Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

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25. Hundposttag

Verstellte und wahre Ohnmacht Klotildens – Julius – Emanuels Brief über Gott

Gutes, schönes Geschlecht! Zuweilen wenn ich ein demantenes Herz über deinem warmen hängen sehe: so frag' ich: trägst du etwan ein abgebildetes darum auf deiner Brust, um dem Amor, dem Schicksal und der Verleumdung das gleiche Ziel ihrer verschiedenen Pfeile zu bezeichnen, wie der arme Soldat, der kniend umgeschossen wird, durch ein in Papier geschnittenes Herz den Kugeln seiner Kameraden die Stelle des schlagenden anweist? – – Wenn dieses Kapitel geendigt ist, wird mich der Leser nicht mehr fragen, warum ichs so angefangen habe...

Einst kam Viktor von einem tagelangen Spaziergange zurück, als ihm Marie mit einem Briefchen von Matthieu atemlos entgegenlief. Es stand die Frage darin, ob er ihn und seine Schwester nicht heute über St. Lüne bis nach Kussewitz begleiten wollte. Das Laufen Mariens hatte bloß von einem reichen Botenlohn und Gnadengelde Matzens hergerührt, der arme Leute oft zugleich beschenkte und persiflierte, wie er seine Schwester zugleich liebenswürdig und lächerlich fand. Leuten, die ihn kannten, kam er daher komisch vor, wenn er ernsthaft sein mußte. Aber Viktor sagte Nein zur Mitreise; was recht gut war, denn beide waren ohnehin schon fort. Ich kann nicht bestimmen, obs nach zwei oder nach drei Tagen war, daß sie wiederkamen, die Schwester mit dem kältesten Gesichte gegen ihn, und der Bruder mit dem wärmsten. Er konnte sich diese doppelte Temperatur nicht ganz erklären, sondern nur halb etwan aus Entdeckungen, die beide bei Tostato und dem Grafen O über seine Verkleidung und sein Buden-Drama könnten gemacht haben. Bisher war Joachimens Zürnen immer erst eine Folge des seinigen gewesen; jetzo wars umgekehrt; dies verdroß ihn aber sehr.

Einige Tage darauf stand er mit der Fürstin und mit Joachimen in einem Fenster des ministerialischen Louvre. Die Unterhaltung war lebhaft genug; die Fürstin überzählte die Buden auf dem Markte, Joachime sah dem schnellen Zickzack einer Schwalbe nach, Viktor stand heimlich auf einem Beine (das andere stellt' er nur zum Schein und unbeladen auf den Boden), um zu versuchen, wie lang' ers aushalte. Auf einmal sagte die Fürstin: »Heilige Maria! wie kann man doch ein armes Kind so eingesperrt in einem Kasten herumtragen!« Sie guckten alle auf die Straße. Viktor nahm sich die Freiheit zu bemerken, daß das arme Kind von – Wachs sei. Eine Frau trug einen kleinen Glasschrank vor sich hängend, worin ein wächserner eingewindelter Engel schlief; sie bettelte, wie andere, gleichsam auf dieses Kind, und das Kleine ernährte sie besser, als wenn es lebendig gewesen wäre. Die Fürstin verlangte die neue Erscheinung herauf. Die Frau trat zitternd mit ihrem Mumienkästchen ein und zog den kleinen Vorhang zurück. Die Fürstin hing ein künstlerisch-trunknes Auge an die schlafende holde Gestalt, die (wie ihr Stoff von Wachs) aus Blumen geboren und in Frühlingen erzogen schien. Jede Schönheit drang tief in ihr Herz; daher liebte sie Klotilden so sehr und viele Deutsche so wenig. Joachime hatte nur ein Kind und eine Schönheit lieb – und beides war sie selber. Viktor sagte, diese wächserne Mimik und Kopie des Lebens hab' ihn von jeher trübe gemacht, und er könne nicht einmal seine eigne Wachs-Nachbildung in St. Lüne ohne Schauder sehen. »Steht sie nicht in einem Überrock am Fenster des Pfarrhauses?« fragte Joachime viel heiterer. »Nicht wahr?« fragt' er wieder, »Sie dachten wohl vor einigen Tagen, ich wär' es selber?« – Aus ihrer Miene erriet er ihren bisherigen Irrtum, der vielleicht mit beigetragen hatte, sie gegen ihn aufzubringen. Der Pater der Fürstin kam dazu und fügte – nach seiner Gewohnheit, zu huldigen – bei, er werd' ihn, um ihm das Sitzen zu ersparen, nächstens bloß nach seinem Wachsbild zeichnen. Der Pater war bekanntlich ein guter Zeichner.

Ich lasse Begebenheiten, die weniger wichtig sind, unerzählt liegen und gehe fröhlich weiter.

