Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

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Da ein Weib uns mit nichts die ganze selige Vergangenheit rührender aufdeckt, als wenn sie ihr Augenlid aufhebt und uns ihr schimmerndes Auge zeigt: so mußte er ja wohl wenigstens unter dem Tanze in ein Auge blicken, das ihm lauter Himmel zeichnete, die versunken waren – und heute sollte ihm alles versinken, das Auge sogar. Und da Klotilde durch das Tanzen gewöhnlich erblaßte: so zog er durch ihre Augen in ihr Inneres und zählte darin an der stillen Seele die Tränentropfen, die unerschüttert an ihr hingen – die vielen Impf-Einschnitte des Schicksals für neue Tugenden – die beschnittenen Wurzeln, die das Schicksal an dieser Blume, wie wir an niedern Gewächsen, vor der Verpflanzung in eine andre Erde verkürzt – und die tausend Honiggefäße schöner Gedanken. Und da er an alle ihre bedeckten Tugenden auf einmal dachte, an die Herrschaft ihrer weiblichen Vernunft über ihre Empfindsamkeit, an ihr leichtes Einwilligen in den Ball, den ihr jetzo der Fürst, so wie das in die Schminke, die ihr sonst die Fürstin aufgedrungen, und an ihre Gefälligkeit, sobald sie nichts aufzuopfern brauchte wie sich; und da er sich vorhielt, daß sie, nicht ähnlich den Hof- und Stadtweibern, die wie Gewächse sich ans Fenster des Gewächshauses nach dem Lichte ausspreizen, sondern ähnlich den Frühlingblumen gern im Schatten blühe, und doch die Liebe zum Landleben so wenig wie ihre Bescheidenheit zur Schau auslege: so mußt' er das Auge abwenden von der zarten aufgerichteten Blume, auf die der Tod den Leichenstein niederwarf, von der schönsten Seele, die ihren Wert noch nicht im Spiegel einer gleichen sah, vom sterbenden Herzen, das doch nicht glücklich war.

Alsdann stieg freilich der Gedanke, vor dem er zusammenfuhr, wie ein Sturm empor: »Ich will ihrs heute sagen, wie gut sie ist – o ich seh' sie doch nicht wieder, und sie stirbt sonst von sich ungekannt! – Ich will ihr zu Füßen sinken und meine unaussprechliche Liebe bekennen. – Sie kann nicht zürnen; ich begehre ja nicht ihr heiliges Herz, das keiner verdient, ich will ja nur sagen: meines vergisset dich nie, aber es verlanget deines nicht, es will nur sanfter brechen, wenn es vor dir gezittert und geblutet und geweinet und gesprochen hat«...

Nahe hinter diesem Gedanken kam Klotilde selber zu ihm an der Hand ihrer Stiefmutter, und das von der Wärme wie Rosen von der Sonne entfärbte Angesicht, die kränkern müden Züge taten die stille Bitte, in die frische Luft und nach Haus zu kommen.

Sie fuhr; die Stiefmutter entfernt hinter ihr. – Welcher Tausch der Bühnen! – Unter dem Morgentor des Himmels stand der Mond, der den Leichenschleier aus Gewölk abgehoben hatte von der Milchstraße und von dem ganzen blauen Abgrund. Er trug allmählich einen Grund von Silber auf und zeichnete mit Schatten und Blitzen ein rückendes Nachtstück hinein. Sein Licht schien der Frost in Körper zu verdichten, in weiße Auen, in taumelnde Ströme, in schwebende Flocken, es hing blitzend als weißes Blütenlaub an den Gebüschen, es glimmte die östlichen Berge hinauf, die die Sonne in Eisspiegel gegossen hatte. – Und alles über dem Menschen und um den Menschen war erhaben-still – der Schlaf spielte mit dem Tod – jedes Herz ruhte in seiner eignen Nacht. –

