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Geistiges Leben

Im Zeitalter Barbarossas entfaltete sich der ritterliche Stand zur Blüte. Es entstand eine weltliche Baukunst, das Kunstgewerbe verfertigte schöne Gegenstände zum Schmuck von Burgen und Schlössern und Personen, eine weltliche Literatur entstand, die das Leben des Ritters und seine Ziele, Kriegszüge, Eroberungen, Herrendienst und Frauenliebe widerspiegelte. Die Wissenschaft war immer noch im Besitz der Geistlichkeit und hatte theologischen Charakter; aber dem Anspruch gemäß, daß Italien das Sacerdotium, Deutschland das Imperium, Frankreich das Studium zukomme, stand Deutschland in der Wissenschaft hinter den romanischen Nachbarländern zurück. In Italien hatte weltliche Wissenschaft nie ganz aufgehört, im zwölften Jahrhundert wurden die Universitäten Bologna und Padova als Rechtsschulen berühmt. Älter und berühmter war die Universität von Paris, eine Hochburg der orthodoxen Theologie. Daneben regte sich in Paris zuerst ein von der Dogmatik unabhängiges Denken über die Voraussetzungen des Christentums, der auf den freien menschlichen Verstand gestützte Zweifel. Ein Geistlicher war es, Abälard, der es wagte, das erhabene Gebäude der katholischen Lehre auf seine Haltbarkeit zu untersuchen. Nicht wie ein ungläubiger Heide rannte er dagegen an, sondern als ein Kundiger, ein Eingeweihter, beleuchtete er es mit dem Licht des theologisch geschulten Verstandes, ließ seinen Widerspruch in alle Ritzen schlüpfen und kam zu dem Schluß, daß die über dem Fundament der göttlichen Offenbarung in Jahrhunderten ausgebaute Lehre ersetzt werden könne aus der Vernunft und dem Gewissen der Menschen. Lehrte Christus irgend etwas, was nicht die Weisen und Guten unter den Heiden auch gelehrt hatten? fragte er. Lehrte er etwas, was unserer Vernunft widerspricht? Könnte selbst Gott etwas tun oder verkünden, was nicht in Einklang mit der menschlichen Vernunft wäre? Und wenn etwas gelehrt würde, was der Vernunft widerspräche, könnte und dürfte das geglaubt werden? Wozu also, wenn die Religion als natürliche Kraft in der menschlichen Vernunft liegt, bedurfte es dann der Offenbarung? Abälard kam zu dem Schlusse, daß die durch das Erscheinen Christi geoffenbarte Religion den Zweck erfüllt habe, die Unvernünftigen und Ungebildeten zu belehren, die bereits erkannte Wahrheit über die ganze Erde zu verbreiten. Das Aufwerfen solcher Probleme in einer Zeit, wo alle gewöhnt waren, sich der Autorität zu unterwerfen, wirkte berauschend. Der dem Menschen angeborene Trieb zu erkennen, sich selbst Wege des Erkennens zu bahnen, der durch die Kirche gebunden war, spannte die Flügel und spielte in den Lüften. Sogar der Papst und die Kardinäle fühlten sich durch Abälards neue Wissenschaft angezogen, der sich hütete, die geoffenbarte Religion anzutasten, außer daß er sie etwa für überflüssig erklärte, oder gar sich an der Kirche zu vergreifen. Sowohl die Klarheit des gallischen Geistes wie der Formalismus des römischen waren für die Wissenschaft Abälards empfänglich. Den Kampf gegen ihn unternahm Bernhard von Clairvaux, der wußte, daß Glauben nicht auf dem Denken, sondern auf dem Willen beruht, und der vielleicht fühlte, daß Abälard, indem er an dem historischen Christus vorüberging, das lebendige und lebenschaffende Element des Christentums ausschaltete. Die Gefahr, die es für die Kirche bedeutete, wenn dem menschlichen Verstande gestattet sein sollte, über religiöse Wahrheit zu entscheiden, wenn neben der Wahrheit des Christentums eine Wahrheit anerkannt werden sollte, die aus anderer Quelle stammte, war zu augenscheinlich, als daß nicht die Kirche diesem Lehrer hätte Schweigen gebieten sollen.

