Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Reformation des Kaisers Siegmund

»Bei solchen seltsamen, wundersamen Ereignissen kam mir der Gedanke, der mir die Welt verleidete, daß ich nie eine niedrige Handlung hörte oder sah, bei der nicht die großen Häupter der Christenheit im Unrecht gewesen wären, und zwar die geistlichen mehr als die weltlichen.« So sagt Eberhard Windecke, der Sekretär König Siegmunds, der das Leben seines Herrn mit bewegter Anteilnahme geschildert hat. Wie vielen Menschen mag vor ihm und nach ihm diese Erfahrung das Gemüt erschüttert haben, daß die Hochstehenden, die die Geschicke der Völker leiten, nicht zugleich die Einsichtigen, noch weniger die Guten, sondern oft die Eigennützigsten und Unbedenklichsten sind. Eine Erfahrung, die einem Menschen den Frieden rauben und seinen Geist zerstören kann. Sicherlich bezog Windecke sie nicht auf den König, sondern vor allen Dingen auf die Geistlichen. »Alle Feindseligkeit und Bosheit kommen von den geistlichen Einkünften her«, sagt er, »die so reich und mächtig geworden waren – alle Ränke, Künste und schlimme Behendigkeit lernt man von den Pfaffen. Und alles, was ich diese tun und treiben sah, das drehte sich um Geld; Geld mußte sein, mochte es mit Recht oder Unrecht zugehen.« Und als er von einem Streit der Bischöfe mit den Städten erzählt: »Wo man Böses hörte, wo Krieg war und man fragte, wer tat das? So hörte man: der Bischof, der Dompropst, der herrliche Dechant, der Geistliche. Es wäre kein Wunder, wenn die Hussiten und Ketzer noch mächtiger geworden wären, denn solchen Frevels war zuviel auf Erden.« Zieht man auch in Betracht, daß Eberhard Windecke ein Bürger der Stadt Mainz war, die in beständigem Unfrieden mit ihrem Bischof lebte und deshalb geistlichen Fürsten von vornherein nicht gewogen war, so lauten doch die Äußerungen von allen Seiten zu übereinstimmend, als daß man ihn parteiischer Übertreibung zeihen könnte! Das Mißverhältnis zwischen den verkündeten Idealen des Christentums und dem Leben und Treiben der Kirche und der weltlichen Stände, die sich zur Lehre der Kirche bekannten, war ein öffentliches Ärgernis geworden. »Daher möchte ich«, sagt Windecke, »den Hussiten recht geben in dem Punkte, daß sie meinten, man solle den Geistlichen nichts geben, wohl aber das nehmen, was sie hätten, und sie als Pfaffen erhalten, dann könnte man Frieden erlangen.«