Und hier bei diesem Eintritt gleichsam aus dem Getümmel der Erde in die stille überdämmerte Unterwelt flossen kalte Schauer und nach ihnen glühende Schauer über Viktors Nerven. – Dies geschieht, wenn die Seele des Menschen zu voll ist und zu sehr erschüttert wird, und alle Fäden ihres zitternden Körpergewebes schwanken dann mit ihr. – Sein Schlitten wurde jetzt eine fliegende Gondel. Die entgegenschlagende Nachtluft wehte alle seine Flammen an. O! der Strom voll Eisspitzen, wenn er über ihn gezogen, die kühle Decke von Schnee, wenn sie auf ihm gelegen wäre! – Immerfort rief es in ihm: »Du fährst die Stille, die Geduldige mit ihrem schwarzen Schleier dem Tode zu – es ist ihr Leichenwagen – die edle Perlenfischerin hat dem Himmel ihr Zeichen gegeben, daß sie hier unten Schmerzen und Tugenden genug gesammelt habe, damit er sie wieder hinaufziehe zu sich.« – Die vorüberrückenden Berge, die vorbeistürzenden Bäume, die wegrinnenden Felder, diese Flucht der Natur schien in einen großen Wasserfall zusammenzufließen, der alles mittrieb und den Menschen zuerst, und nichts stehen ließ als die Zeit. – Und als er in das Tal, wo die Stadt verschwindet, wie vor einem Jahre seine begleitenden Freundinnen, hinunterrollte und als der Mond scheinbar hinter den Bäumen durch den Himmel zu fliegen anfing: so richtete er seine Augen gegen die Sterne auf und redete zurückgebogen, hinaufstarrend, zertrümmert den Himmel laut an: »Tiefes blaues Grab über den Menschen, du versteckst deine weiten Nächte hinter zusammengerückten Sonnen! Du ziehest uns und unsre Tränen hinauf wie Dünste. – Ach wirf nicht die armen, sich so kurz sehenden Menschen so weit auseinander, nicht so unendlich weit! – Und warum kann der Mensch nicht hinaufblicken zu dir, ohne zu denken: wer weiß, welches geliebte Herz ich droben nach einem Jahre suchen muß!« –

Seine verdunkelten Augen fielen schmerzhaft vom Himmel herab – auf Klotildens ihre, die aufgehoben seinen gegenüberstanden. Sie konnte die Träne, die vom Auge erst bis zur Wange gefallen war, weder durch den Schleier entziehen, noch für eine auf dem Angesicht zergangene Schneeflocke ausgeben, da der Schleier die Flocken abstieß; aber eine solche Träne hatte keinen Schleier nötig. Klotilde hatte gedacht, er meine bloß Emanuel, und darum wurde sie weich.... Wie zwei scheidende Engel schauten beide sich mit weinenden Augen an. Aber Klotilde zog die ihrigen ab, und ihr Haupt bückte erliegend sich vorwärts. Gleichwohl wandte sie sich wieder um und tat mit dem Himmels-Angesicht und mit der Himmels-Stimme die schöne Bitte an ihn: »Würdigen Sie dieser warmen Freundschaft auch meinen Bruder; und vergeben Sie der Schwester heute diese Bitte, da ich sie vielleicht lange nicht erneuern kann.« – Er bückte sich tief und konnte nicht antworten. –

