede!« – Er band stumm das geöffnete Auge unter den frohen Tränen des seinigen wieder zu. Als aber der Verband der schönen stoischen Seele alles verdeckte, seine Errötung und seine Ergießung: so wars dem zu glücklichen Sohne nicht mehr möglich, sich länger zu fassen – er überließ sich seinem Herzen und klammerte sich mit seinen Tränen an das umhüllte Angesicht, dem er hellere Tage wiedergegeben hatte; und als er an seiner zitternden Brust die schnellern Schläge des väterlichen Herzens und die festere Umarmung des Dankes fühlte: dann war das beste Kind das glücklichste Kind. – Und alle waren über seine Freude froh und wünschten mehr dem Sohne als dem Vater Glück....


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