Es war schon im März, wo die höhern Stände wegen ihres sitzenden Winterschlafes mehr vollblütig als kaltblütig sind – wers nicht versteht, nimmt an, ihr Überfluß an Blute rühre mehr vom Aussaugen des fremden her –; wo die Krankheiten ihre Besuchkarten in Gestalt der Rezepte beim ganzen Hof abgeben; wo die Augen der Fürstin, das Äther-Embonpoint des Fürsten und die gichtischen Hände des Hofapothekers die Winterstürme fortsetzten: da war es schon, sag ich, als auch Klotilde den Einfluß des Winters und ihrer verdoppelten Abgeschiedenheit von Zerstreuungen und ihres Umgangs mit ihren Phantasien jeden Tag heftiger empfand... Wenn ich aufrichtig sein soll: so mess' ich ihrer Abgeschiedenheit wenig, aber ihrem vom Wohlstand auferlegten Umgang mit dem edlen Matz, mit den Schleunesschen, mit andern kaltblütigen Amphibien alles bei; ein unschuldiges Herz muß in dem moralischen Frostwetter, wie alabasterne Gartenstatuen im physischen, wenn jenes und wenn diese weiche einsaugende Adern haben, Risse bekommen und brechen.

So stands mit ihr an einem wichtigen Tage, wo er bei ihr die kleine Julia fand. Diesen geliebten Namen legte sie dem Kinde des Seniors bei, des Mietherrn von Flamin, um ihre Trauersehnsucht nach ihrer toten Giulia durch einen ähnlichen Klang, durch den Rest eines Echo zu ernähren. »Dieser Trauerton« (sagte Viktor bei sich) »ist ja für sie das willkommene ferne Rollen des Leichenwagens, der sie zu ihrer Jugendfreundin holt; und ihre Erwartung eines ähnlichen Schicksals ist ja der traurigste Beweis eines ähnlichen Grams.« Wenn noch etwas nötig war, seine Freundschaft von aller Liebe zu reinigen: so wars dieses schnelle Entblättern einer so schönen Passionblume; – gegen Leidende schämt man sich des kleinsten Eigennutzes. – Unter dem Gespräche, von dem sich die eifersüchtige Julia durch die Unverständlichkeit ausgeschlossen fand, zupfte sie an der Bedientenklingel aus Verdruß; denn Mädchen machen schon um acht Jahre früher Gefallansprüche als Knaben. Klotilde verbot dieses Geläute durch ein zu spätes Interdikt; die Kleine, erfreuet, daß sie das hereilende Kammermädchen in Bewegung gesetzt, suchte wieder an der Quaste zu zupfen. Klotilde sagte auf französisch zum Doktor: »Man darf ihr nichts zu monarchisch befehlen; jetzt ruht sie nicht, bis ich mein äußerstes Mittel versuche. – Julia!« sagte sie noch einmal mit einem weiten, von Liebe übergossenen Auge; aber umsonst. »Nun sterb' ich!« sagte sie, schon dahinsterbend, und lehnte das schöne, von einem scheidenden Genius bewohnte Haupt an den Stuhl zurück und schloß die frommen Augen zu, die nur in einem Himmel wieder aufzugehen verdienten. Indem Viktor bewegt und stumm vor der stillen Scheintoten stand und bei sich dachte: »Wenn sie nun nicht mehr erwachte und du die starre Hand vergeblich rissest, und ihr letztes Wort auf dieser öden Erde gewesen wäre: nun sterb' ich! – o Gott, gäb' es dann ein anderes Mittel für die Trostlosigkeit ihres Freundes als ein Schwert und die letzte Wunde? Und ich faßte mit der kalten Hand ihre Hand und sagte: ich gehe mit dir!« – indem er so dachte, und indem die Kleine weinend die sinkende Rechte zog: so wurde das Angesicht wirklich bleicher, und die Linke gleitete vom Schoß herab – – hier wurde jenes Schwert mit der Schärfe über sein Herz gezogen – – Aber bald schlug sie wieder die irren Augen auf, todesschlaftrunken sich besinnend und schämend. Sie beschönigte die flüchtige Ohnmacht durch die Bemerkung: »Ich habe es wie jener Schauspieler mit der Urne seines Kindes gemacht, ich dachte mich an die Stelle meiner Giulia in ihrer letzten Minute, aber ein wenig zu glücklich.«

