Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

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Vierter und letzter Pfingsttag
(36. Hundposttag)

Hyazinthe – die Stimme vom Vater Emanuels – Brief vom Engel – Flöte auf dem Grab – zweite Nachtigall – Abschied – Geistererscheinung

Eben ist der Anhang zum vierten Freudentage eingelaufen. – Ich komme nach dem Seufzer, womit man gewöhnlich am Tage nach den Festtagen sagt, daß man sie begrabe, wieder vor das blühende Bette meines Freundes und öffne den grünenden Vorhang; gegen neun Uhr erst zog ihn eine nah an seinen Händen schlagende Grasmücke mühsam aus einem tiefen Traummeer. Aber die Schattenfiguren, die der Hohlspiegel des Traums in der Luft aufgerichtet hatte, waren alle vergessen; nur die Tränen, die sie ihm ausgepresset, standen noch in seinen Augen, und er entsann sich nicht mehr, warum er sie vergossen hatte. Es war heute Quatember, der wie andere Wetter- und Mondveränderungen unser Traum-Echo lauter und vielsilbiger macht. – In einer sonderbaren Erweichung schlug er die Augen auf vor der weißen Dämmerung des Apfelblüten-Überhangs, vor dem Wirrwarr des grünen Gespinstes – seine Hand jagte die Grasmücke durch das Gebüsch – es war schwül um diesen Schatten, die Baumgipfel waren stumm und alle Blumen gerade – Bienen bogen sich von Sandkörnchen herab in die Quellen um ihn und schlurften Wasser – von den Weiden tropften weiße Flocken, und alle Riechfläschchen der Blüten und die Rauchgefäße der Blumen übergossen seine Schlafstätte mit einem süßen schwülen Dunst...

Er führt seine rechte Hand ans nasse Auge und erblickt darin mit Erstaunen eine weiße Hyazinthe, die ihm jemand heute mußte hineingelegt haben... Er verfiel auf Klotilde; und sie wars auch gewesen. Vor einer halben Stunde trat sie an dieses Blumen-Bette – ließ sogleich das Gesträuch leise wieder zusammenschlagen – zog es aber doch wieder auseinander, weil sie die Tränen des vergessenen Traums über das Angesicht des glühenden Schläfers rinnen sah – ihre ganze Seele wurde nun ein weicher segnender Blick der Liebe, und sie konnte sich nicht enthalten, das Denkmal ihres Morgenbesuchs, die Blume, in die Hand zu legen – und eilte dann leise in ihr Zimmer zurück.

Er trat eilig in den leuchtenden Tag, um die Geberin einzuholen, deren Morgengabe er leider aus Besorgnis der Zerstörung so wenig wie sie ans Herz anpressen durfte. O wie tat es ihm wehe, als er im Freien vor dem herrnhutischen Gottesacker der heimgegangnen Himmelnacht, vor dem ruhenden Garten, stand und als er auf die kahlen ausgemähten eingetretenen Tanztennen und auf die verstummte Nachtigallenstaude blickte und auf die Berge, woran die Kinder weideten, vom gestrigen Schmucke entkleidet! Da erschien der vergessene Traum wieder und sagte: weine noch einmal, denn das Rosenfest deines Lebens beschließet sich heute, und der letzte von den vier Flüssen des Paradieses trocknet in wenig Stunden gänzlich aus! –»O ihr schönen Tage,« sagte Viktor, »ihr verdient es, daß ich euch verlasse mit einer Erweichung ohne Maß und mit Tränen ohne Zahl!« – Er floh aus dem zu harten Taglicht in die Zelle aus Flor, damit sie den hellen Vorgrund des Tages zu einem dämmernden Hintergrund ummalte, mit dem gestrigen Mondschein überdeckt; und unter diesem Leichenschleier der erblichenen Nacht setzte er sich vor, dem verarmenden Herzen heute seine letzte Freude ganz im Übermaß zu gönnen, nämlich sein Sehnen. Er trat aus dem Flor, aber der nächtliche Mondschein wich nicht von der Flur; er schaute auf in den blauen Himmel, der uns mit einer langen Flamme betastet, aber die verhüllten Sterne der Winternacht schickten herausquellende kleine Strahlen an die verdunkelte Seele; er sagte sich zwar: »Der Eisberg, auf dem bisher meine Vernunft halbe Bergpredigten abgelegt, ist unter der Freudenglut zu einem Maulwurfhügel eingelaufen«, aber er setzte hinzu: »Heute frag' ich nach nichts.«