Die Überhäufung der Kirche mit weltlichen Gütern, die anfangs aus warmen menschlichen Antrieben hervorgegangen war und edlen Zwecken diente, die Verschmelzung kirchlicher Würden mit weltlichen Rechten und Pflichten, die anfangs der Erhaltung der Reichseinheit zugute gekommen war, hatte zu einer Entstellung der Kirche und zu einer Entweihung und Verwirrung aller religiösen und sittlichen Begriffe geführt, die das Volksgewissen schließlich nicht mehr ertragen konnte. Die Gebildeten, Denkenden, Redlichen erkannten die Schäden und Gefahren und drangen auf Besserung, unter den Herrschenden und Mächtigen gaben einige Wohlmeinende dem allgemeinen Drange nach, während diejenigen, die von der Reform betroffen worden wären, sich mehr oder weniger offen sträubten und die Reform entweder in eine ihnen unschädliche Bahn abzulenken suchten oder sie geradezu bekämpften. Heimlich, in abseitigen, winkligen Bürgerhäusern der großen und kleinen Städte trafen sich die Armen, die Machtlosen, auf denen die monströs ausgeartete Verfassung hauptsächlich lastete. Ihre Führer waren nachdenkliche oder schwärmerische Menschen, die sich von Gott berufen glaubten, an der Neuordnung der zerrütteten Welt mitzuarbeiten. Einer von diesen war Konrad Reiser, wahrscheinlich aus Ulm stammend. Nicht Not führte ihn zu den Ketzern, er war ein Kaufmann, der sich Vermögen erworben hatte und unabhängig war. Auch war er keiner von denen, die innere Unrast und Ehrsucht auf Neuerungen begierig machen, sondern er war ein ruhiger, rechtlicher Mann, der viel gereist war, die Welt und das Leben kannte und deshalb allgemeines Ansehen genoß. Da die Kirche seine religiösen Bedürfnisse nicht befriedigte, war er Mitglied einer Straßburger Sekte geworden, kannte die Heilige Schrift und hatte sich eine Überzeugung gebildet. Konrad Reiser hatte einen Sohn, den er dazu bestimmte, seine Gedanken zu verbreiten; an seinem 17. Geburtstage weihte er Friedrich in die Lehre seiner Sekte und seine Bestimmung ein. Bei einem Freunde des Vaters in Nürnberg, einem wohlhabenden Kaufmann namens Hans von Plauen, lernte Friedrich einen einflußreichen Mann, den sogenannten Meister Peter von England, kennen, Peter Payne. Peter Payne war Magister in Oxford gewesen, hatte wegen seiner Vorliebe für Wiclif England verlassen müssen und war nach Böhmen geflüchtet; er lehrte im Jahre 1417 an der Universität Prag und unterstützte dort die Wirksamkeit der Taboriten. Payne hielt sich verborgen in Deutschland auf, um die dortigen ketzerischen Gemeinden mit den Hussiten zusammenzufassen, was indessen nicht gelang. Durch ihn lernte wohl der junge Reiser die Lehren von Wiclif und Huß kennen. Mit einem alten Freunde seines Vaters, Marmeth aus Freiburg im Uechtland, begab sich Friedrich in die Schweiz und machte in Basel die Bekanntschaft vertriebener Waldenser. Da geschah es, daß Hans von Plauen, der sich, um den Ketzerrichtern zu entgehen, in ein Dorf in der Nähe von Nürnberg zurückgezogen hatte, in böhmische Gefangenschaft geriet; Friedrich machte sich auf, ihn zu suchen, ging zuerst nach Wien und wurde, als die Hussiten in Österreich und Ungarn einfielen, gleichfalls von ihnen gefangen und nach Tabor gebracht. Seine dortigen Schicksale sind im einzelnen nicht bekannt; gewiß ist, daß er durch Vermittlung Paynes zum Priester geweiht wurde und daß er 1433 mit der Deputation der Hussiten nach Basel ging. Reiser wanderte nun wieder lehrend und predigend durch Süddeutschland, gewann Anhänger und gründete Gemeinden, immer in Verbindung mit den Taboriten. Von der römischen Kirche hatte er sich völlig abgewendet, er nannte sie irdisch im Gegensatz zu einer heiligen, einer unsichtbaren Kirche, der die Gläubigen, die guten Willens sind, angehören. Das Fegefeuer war ihm, daß Menschen auf Erden leiden, Reue im Herzen war der beste Ablaß, reiner als das Zölibat war eine gute Ehe. Als der Bischof von Würzburg ihm nachzuspüren begann, ließ sich Friedrich Reiser im Jahre 1457 in Straßburg nieder; er war 55 Jahre alt und dachte nach soviel bestandenen Gefahren und erlittenen Drangsalen ein friedliches Alter zu erleben. Seine Anhänger jedoch ließen ihm keine Ruhe und bewirkten, daß er wieder Predigten und Andachten hielt. Bald darauf wurde er verhaftet und vor ein Ketzergericht gestellt. Unter der Folter gestand seine treueste Schülerin, Anna Weil, alles, was man verlangte, ein anderer Anhänger gestand schon beim Anblick der Folterwerkzeuge. Der bischöfliche Vikar und eigentliche Ketzermeister hatte Lust, den Prozeß durch Erpressung von Namen anderer Schüler weiter auszudehnen, aber der Vertreter der Stadt, Hans Drachenfels, gab dazu nicht die Erlaubnis. Auf dem Kornmarkt fand die feierlich-umständliche Urteilsverkündung statt; dann wurden Friedrich Reiser und seine treue Freundin Anna Weil in das Bruch geführt und an einem Pfeiler zusammen verbrannt; ihre Asche wurde in den Rhein gestreut. Es war ein Frühlingstag, der 6. März 1458.