Es gab wohl auch deutsche Studierende, die in Paris von Abälards aufrührerischen Gedanken ergriffen wurden; aber im allgemeinen erregte seine Lehre in Deutschland nur Widerspruch, soweit sie überhaupt beachtet wurde. Die Gelehrten hielten sich an das Dogma, ohne sich dadurch vergewaltigt zu fühlen, oder sie bewegten sich, wie Rupert von Deutz, in Gedankengängen, die weder scholastisch noch dogmatisch tiefer in das Wesen des Menschen oder in das Leben einzudringen suchten. Gott war für diese Denker die selbstverständliche Voraussetzung, der Mensch ein Geschöpf Gottes, in dem sich Gott offenbart, die Schöpfung, in deren Mitte der Mensch steht, mühten sie sich als ein Ganzes, Sinnvolles zu begreifen. Gott zu erleben war ihnen wichtiger als über Gott und göttliche Dinge nachzudenken. Der Ausspruch des Rupert von Deutz, es sei für die menschliche Seele schwer, etwas nicht zu lieben, zeigt sein warmes Herz und seinen für alles offenen Geist, beleuchtet aber auch das Wesen des damaligen Deutschen, seine Gläubigkeit, seine Phantasie, seine Begabung für das Übersinnliche. Denn Liebe ist ja eine überirdische Begegnung, die Fähigkeit, etwas in seiner tiefsten Wurzel, in seiner ewigen Bedeutung zu erfassen. Mit der auf das Übersinnliche gerichteten Phantasie des Deutschen, mit seiner Sehnsucht auszudrücken, was Worte auszusprechen nicht imstande sind, hängt seine stärkste schöpferische Begabung, die für Musik, zusammen. Es läßt sich nicht genau verfolgen, welche Formen sich diese Begabung damals schuf; aber gewiß ist, daß sie den benachbarten Nationen auffiel. Bernhard von Clairvaux vermißte, als er Deutschland verließ, den Gesang seiner deutschen Begleiter, und der heilige Franziskus hatte Freude an den deutschen Brüdern, die singend durch Italien pilgerten. Die Deutschen sangen am Pfluge, sie sangen in der Kirche, sie sangen in der Schlacht. Als der Kaiser Lothar Apulien erobern wollte, zwang ihn der Herzog von Bayern, sein Schwiegersohn, den Plan aufzugeben dadurch, daß er im Heer eine bestimmte Weise anstimmen ließ, die das Zeichen zur Heimkehr bedeutete. Wenn diese Weise durch die Reihen des Heeres ging, wurde das Heimweh, das es immer erfüllte, so übermächtig, daß es unmöglich war, es zurückzuhalten. Dem Tagewerk wie dem Tod gab die Musik den Glanz; sie war das Licht des grauen Landes. Durch die größten Dichtungen des Mittelalters, sowohl durch das Nibelungenlied wie das Gudrunlied, wildheidnische Balladen, perlt Musik als der gewaltigste Zauber: Volker singt mit seiner Geige die todgeweihten Burgunder in Schlummer, und Horand berückt mit seinen Liedern die Herzen, daß sie sich wehrlos in seine Hand geben.

Dichtung und Musik gehörten zur Bildung, besonders zum Schmuck der Höfe. Herzog Leopold V. von Österreich und Landgraf Hermann von Thüringen waren unter den Fürsten die bekanntesten Freunde der Dichter. Aus der Mitte des 13. Jahrhunderts stammt das seltsame Gedicht vom Sängerkrieg auf der Wartburg. Es erzählt von sechs Sängern, die am Hof des Landgrafen Hermann zusammenkamen, Heinrich dem tugendhaften Schreiber, Reimar von Zweter, Wolfram von Eschenbach, Biterolf, Walther von der Vogelweide und Heinrich von Ofterdingen. Während fünf den Landgrafen von Thüringen rühmen, verkündet Heinrich von Ofterdingen das Lob Leopolds von Österreich. Sie kommen überein, einen Wettstreit zu veranstalten, bei dem jeder den von ihm bevorzugten Fürsten rühmen soll; der verlierende soll sterben. In diesem schauerlichen Wettgesange mit dem lauernden Henker im Hintergrunde unterliegt Heinrich von Ofterdingen; aber durch Vermittlung der Landgräfin Sophie wird ihm erlaubt, bei dem berühmten Meister Klingsor aus Ungarland Berufung einzulegen. Er reitet zuerst nach Wien an den Hof des Herzog Leopold, wo er mit großen Ehren empfangen wird, und dann zu Meister Klingsor, einem Mann von Adel, der in den weltlichen Künsten, aber auch in der schwarzen Kunst bewandert ist. Durch schwarze Kunst führt er Heinrich von Ofterdingen in einer Nacht aus Ungarn nach Eisenach, wo sie im Haus eines Bürgers absteigen. Dort beobachtet Klingsor die Sterne und liest in ihnen, daß in dieser Nacht dem König von Ungarn eine Tochter geboren wird, die künftige Frau des Sohnes des Landgrafen. Nun beginnt ein Wettstreit zwischen Klingsor und Wolfram von Eschenbach. Da Klingsor erkennt, daß Wolfram ihn zu überwinden vermöge, beschwört er den Teufel, der in menschlicher Gestalt auf die Wartburg kommt und vom Landgrafen die Erlaubnis erhält, sich in den Streit einzumischen. Er erzählt wunderbar alle Geschichten, die sich von Anfang der Welt an zugetragen haben; Wolfram aber spricht von der Süßigkeit des göttlichen Wortes, das Fleisch ward, und endet mit den Worten, die der Erlöser sprach, als er das heilige Abendmahl einsetzte. Bei diesen furchtbar heiligen Worten fliehen beide, der Teufel und Klingsor. Klingsor empfindet jedoch die Niederlage als unleidlich und bittet den Teufel, die schwache Seite von Wolframs Gelehrsamkeit auszukundschaften. Noch einmal sucht der Teufel Wolfram in Eisenach auf und legt ihm Fragen nach der Natur der himmlischen Sphären, nach Sternen und Planeten auf, die Wolfram nicht beachtet. Der Teufel lacht und ruft aus: »Er ist ein Laie, er ist ein Laie!« und schreibt diese Worte an die Wand des Gemachs.