Er kam zu Emanuel mit nassen Augen. Dieser sagte ihm, daß sich das erste Glied der gestrigen Blumenkette, nämlich der Brite mit seinen Leuten, schon in der Nacht abgelöset habe. Aber je länger er Emanuel ansah und an morgen dachte – denn morgen lehnt auch er vor tags die Gartentüre dieses Paradieses leise hinter sich zu, und heute nachmittags nimmt er von der Äbtissin und abends von der Geliebten Abschied, um diese nicht im Ablesen der bekannten Engels-Epistel zu hemmen –, desto drückender waren seine Augen gespannt, und er ging lieber mit einem sich selber vollblutenden Herzen hinaus ins Freie und führte den Blinden mit, der nichts erriet, nichts erblickte und vor dem man ohnehin wie vor einem Kinde gern sein Innerstes entkleidete.

Aber diesesmal war Julius in derselben Erweichung, weil er den ganzen Morgen den Engel in seiner dämmernden Seele spielen und fliegen sehen. Die Sehnsucht nach dem Engel brütete sein ruhendes Herz zum Pochen an, und er sagte mit einem ungewöhnlichen Schmerz: »Wenn ich nur sehen könnte, nur etwas, nur meinen Vater oder dich!« Die überstäubten Erinnerungen an seine Kindheit wurden aufgeschüttelt; und aus dieser in Wolken stehenden Zeit trat besonders ein Tag heraus vor ihn, morgenhell, blau und voll Gesang, und trug drei Gestalten auf seinem Nebelboden, Julius' eigne und die der zwei Kinder, von denen er sich vor ihrer Einschiffung nach Deutschland geschieden hatte – es entflossen ihm Tropfen, ohne daß er es merkte, da er gerade diesem Viktor, der das Folgende getan hatte, das Küssen und Umhängen und Nachrufen des einen Kindes malte, das ihn am meisten liebte und immer trug. »Und ich denke,« fuhr er fort, »jeder, den ich gern höre, habe das Gesicht dieses guten Kindes und auch du. Oft wenn ich einsam diese Gestalt in meinem Dunkeln anschaue und warme Tropfen auf den Lippen spüre und in eine schmachtende schlummernde Wonne falle: mein' ich, es quelle Blut aus meinen Lippen, und mein Herz siedet – aber mein Vater sagt, wenn dann meine Augen plötzlich aufgetan würden und ich sähe meinen Engel an oder das gute Kind oder einen schönen Menschen, dann würde ich sterben müssen vor Liebe.« – – »O Julius, Julius,« (rief sein Viktor) »wie edel ist dein Herz! Das gute Kind, das du so liebst, wird bald mein Vater an dich legen, es wird dich so küssen, so lieben, so drücken wie ich jetzt.« –

Er führte ihn zum Essen zurück; er selber aber blieb bis nachmittags unter dem Himmel, und sein Herz legte stille Trauer an unter Bäumen voll Bienen, neben Gesträuchen voll ätzenden Vögeln, auf allen bisherigen Spaziergängen und Sonnenwegen dieses sterbenden Festes – und es standen alle Kinderstunden aus dem Winterschlafe des Gedächtnisses auf und berührten sein Herz, aber es zerfloß. – O wenn uns weit entlegne Minuten mit ihrem Glockenspiel antönen, so fallen große Tropfen aus der weichen Seele, wie das nähere Herüberklingen ferner Glocken Regen bedeutet. Ich verdenke dir nichts, Viktor – du bist doch nur weich, aber nicht weichlich – so gut dir dein Biograph deine Erweichung nachzuschreiben und dein Leser sie nachzufühlen vermag, ohne die festen Muskeln des Herzens abzuspannen, ebensogut vermagst du es auch, und nur ein Mann, der bittere Tränen erpressen kann, wird süße verhöhnen und keine selber vergießen.

Endlich ging Viktor zur letzten Freude, in den Garten des Endes, um mit sanften Tränen in der Abtei von allen Freundinnen abzuscheiden. Ein sonderbarer Vorfall verschob es ein wenig: denn indem er von Emanuel wegging, stieß ihm Julius auf, der aus dem Garten kam und ihm sagte: »wenn er zu Emanuel wolle, er sei im Garten.« – Sie erhoben einen freundschaftlichen Streit, weil jeder ihn gerade jetzo gesprochen haben wollte. Viktor ging mit ihm zu Emanuel zurück, und hier erzählte Julius seinem Lehrer jedes Wort des vorgeblichen Gartengesprächs mit ihm: »z. B. über Viktor, über Klotilde, über seinen heutigen Abschied, über die bisherigen frohen Tage.«