Friedrich Reiser war nur einer unter vielen, die in diesem Jahrzehnt verbrannt wurden; aber sein Gedächtnis ist mehr als das der andern erhalten durch eine ihm zugeschriebene merkwürdige Schrift, die unter dem Titel Reformation des Kaisers Siegmund im Jahre 1476 zum erstenmal gedruckt und wahrscheinlich im Jahre 1437 verfaßt wurde. Die Reformation war das allgemeine Verlangen der Zeit. Die Reformschrift Reisers gibt wieder, was nicht nur unter den eigentlichen Ketzern, sondern was von den Gebildeten über die Schäden der Zeit und ihre Heilung gedacht wurde. Wie Eberhard Windecke sagt auch Friedrich Reiser: »Es setzt sich niemand wider göttliche Ordnung denn die Gelehrten, Weisen und Gewaltigen. Aber die Kleinen rufen und schreien Gott an um Hilfe und um eine gute Ordnung.« Als den gesündesten Teil des Reiches betrachtet er die Reichsstädte: »Und wenn man es recht ansieht, so kommt es nur auf die Reichsstädte an; wenn die schliefen und nicht wachten, so wäre die Christenheit Gott und allen seinen Gnaden entfremdet – darum niemand zu ermahnen ist denn allein die Reichsstädte.«

Selbst aus bürgerlich-reichsstädtischen Kreisen hervorgegangen, schätzte er die Tugenden dieser Gemeinwesen, die mit Erwerbssinn und eigennützigem Bedürfnis nach Ordnung und Ruhe, Tapferkeit und Freiheitsliebe, aber auch religiöse und sittliche Gesinnung verbanden und bereit waren, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, Opfer für das Reich zu bringen.

Als die Grundlage der Reform betrachtete er die Beschränkung der Geistlichen auf das geistliche Gebiet. »Es sol sich lauter in alweg scheiden das geistlich und das weltlich.« Die Bischöfe und Äbte sollen keine Städte, Schlösser und Festen haben, sie sollen dem römischen König zugesprochen werden, der sie Herren, Rittern, Knechten und Reichsstädten zu Lehen gibt, damit sie dem Reich dienen. Übrigens sollen Papst, Priester und Mönche nicht angetastet, nur die Zahl der Klöster soll verringert und das klösterliche Leben verbessert werden. Reisers herzliche Beziehungen zu Frauen werden die Ursache gewesen sein, daß er die Frauen hoch einschätzte. Er wünschte, daß die Nonnen in den Klöstern die Grammatik und die Heilige Schrift kennenlernten; denn sie könnten besser studieren als die Männer.

In wirtschaftlicher Hinsicht wendete er sich gegen die vielen Zölle, das große Übel, dem auch die durchgreifendsten Kaiser nicht hatten wehren können. In jeder Stadt, klagte er, sei ein Zoll; Zölle sollten aber nur dort, und zwar von Reichs wegen, erhoben werden, wo es zur Erhaltung von Wegen und Brücken notwendig wäre. Wer Zoll erhöbe, wo keiner hingehöre, dem solle es als Wucher angerechnet werden. Streng solle vorgegangen werden gegen die Verteuerung des Bodens wie gegen die Verteuerung der Waren durch die Kaufleute. Ebensowenig sollten die »Alfanzereien« der Kaufleute geduldet werden, daß sie nämlich nach Gutdünken die Preise festsetzten: Wenn sie zusammenkommen in Venedig oder anderswo, so setzen sie die Preise fest für Tücher, Gewürz, Pfeffer, Zimmet, und was es auch ist. Um das zu verhindern, sollen an allen Meerhäfen Vertreter des Reiches sein, die das Kaufmannsgut beschauen und mit dem Siegel von Kaiser und Reich versehen. »Item es sind große gesellschaften ufgestanden die zusamen spannent und treiben groß kaufmannsschatz, es geh ihn wol oder übel, sy schybent es ye denach, das sy nit verlieren!«

