Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

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Zweites Heftlein

16. Hundposttag

Kartoffeln-Formschneider – Hemmketten in St. Lüne – Wachs-Bossierungen – Schach nach der regula falsi – die Distel der Hoffnung – Begleitung nach Flachsenfingen

Man sollte wie der alte Fritz gern in Kleidern schlafen, sobald man weiß, daß man, wie zuweilen Viktor und ich, im Hemde von den Vampyren der mitternächtlichen Melancholie umzingelt und angefallen wird; sie bleiben aus, wenn man sitzt und alles anhat; besonders erhalten uns Stiefel und Hut das Gefühl des Tages am meisten. –

Eine warme Hand hob Viktors betautes Haupt vom Schlaftisch auf und richtete es der ganzen daherschlagenden Flut des Morgens entgegen. Seine Augen gingen (wie allemal) unbeschreiblich mild und ohne Nachtwolken vor Agathen auf und überstrahlten sie. Aber sie führte ihn mit seinen Strahlen eilig aus der belaubten Schlafkammer hinweg: denn er sollte sich einen Frisierkamm und einen Morgensegen suchen, und zweitens sollte das Tischbett zu einem Teebrett für Klotilden werden, die die warmen Getränke gern an kalten Orten nahm.

– Und so steht er draußen zwischen Pfarrhaus und Schloß mitten im Morgen – alles schien ihm erst während seiner Reise gemauert und angestrichen zu sein – denn alles, was darin wohnte, schien sich verändert zu haben und machte ihn wehmütig. »Die Eltern drinnen« (sagt' er zu sich) »haben keinen Sohn – mein Freund hat keine Geliebte, und ich... kein ruhiges Herz.« Da er nun endlich in die Wohnung trat und wieder ein heller Ehrenbogen des liebenden Familienzirkels wurde; da er mit teilnehmenden und doch belehrten Augen die zärtlichen Täuschungen der Eltern, die grundlosen Hoffnungen seines Freundes und das Aufsteigen der gewitterhaften Tage anschauen mußte: so stand sein Auge in einer unverrückten Träne über die Zukunft, und sie wurde nicht kleiner, da seine Adoptiv-Mutter sie durch weiches Anblicken rechtfertigen wollte. – – Zum Teil aber wehete auch dieser Flor über seine Seele bloß aus der vorigen Nacht herüber, deren dämmernde Szenen nur durch einen kleinen Zwischenraum aus Schlaf von ihm geschieden waren: denn eine in Empfindungen verwachte Nacht endigt sich allezeit mit einem schwermütigen Vormittag.

Der Kaplan machte gerade Butter-Vignetten; ich meine, er sägte mit keiner andern Ätzwiege als mit einem Federmesser und in keine andre Kupferplatten als in Kartoffeln Buchdruckerstöcke und Schließquadrätchen ein, die auf die Juliusbutter des Schmuckes wegen zu drucken waren. Man hätte denken sollen, Viktor hätte sich dadurch viel geholfen, daß er Witz hatte und anmerkte, die alten Drucke wären zwar langer Bücher darüber und langer allgemeiner deutschen literarischen Rezensionen der Bücher ganz würdig, aber keines menschlichen Gedankens, und wären zehnmal ungenießbarer als diese neuesten Butter-Inkunabeln; denn wenn es etwas Elenderes geben könnte als die Weltgeschichte (d. h. die Regentengeschichte), deren Inhalt aus Kriegen, wie das Theaterjournal anderer Marionetten aus Prügeleien, bestände, so wär's bloß die Gelehrten- und BuchdruckerhistorieEr ist zwar nur gegen die typographische Geschichte gelehrter Werke aufgebracht und verachtet nur das ängstliche Forschen nach den Geburttagen etc. verstorbener und dummer Bücher mitten in einer Welt voll Wunder; aber auch hier muß er bedenken, daß Köpfe, die über nichts als das Drucken selber drucken lassen können, doch besser dieses kleine Etwas tun, das den Besseren am meisten wuchert und erspart, als gar nichts, oder etwas über ihre Kraft.. Auch das hätt' ihm zustatten kommen sollen, daß er hinterdrein philosophisch war und verlangte, man sollte den Menschen weder ein lachendes noch vernünftiges Tier nennen, sondern ein putzendes; zu welcher Anmerkung die Kaplänin nichts setzte als die Anwendung davon auf ihre Töchter.

Aber in Menschen seiner Art haben Kummer, Satire und Philosophie nebeneinander Platz. Er erzählte dem Kartoffeln-Medailleur und der Kaplänin, die alle Weiber auf der Erde zu ihren Töchtern zählte und gegen sie ähnliche Strafpredigten hielt, seine Reise mit so vielen Satiren und Rasuren, als für beide Parteien nötig waren; aber als er die Wünsche der Familie hörte, daß der Lord glücklich mit dem geliebten Fürstenkinde zurückkommen möge, und die Nachricht, daß der Regierrat schon alles eingepackt habe, um mit seinem Freunde jede Stunde, die er wolle, in die Stadt zu ziehen: so hatte Viktor nichts zu tun als – die absondernden Tränenwege in seinen Augenhöhlen hinauszutragen....