Der Sängerkrieg hat in Wirklichkeit nicht stattgefunden und hätte sich jedenfalls nicht auf der Wartburg abgespielt, die damals als Festung diente, während der Landgraf in einem steinernen Hause in Eisenach Hof hielt; aber Hermann war in der Tat ein Freund der Dichtkunst und der Sänger. An seinem Hofe fand Wolfram von Eschenbach Zuflucht und schrieb dort einige Bücher des Parzival; dem Heinrich von Veldecke, der sich unter Hermanns Schutze in Eisenach aufhielt, wurde bei Gelegenheit einer Hochzeit sein Epos Eneit gestohlen, das er als Handschrift mitgebracht hatte. Nach neun Jahren konnte der Landgraf sie ihm zurückstellen. Während des Kampfes zwischen den Welfen und Staufen, der im Anfang des 13. Jahrhunderts heftiger als je entbrannte, wechselte Hermann, während sein Vater und Großvater, mit Barbarossa verwandt, diesem treu angehangen hatten, je nach augenblicklichem Vorteil zwischen den Parteien und schädigte dadurch seinen Ruf. Da er sich außerdem die Mönche von Reinhartsbrunn, einer Gründung der landgräflichen Familie und ihre Gruft, zu Feinden gemacht hatte, haben sie ihn der Nachwelt als einen frevelhaften Mann geschildert; es scheint, daß die Ausgelassenheit an seinem Hofe die Grenzen der üblichen, recht freien Sitte überschritt. Während seiner letzten Lebenszeit soll er in Wahnsinn verfallen sein. Es wird erzählt, daß einem Priester, der für den Verstorbenen betete, ein Heiliger erschienen sei und ihm geraten habe, das Beten für den zu unterlassen, der schon ein Jahr vor seinem Tode tot gewesen sei; denn seinen Körper habe anstatt der Seele ein böser Geist belebt. Hermanns Sohn, Ludwig der Heilige, so erzählt die Sage weiter, wünschte das Schicksal seines Vaters im Jenseits zu erfahren und bewog einen Schüler, der in der schwarzen Kunst erfahren war, den Toten zu beschwören. Der Landgraf kam zu Roß; als er seinen Mantel auseinanderschlug, wurde die Glut sichtbar, in der sein Leib brannte. Als Beweis seiner Gegenwart zeichnete er den Fuß des Schülers mit einem Funken aus dem höllischen Feuer.