Reiser war ein Gegner der Zünfte, deren immer mehr erstarrende Ausschließlichkeit auf den Nichtzünftigen zu lasten begann; andererseits wollte er die Trennung der einzelnen Handwerke, daß niemand den andern in sein Bereich pfusche, gewahrt wissen. Die Bauern vergaß er nicht, die Hörigkeit sollte durchaus aufhören. »Es ist eine ungehörte sach, das einer so gehertzt ist vor got, das er gedar sprechen zu einem: du bist mein eigen.« Klöster, die Leibeigene hielten, sollten nicht gelitten werden; er sah es für schändlich an, daß Klöster, wenn der leibeigene Mann starb, den Witwen und Waisen das Erbe nahm, das ihnen zufiel. Des edlen Mannes Klage erhebt sich zu prophetischem Zorn, wenn er daran denkt, wie frevelhaft man die Bauern beraubt, von deren Arbeit alle leben: Wasser, Wald und Weide, die jedem frei sein sollten, hat man gebannt. Aber auch hier ist er einsichtig und maßvoll, den Hochwald nimmt er aus, weil Herren und Städte darin das Geleit haben, der Sicherheit wegen.

Es sind fast durchweg gute praktische Vorschläge, die Reiser macht, und man erstaunt über die schwärmerischen Vorstellungen und den Klang revolutionärer Leidenschaft, der zuweilen seine verständige Sprache durchbricht. Aus der Anhänglichkeit an die großen Hohenstaufen, Friedrich I. und Friedrich II., die letzten Inhaber der Machtfülle des Reiches, erklärt sich der Zauber, der für das hoffende Volk an dem Namen Friedrich haften blieb. Zugleich war es der Friedensklang, der dem von Fehden zerrissenen Deutschland den Namen teuer machte. Eine wunderbare Fabel ging um, der Papst habe, als er König Siegmund zum Kaiser krönte, ihn Friedrich genannt. Ein anderer Chronist erzählte von einem mächtigen Kaiser, der kommen und Frieden im Reich machen, auch den heiligen Gral gewinnen werde; der werde, wenn er auch nicht so getauft sei, Friedrich genannt werden um des Friedens willen, den er schaffe. Für Friedrich Reiser war dieser Name offenbar zu einem Symbol geworden, der ihn in dem Glauben an seine Bestimmung, die Erneuerung des Reiches herbeizuführen, bestärkte. Er anerkannte die Bestrebungen Siegmunds, durch ein Konzil der Verwirrung zu steuern, aber vielleicht sei es gut, daß das Konzil ihm widerstrebt habe, so daß er nichts habe erreichen können, weil man nun um so eher zu einer guten Ordnung kommen werde; denn dazu sei ein anderer berufen als Kaiser Siegmund, nur einem Priester habe Gott die Kraft dazu gegeben. Siegmund sei auf einem Tage zu Preßburg durch eine Stimme vom Himmel beauftragt worden, der göttlichen Ordnung den Weg zu bereiten, vollenden werde sie ein anderer, dem Herren und Städte gehorsam sein würden.

Den Namen Reformation des Kaisers Siegmund hat die Kampfschrift offenbar erst später erhalten, denn die Rolle des Reformators ist ihm darin nur bedingt zugesprochen, und nicht unbillig ist es, daß des großherzigen und phantasievollen Kaisers Namen mit dem des kühnen Volksmannes verbunden wurde, dessen Asche der Rhein verschlang.

Ob wirklich Friedrich Reiser die merkwürdige Schrift verfaßt hat, ist ungewiß: manches spricht dafür, einiges dagegen. Eine unmittelbare Wirkung hat sie nicht ausgeübt. Von Feuer verzehrt, im Wasser ertränkt, so verwehten die Elemente den Schrei des Volkes aus tiefster Not, den die Schrift in die furchtbare Anklage faßte: »Es ist alles Unrecht und nichts gut, was jetzt in der Welt ist.« Weder Reichsstädte noch Reichsritter vernahmen ihn, oder sie erwiderten ihn doch nicht.


 << zurück weiter >>