Während der Erzählung wurde Emanuels Angesicht glänzend, als wenn Mondschimmer davon niederflösse – und anstatt dem geliebten Kinde die Unmöglichkeit seiner Erscheinung im Garten vorzustellen, räumte er ihm die Erscheinung ein und sagte entzückt: »Ich werde sterben! – Es war mein abgeschiedener Vater – seine Stimme klingt wie meine – er verhieß mir in seinem Sterben, aus der zweiten Welt in diese zu kommen, eh' ich von hinnen ginge. – Ach ihr Geliebten drüben über den Gräbern, ihr denkt also noch an mich – o! du guter Vater, dringe jetzt mit deinem tödlichen Glanze vor mich heran und löse mich an deinem Munde auf!« –

Er wurde noch mehr darin befestigt, weil Julius dazu erzählte, die Gestalt habe sich von ihm den Brief des Engels reichen lassen, ihn aber nach einem kleinen Lispeln wieder zurückgegeben. Das Siegel war unbeschädigt. Emanuels freudiger Enthusiasmus über diese Telegraphen des Todes setzte unzufriedene Schlüsse aus seiner bisherigen Gesundheit voraus. Viktor lehnte sich nie gegen die erhabnen Irrtümer seines Lehrers auf; so stellte er z. B. niemals die Gründe, die er hatte und die ich im nächsten Schalttage anzeigen will, dem unschuldigen Wahn entgegen: »aus dem Traume und aus der Unabhängigkeit des Ich vom Körper könne man auf die künftige nach dem Tode schließen – im Traume stäube sich der innere Demant ab und sauge Licht aus einer schönern Sonne ein.« – Viktor erschrak darüber, aber aus andern Gründen: Julius nahm beide an den Ort der Unterredung mit, der in der verfinsterten Allee neben der Blütenhöhle war. Niemand war da, nichts erschien, Blätter lispelten, aber keine Geister, es war der Ort der Seligkeit, aber der irdischen. –

Viktor ging in den andern, in die Abtei. Klotilde war nicht droben, sondern im verschlungnen Labyrinth des Parks, wahrscheinlich um dem Inhaber vom Engels-Briefe, Julius, die Gelegenheit des Vorlesens zu erleichtern. Er nahm, als die Sonne gerade den Fensterscheiben gegenüber brannte, von der guten Äbtissin mit jener feinen gerührten Höflichkeit Abschied, auf die sich in ihrem Stande der höchste Enthusiasmus einschränkt. Die feine Äbtissin sagte ihm: »der Besuch sei so kurz, daß er unverzeihlich wäre, wenn nicht Viktor es dadurch gutmachte, daß er ihren zweiten Frühling-Gast (Klotilden) überredete, den ihrigen zu verlängern; denn auch diese verlasse sie bald.« – Er schied mit einer gerührten Achtung von ihr: denn sein weiches Herz wußte ebensogut hinter der Spitzenmaske der Feinheit und Welt als hinter der Leder-Kruste der Roheit das fremde weiche auszufühlen.

Als er freilich in den Garten eilte: stiegen die Tränen seines Herzens höher und wärmer – und ihm war, als müßte er den im Angesichte der Sonne aufgehenden Mond umschließen, da er dachte: »Ach wenn deine bleiche Flocke heute lichter droben hängt, wenn du allein niederschauest, bin ich geschieden von meiner Schäferwelt oder scheide noch.« – Und unten ruhte neben der Nachtigallenhecke sein Julius, der helle Tränenströme vergoß – denn dieser ganze Abend wimmelt von immer größern Meerwundern des Zufalls – er eilt zu ihm herab, der Brief des sogenannten Engels ist geöffnet in seiner Hand, Viktor sagt leise: »Julius, warum weinest du so?« – »O Gott,« sagte dieser gebrochen, »führe mich unter eine Laube!« – Er leitete ihn zur überflorten. Julius sagte darin: »Recht, hier brennt die Sonne nicht!« und schlug den rechten Arm um Viktor und gab ihm den Brief und legte den Arm herum bis an sein Herz und sagte: »Du guter Mensch! sage mir, wenn die Sonne nieder ist, und lies mir noch einmal den Brief des Engels vor!«

Viktor fing an: »Klotilde!« – »An wen ist er?« sagt' er. – »An mich!« (sagte Julius) »und Klotilde hat mir ihn schon vorgelesen; aber ich konnte sie wegen ihrem Weinen nicht verstehen, und ich war auch zu betrübt. – Ich werde vor Kummer sterben, du gute Giulia, warum hast du mir es nicht vor deinem Tode gesagt? – Die Tote hat ihn geschrieben, lies nur!« – Er las:


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