Aber da ihr Wohnort ihnen jetzt entgegenschimmerte und ihr Schloß, von dem der Silberregen des Mondes niederrann – da die Minute immer größer und dunkler herankam, worin ihm der Abschied (vielleicht die Maske des Todes) diesen stillen Engel von der Seite nahm – da ihm jede gleichgültige Abschiedformel, die er sich aussinnen wollte, sein krankes Herz zerschnitt – da er sah, wie sie ihr Haupt auf die Hand und auf den Schleier lehnte, um unbemerkt die ersten Zeichen ihres Abschiedes wegzunehmen oder aufzuhalten: so stürzte die ganze Wolke, die so lange einzelne Tropfen in seine Augen fallen lassen, zerrissen auf ihn nieder und überflutete sein Herz..... Er hielt plötzlich still... Er sah mit unversiegenden Augen gegen St. Lüne..... Klotilde kehrte sich um und erblickte ein entfärbtes Angesicht, eine Stirn voll Schmerzen und einen zitternden Mund und sagte blöde: »Ihre Seele ist zu gut und zu weich.« – Ja, dann brach sein überfülltes Herz entzwei. – Dann quollen alle mit alten Tränen vollgegossenen Tiefen seiner Seele auf und hoben aus den Wurzeln sein schwimmendes Herz, und er sank vor Klotilden nieder, glänzend in himmlischer Liebe und rinnendem Schmerz – von der Tugend überflammt – vom Mondenlicht verklärt – mit der treuen erliegenden Brust, mit den überhüllten Augen, und die zerrinnende Stimme konnte nur die Worte sagen: »Engel des Himmels! endlich bricht vor dir das Herz, das dich unaussprechlich liebt – o ich habe ja lange geschwiegen. – Nein, du edle Gestalt weichest nie aus meiner Seele. – O Seele vom Himmel, warum haben deine Leiden und deine Güte und alles, was du bist, mir eine ewige Liebe gegeben, und keine Hoffnung und einen ewigen Schmerz?« – Von ihm weggebogen lag ihr erschrocknes Angesicht in ihrer rechten Hand, und die linke deckte nur die Augen, aber nicht die Tränen zu. Ein sterbender Laut flehete ihn an, aufzustehen. Man hörte den zweiten Schlitten von ferne. – »Unvergeßliche! ich martere Sie, aber ich bleibe, bis Sie mir ein Zeichen der Vergebung geben.« – Sie reichte ihm die linke Hand hinaus, und ein heiliges Angesicht voll Rührung wurde aufgedeckt. Er preßte die warme Hand an sein flammendes Angesicht, in seine heißen Tränengüsse. Er fragte zitternd wieder: »O mein Fehler wird immer größer, werden Sie ihn denn ganz verzeihen?«...

Da verhüllte sie das errötende Angesicht in den verdoppelten Schleier und stammelte abgewandt: »Ach dann muß ich ihn teilen, edler Freund meines Lehrers.« – –

Seliger, seliger Mensch! nach diesem Wort bietet dir das ganze Erdenleben keinen größern Himmel an! Ruhe nun in stillem Entzücken mit dem überwältigten Angesicht auf der Engelhand, in die das edelste Herz das für die Tugend wallende Blut ausgießet! Weine alle deine Freudentränen auf die gute Hand, die dir sie gegeben hat! Und dann: wenn du es vermagst vor Entzücken oder vor Ehrfurcht, denn hebe dein reines glänzendes Auge auf und zeig ihr darin den Blick der erhabnen Liebe, den Blick der ewigen Liebe und der stummen und der seligen und der unaussprechlichen! –

Ach der, den einmal eine Klotilde geliebt hätte, der könnte jetzo vor Entzücken nicht weiterlesen – nicht weiterschreiben..... oder auch vor Schmerz! –

Jetzt legte er den schönern Weg schweigend und geheiligt zurück – der Mond hing wie ein betauter, mit weißen Blüten überlegter Morgen vom Himmel herab – der Frühling bewegte seine Auen und seine Blumen unter dem Schleier von Schnee – das Entzücken schlug in Viktors Herzen, schwoll in seiner Brust, glänzt' in seinem Auge – aber die Sprachlosigkeit der Ehrfurcht herrschte über das Entzücken.... Sie kamen an. Und als beide im Zimmer der Harmonika, wo er abends vor Schmerzen ihre Hand ergriffen hatte, einander einsam gegenüberstanden, so verändert, so selig zum ersten Male, zwei solche Herzen, sie wie ein Engel, der vom Himmel niedersank, er wie ein Seliger, der aus der Erde auferstand, um dem blöden Engel an das Herz zu fallen und mit ihm sprachlos in den Himmel zurückzugehen... welche Stunde! – O nur für euch, ihr schönen Seelen, die ihr solche Stunde nie erlebt und doch verdient, mal' ich diese fort!.... Wie zwei Selige vor Gott schauen sie einander in die Augen und in die Seelen – wie ein Zephyr, den zwei schwankende Rosen fortsetzen, wehet zwischen den zitternden Lippen der sprachlose Wonneseufzer, von der Brust in schnellen Zügen eingetrunken und freudig schauernd in langen ausgezittert – sie schweigen, um sich anzublicken, sie heben die Augen auf, um durch den Freudentropfen durchzusehen, und senken sie nieder, um ihn mit dem Augenlide abzutrocknen.... Nein, es ist genug – o es ist eine andre Träne, die jetzo drückend in dem schönen Herzen liegt, das schweigt und sagen will: ich war niemals glücklich, und ich werd' es auch nie!