– Aber in den Garten! – Das war unüberlegt. Flamin ging nach, und sie langten miteinander im Laub-Klosett vor den Teetrinkerinnen an. Niemals verschatteten die Zweige desselben ein verlegneres Gesicht, weichere Augen, vollere Blicke und lebhaftere oder schönere Träume, als Viktor darunter mitbrachte. Er dachte sich jetzo Klotilde als ein ganz neues Wesen und dachte also – da er nicht wußte, ob sie ihn liebe – recht dumm; der Mensch achtet allezeit, wenn er den Berg überstiegen hat, den kommenden Hügel für nichts; Flamin war sein Berg gewesen, und Klotilde sein Hügel. – In allen Gespräch-Untiefen, wo man schon halb im Sitzen oder Sinken ist, gibts keine herrlichere Schiffpumpe als eine Historie, die man zu erzählen hat. Man gebe mir Verlegenheit und den größten Zirkel und nur ein Unglück, nämlich die Anekdote davon, die noch keiner weiß als ich, so will ich mich schon retten. Viktor brachte also seinen Schwimmgürtel heraus, nämlich sein Schifftagebuch, aus dem er für die Laube einen pragmatischen Auszug machte – ich gesteh' es, ein Zeitungschreiber hätte mehr verfälschen, aber schwerlich mehr weglassen können.

Er tat sich, glaub' ich, wieder Vorschub bei der Kaplänin, und noch mehr Schaden bei Klotilden – so sehr er auch nur aus Wohlwollen für die Zuhörer und aus zu starkem Haß des Hofes gegen Klotildens Satiren-Verbot in ihrem Briefe verstieß – dadurch unbezweifelt, daß er – da überhaupt die Mädchen nur den Spott, nicht die Spötter lieben – die Benefizkomödie der Prinzessin nicht von der erhabenen Seite darstellte, wie ich, sondern von der lustigen: Klotilde lächelte, und Agathe lachte.

Da aber der Name Emanuel von ihm genannt wurde und sein Haus und sein Berg: so breitete die Freundschaft und die Vergangenheit auf dem schönsten Auge, worüber noch ein Augenbraunenbogen, aus einer Schönheitlinie gezogen, floß, einen sanften Schimmer aus, der jeden Augenblick zur Freudeträne werden wollte. Doch mußte er zu einer andern werden, als Viktor der Frage um seine Gesundheit, welche Klotilde hoffend an ihn als Kunstverständigen tat, die Antwort der leis' umschriebenen Geschichte seines nächtlichen Blutens geben mußte. Er konnte den Schmerz des Mitleidens nicht verhehlen, und Klotilde konnt' ihn nicht bezwingen. O ihr zwei guten Seelen! welche Quetschwunden wird euer Herz noch von eurem großen Freund empfangen!

Wohin anders konnte sie jetzt ihr liebendes und trauerndes Auge als gegen ihren guten Bruder Flamin hinkehren, gegen den ihr Betragen durch den doppelten Zwang, den ihr ihre Verschwiegenheit und seine Auslegungen anlegten, bisher so unbeschreiblich mild geworden war? – Da nun Viktor das alles mit so ganz andern Augen sah; da er seinem armen Freund, der mit seinem gegenwärtigen Glück vielleicht die giftige Nahrung seiner künftigen Eifersucht vergrößerte, offen und heftend in das feste Angesicht schauete, das einst schwere Tage zerreißen konnten; da ihn überhaupt künftige oder vergangne Leiden des andern mehr angriffen als gegenwärtige, weil ihn die Phantasie mehr in der Gewalt hatte als die Sinne: so konnt' er einen Augenblick die Herrschaft über seine Augen nicht behaupten, sondern sie legten ihren Blick, von mitleidigen Tränen umgeben, zärtlich auf seinen Freund. Klotilde wurde über den Ruheplatz seines Blickes verlegen – er auch, weil der Mensch sich der heftigsten Zeichen des Hasses weniger schämt als der kleinsten der Liebe – Klotilde verstand die kokette Doppelkunst nicht, in Verlegenheit zu setzen oder daraus zu ziehen – und die gute Agathe verwechselte das letzte immer mit dem ersten... »Frag ihn, was ihm fehlt, Bruder!« sagte Agathe zu Flamin...

Dieser lenkte ihn mit ähnlichem Gutmeinen hinter die nächsten Stachelbeerstauden hinaus und fragte ihn nach seiner festen Art, die immer Behauptung für Frage hielt: »Dir ist was passiert!« – »Komm nur!« sagte Viktor und zerrte ihn hinter höhere spanische Wände aus Laub.