Man glaubt in diesen dunklen Geschichten von fernher den dämonischen Umriß Fausts heranschweben zu sehen. Der Gegensatz, der das deutsche Gemüt bewegte, war nicht der zwischen Denken und Glauben, sondern der zwischen Weltlust und Seligkeit in Gott. Zur Weltlust gehört auch das Wissen und die Kunst, soweit sie nicht Gott geweiht und Gott untergeordnet sind; aber das Wissen ist nicht gegen den Glauben gerichtet. Heinrich von Ofterdingen und Klingsor leben ebenso inmitten der christlichen Weltanschauung wie Wolfram von Eschenbach oder Walther von der Vogelweide. Ein unheimliches Licht aus der Hölle huscht um Klingsor, weil er Zauberei treibt, die Sünde der Sünden, weil er an die Wurzeln der göttlichen Kraft vordringen will, die Gott sich selbst vorbehalten hat, weil er die Quellen aufreißen will, die Gott zum Heil für den Menschen versiegelt hat. Der Drang, die Schranken zu durchbrechen, die nach der Anschauung der Gläubigen dem menschlichen Geiste gesetzt sind, macht ihn gefährlich, aber doch auch anziehend und herrlich. Wenn Wolframs Reinheit siegt, so werden seine Gegner nicht unbedingt verworfen. Heißt es doch sogar im Sängerkrieg, daß Heinrich von Ofterdingen mit Hilfe falschen Würfelspiels überwunden sei, und die weltliche Wissenschaft und schwarze Kunst, in der Klingsor dem Wolfram überlegen ist, stellt sich, obwohl sie einer niederen Sphäre angehört, als hoch und begehrenswert dar. Die Gottesdiener wie die Zauberer umfaßt eine gemeinsame Sphäre von Gläubigkeit, in der der Teufel zugelassen ist. Einem dunklen Schatten gleich, der eisig in die lichte Natur Gottes fällt, gleitet der Böse, zugleich ein Gott und ein Nichts, vorüber; zerstören kann er sie nicht. Bemächtigt sich der Zweifel wirklich des deutschen Geistes, so wird er zur Verzweiflung und von dort aus überwunden.

Die lyrischen und epischen Dichtungen der Hohenstaufenzeit offenbaren ein kultiviertes Leben und eine erlesene, verfeinerte Kunst, doch nur wenige reichen aus der Zeit in die Ewigkeit, darunter einige Gedichte Walthers von der Vogelweide. Die meisten interessieren mehr als Dokumente einer großen Zeit, als daß sie unmittelbar als Poesie ergreifen. Unter die Sterne versetzt, allen Wandlungen des Geschmackes entrückt, sind die beiden großen Epen von den Nibelungen und von Gudrun, die mit keinem Namen eines Dichters verbunden sind. Sie gehören zu den Werken, an denen in Jahrhunderten ein ganzes Volk geschaffen hat. Während die meisten Dichtungen der mittelalterlichen Blütezeit den Charakter und die Anschauungsweise von Rittern oder Geistlichen widerspiegeln, also eines Standes, wittert im Nibelungen- und im Gudrunliede die brausende Natur. Kriemhild, Gudrun, Siegfried, Hagen sind keine Ritter und keine Christen, Dämonen sind es, die mit tödlichen Leidenschaften ein grandioses Spiel treiben, das den Betrachter zugleich mit Grauen und mit Entzücken erfüllt wie eine Feuersbrunst oder ein Orkan. Zügen begegnen wir hier, wie sie nur das Schicksal oder die der Wirklichkeit verschwisterte Sage entwerfen kann: wie wenn Kriemhild einzig ihren Bruder Giselher mit einem Kusse begrüßt, und Hagen, das Ende ahnend, den Helm fester bindet, oder wenn Gudrun den unwillkommenen Freiern als Gruß entbieten läßt: wollt ihr unseren Wein nicht trinken, soll euch Blut eingeschenkt werden. Mit den höfischen Menschen der Dichtung haben diese Gestalten keine Verwandtschaft, wohl aber mit der Wirklichkeit. Hier ist etwas eingefangen von dem eigentümlichen Heidenchristentum des Mittelalters. Wenn die streitenden Königinnen, als sie den Knoten der Tragödie schürzen, auf den Stufen des Wormser Domes stehen, wenn die Möwe, die, auf dem eisigen Meere schaukelnd, Gudrun Botschaft von ihren Angehörigen bringt, sich plötzlich als Engel Gottes anmeldet, so berührt das nicht seltsamer, als wenn Heinrich der Löwe, der mit eigener Hand den Feuerbrand in seine Burg wirft, eh er sie dem Kaiser überliefert, Reliquien aus dem Heiligen Lande heimträgt, oder als wenn Heinrich IV. und Friedrich II., die mit teuflischer Grausamkeit gegen ihre Feinde wüten, in salbungsvollen Glaubensbekenntnissen mit den Päpsten wetteifern. Das Fest der Elemente, das die meerhaft sich ausbreitenden Verse des Heldengesanges feiern, das Ungeheure, das aus längst verschütteter Urzeit hervorzusteigen schien, grenzte nah an die Wirklichkeit. Es war so gut Wirklichkeit wie die Flamme ewiger Anbetung am Altare, wie das dem am Kreuz verscheidenden Gott dargebrachte Opfer an Erdenglück und Erdenleben. Die Begegnung von Element und Wort ist es, die das Wunder zeugt.


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