Viktor hatte ihr so viel zu sagen und hatte so wenige Minuten mehr dazu: gleichwohl machte ihn nicht sowohl die Freude als die Ehrfurcht stumm – denn heilig ist dem liebenden Herzen die Gestalt, die zu ihm gesagt: ich bin dein. – Denket aber nicht, er wollte etwan die rohe Bitte tun, seinetwegen dazubleiben; nur die Frage, ob er sie in Maienthal besuchen dürfe, nur die Bitte, daß sie für ihr Genesen sorge, kann er wagen. Klotilde hatte nur eine an ihn zu tun, die sie nicht genug überhüllen konnte; die nämlich, ihres eifersüchtigen Bruders wegen sie nicht in Maienthal zu sehen.

Unter dem Zögern der Entzückung schellet der zweite Schlitten. Die Eile nötigte sie zum Mut – – Viktor verwandelte die Bitte in den Wunsch, daß der Frühling die Absicht ihrer Reise (die Genesung) begünstigen möge, und die Frage in die Freude, wie glücklich sie in Maienthal neben Dahore sein werde, wie selig er sonst dort gewesen und wie wenig er sonst geglaubt, daß man es da noch mehr werden könne. Klotilde antwortete (wahrscheinlich auf seinen Wunsch nachzureisen): »Ich hinterlasse Ihnen ebensoviel, meinen Bruder und Ihren Freund; vergessen Sie meine vorige Bitte nicht!«

Erst da die annähernden Eltern Klotilden erinnerten, den Schleier zurückzuschlagen, und ihren Geliebten anmahnten, den ersten Abschied von dem errungenen Herzen zu nehmen: da blickten beide weit in das große Eden hinein, das sich um ihr Leben aufgetan – und die helle Minute, die jetzt im Strom der Zeit vorüberfloß, spiegelte in die Ewigkeit zwei himmlische Gestalten hinauf, eine entschleierte, blaßrote, von Tränen verklärte, und eine von Liebe verherrlichte, von Hoffnung widerscheinende – und nun lasset nicht länger die Hand Seelen zeichnen, die nicht einmal das glänzende große Auge der Liebe abmalet...

Als die Eltern kamen: fühlt' er alle mögliche Kontraste, aber er vergab alle mögliche. Er nahm bald Abschied, um zu Hause in der Stille der Nacht den ersten betenden Blick über seinen künftigen Lebensstrom zu werfen, der sich jetzt zum Grab hinzog in Schönheitlinien, und in welchem bunte Minuten spielten wie Goldfische.

In der Nachtstille, nicht weit von seiner Wachsmumie, wollte der Glückliche niederfallen vor dem unendlichen Genius und ihm mit neuen Tränen danken für diese Nacht, für diese Freundin, deren erste Liebe er ist. Aber der Gedanke, es zu tun, ist die Tat, und o wie könnte unser gerührtes Herz, das schon vor Menschen verstummt, noch andere Worte vor dem Unendlichen finden als Tränen und Gedanken? –

– Und in dieser ergebnen Stimmung voll tiefer Ruhe, worin ich die Feder weglege, mögest du, lieber Leser, dieses Buch weglegen und auch sagen wie ich: es werden sich wohl mehr trübe Tage so beschließen wie der achtundzwanzigste Hundposttag.

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