»Nichts ist mir« – hob er endlich mit gefüllten Augenhöhlen und lächelnden Zügen an – »weiter passiert, als daß ich ein Narr geworden seit etwan 26 Jahren« – (so alt war er) – »Ich weiß, du bist leider ein Jurist und vielleicht ein schlechterer Okulist als ich selbst und hast wohl wenig in Herrn JaninEin bekannter guter Schriftsteller über die Augen. gelesen: nicht?«

Nicht bloß vom Nein wurde Flamins Kopf geschüttelt.

»Ganz natürlich; aber sonst könntest du es aus ihm selber oder aus der Übersetzung von Selle recht schön haben, daß nicht bloß die Tränendrüse unsre Tropfen absondere, sondern auch der gläserne Körper, die Meibomischen Drüsen, die Tränenkarunkel und – unser gequältes Herz, setz' ich dazu. – Gleichwohl müssen von diesen Wasserkügelchen, die für die Schmerzen der armen, armen Menschen gemacht sind, sich in 24 Stunden nicht mehr als (wenns recht zugeht) 4 Unzen abseihen. – – Aber, du Lieber, es geht eben nicht recht zu, besonders bei mir, und es ärgert mich heute, nicht daß du in den Herrn Janin nicht geguckt, sondern daß du meine fatale, verdammte, dumme Weise nicht merkst...« – »Welche denn?« – »Jawohl, welche; aber die heutige mein' ich, daß mir die Augen überlaufen – du darfst es kühn bloß einem zu matten Tränenheber beimessen, worunter Petit alle einsaugende Tränenwege befaßt –, wenn mir z. B. einer unrecht tut, oder wenn ich nur etwas stark begehre, oder mir eine nahe Freude oder nur überhaupt eine starke Empfindung oder das menschliche Leben denke oder das bloße Weinen selber.« – –

Sein gutes Auge stand voll Wasser, da ers sagte, und rechtfertigte alles.

»Lieber Flamin, ich wollte, ich wäre eine Dame geworden oder ein Herrnhuter oder ein Komödiant – wahrlich, wenn ich den Zuschauern weismachen wollte, ich wäre darüber (nämlich über dem Weinen), so wär' es noch dazu auf der Stelle wahr.« –

Und hier legt' er sich sanft und froh mit Tränen, die entschuldigt flossen, um die geliebte Brust.... Aber zur Vipern- und Eisenkur seiner Männlichkeit hatt' er nichts als ein »Hm!« und einen Zuck des ganzen Körpers vonnöten: darauf kehrten die Jünglinge als Männer in die Laube zurück.

Es war nichts mehr darin; die Mädchen waren in die Wiesen geschlichen, wo nichts zu meiden war als hohes Gras und betauter Schatten. Die leere Laube war der beste einsaugende Tränenheber seiner Augen; ja ich schließe aus Berichten des Korrespondenz-Spitzes, daß es ihn verdroß. Da die Schwester spät allein wiederkam: so verdroß es den andern auch. Überhaupt, sollte sich etwa der Held – welches für mich und ihn ein Unglück wäre – mit der Zeit gar in Klotilden verlieben: so wird uns beiden – ihm im Agieren, mir im Kopieren – die Heldin warm genug machen, eben weil sie selber nicht warm sein will; weil sie weder überflüssige Wärme, noch überflüssige Kälte, sondern allezeit die wechselnde Temperatur hat, die sich mit dem Gespräch-Stoff, aber nicht mit dem Redner ändert; weil sie einem zärtlichen Nebenmenschen alle Lust nimmt, sie zu loben, da sie keinen Sackzehent davon entrichtet, oder sie wenigstens zu beleidigen, da sie keine Ablaßbriefe austeilt, und weil man wirklich in der Angst zuletzt annimmt, man könne keine andern Sünden gegen sie begehen als solche gegen den heiligen Geist. Jean Paul, der in solchen Lagen war und oft jahrelang auf einem Platz vor solchen Bergfestungen mit seinen Sturmleitern und Labarums und Trompetern stand und statt der Besatzung selber ehrenvoll abzog, dieser Paul, sag' ich, kann sich eine Vorstellung machen, was hier in Sachen Sebastians contra Klotilden für Aktenpapier, Zeit und Druckschwärze (von ihm und mir) vertan werden kann, bis wirs nur zur Kriegsbefestigung treiben. Es wird einem Mann überhaupt bei einer ganz vernünftigen Frau nie recht wohl, sondern bei einer bloß feinen, phantasierenden, heißen, launenhaften ist er erst zu Hause. Durch so eine wie Klotilde kann der beste Mensch vor bloßer Angst und Achtung frostig, dumm und entzückt werden; und meistens schlägt obendrein noch das Unglück dazu, daß der arme matte Schäker, von dem sich ein solcher irdischer Engel, wie der apokalyptische vom Jünger Johannes, durchaus nicht will anbeten lassen, selten noch die Kräfte auftreibt, um zum Engel zu sagen – wie etwan zu einem entgegengesetzten Engel mit Weltreichen, der das Anbeten haben will –: »Hebe dich weg von mir!« Paul hebt sich allemal selber weg. – –


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