Er wollte eben medizinische Hirtenbriefe gegen diese zernagende Schwärmerei abfassen – so sehr übersetzt eine unglückliche Liebe jedes weibliche Herz aus dem majore-Ton in den minore-Ton, sogar einer Klotilde ihres, deren Stirn männlich, und deren Kinn sich fast mehr zum Mut als zur Schönheit erhob –, als ganz andere Hirtenbriefe kamen. Die Botenmeisterin derselben war Viktors glücklichere Freundin – Agathe. Lache wieder Leben, du Unbefangne, in zwei Herzen, auf welche der Tod seine fliegenden Wolken-Schatten geworfen! Sie fiel vertraut in zwei freundschaftliche Arme; aber gegen ihren Bruder Doktor, der so lange statt des ganzen Rumpfs nur seine Hand, d. h. seine Briefe, nach St. Lüne hatte gehen lassen, war sie noch scheu. Ich kann aber seinen Fehler, aus einem Hause, das er ein Vierteljahr aus Gründen gemieden, nachher noch ein zweites ohne Gründe wegzubleiben, ich kann diesen Fehler nicht ganz verdammen, weil ich ihn – selber habe. – Sie konnte sich nicht satt an ihm sehen; ihr blühendes Landgesicht wies ihm statt seiner jetzigen Karwoche des Grames eine Rötelzeichnung seiner und ihrer dahingeflatterten Freudentage im Pfarrgarten. Er verhieß ihr feierlich, ihr Ostergast zu sein mit ihrem Bruder und statt der Köpfe und Fenster einander nichts einzuschlagen als Eier; er rastete nicht, bis er der alte wieder war, und sie die alte. Da sie die Langduodez-Geschichte des Dorfes und Vaters den beiden nur aus Liebe lächelnden Hofleuten gar nicht als eine Auszugmacherin oder in einer verstümmelten Ausgabe ablieferte, sondern in der Länge ihrer Rückenbänder: so fühlten Klotilde und Viktor, wie sanft ihnen dieses Niedersteigen von den bunten spitzen Hofgletschern in die weichen Täler der mittlern Stände tat, und sie sehnten sich beide weg von glatten Herzen an warme. Unter den Menschen und Borsdorferäpfeln sind nicht die glatten die besten, sondern die rauhen mit einigen Warzen. Dieses Sehnen nach aufrichtigern Seelen war es auch wohl, was aus Klotilden die Behauptung preßte: es gebe nur Mißheiraten zwischen den Seelen, nicht zwischen den Ständen. Daher kam ihre wachsende Liebe gegen die außer dem Lohkasten eines Stammbaums, nur in der Gemeinhut grünende Agathe – welche Liebe einmal ich und der Leser im ersten Bande aus Scharfsicht für den Deckmantel einer andern Liebe gegen Flamin erklärt haben, und die uns beiden den Tadel gegen eine Heldin abgewöhnen sollte, die ihn hintennach immer widerlegt.

Auf der dicken Brieftasche, die Agathe brachte, war die Handschrift der Aufschrift von – Emanuel, welchen Klotilde alles an die Pfarrerin überschreiben ließ, um ihrer Stiefmutter das – Zumachen ihrer Briefe abzunehmen. Die Frau Le Baut hatte diese Einsicht der Akten, diese Sokrates-Hebammenkunst im Ministerium erlernt, das ein Recht besitzt, Haussuchung in den Briefen aller Untertanen zu tun, weil es sie entweder für Pestkranke oder für Gefangene halten kann, wenn es will. Während die Stieftochter im Nebenzimmer das äußere Paket erbrach, weil sie aus seiner Dicke einen Einschluß für den Doktor prophezeiete: hauchte letzter aus Zufall – oder aus Absicht; denn seit einiger Zeit legte er überall seine Entzifferkanzleien der Weiber an, im engsten Winkel, in jeder Kleidfalte, in den Spuren gelesener Bücher – haucht' er, sagt' ich, zufälligerweise an die Fensterscheiben, auf denen man sodann lesen kann, was ein warmer Finger daran geschrieben hat. Es traten nach dem unwillkürlichen Hauche lauter französische, mit dem Fingernagel skizzierte Anfang-S heraus. »S!« – dacht' er – »das ist sonderbar: ich fange mich selber so an.«

Seine Vermutungen brach die mit einem seligentwölkten Angesicht wiederkommende Klotilde ab, die dem denkenden Medikus einen großen Brief von Emanuel reichte. Nach dieser zweiten Freude folgte statt der dritten eine Neuigkeit; sie eröffnete ihm jetzt, »daß endlich Emanuel sie instand gesetzt, eine gehorsame, wenn auch nicht gläubige Patientin zu sein«. Sie hatte nämlich bisher den Vorsatz ihres Gehorsams und ihrer Frühlingkur so lange verschwiegen, bis ihr Freund in Maienthal ihr ein Krankenzimmer – gerade Giulias ihres – bei der Äbtissin auf einige Lenzmonate ausgewirket hatte, damit da das Wehen des Frühlings ihre gesunknen Schwingen hebe, der Blumenduft das zerspaltne Herz ausheile, und der große Freund die große Freundin aufrichte.

Viktor entwich eilend, nicht allein aus Hunger und Durst nach dem Inhalte seiner Hand, sondern weil eine neue Gedankenflut durch seine alten Gedankenreihen brach. – »Bastian!« (sagte Bastian unterweges zu sich) »ich hielt dich oft für dumm, aber für so dumm nicht – Nein, es ist sündlich, wenn ein Mann, ein Hof-Medikus, ein Denker, monatelang darüber spintisieret, oft halbe Abende, und doch die Sache nicht eher herausbringt, als wenn er sie hört, jetzt erst – Wahrlich sogar das Fenster-S passet an!« – Ich und der Leser wollen ihm das aus den Händen nehmen, womit er sich hier vor uns steinigt; denn er wirft nach uns beiden ebensogut, weil wir ebensogut nichts erraten haben wie er. Kurz, der versteckte Glückliche, der die schöne Klotilde zur Unglücklichen macht, und für den sie ihre stumme scheue Seele ausseufzet, und der für ihre meisten Reize gar keine Augen hat, ist der blinde – Julius in Maienthal. Daher will sie hin.


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