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Das Konzil zu Konstanz

Je feiner und verwickelter ein Organismus ist, desto mehr ist er Schädigungen ausgesetzt, desto schwieriger ist seine Erhaltung. Die mittelalterliche Verfassung, wenn man von einer solchen überhaupt sprechen kann, mit der Menge ihrer einzelnen Glieder, der vielfachen Abstufung derselben, dem daraus sich ergebenden Reichtum an Beziehungen, denn sie bestand ja eigentlich aus persönlichen Beziehungen, mit der großen, durch Papst und Kaiser vertretenen Idee des Ganzen, dieser zugleich großartig einfache und labyrinthische Bau hatte wie kein anderer den Vorzug alles durchdringender Beseeltheit. Wie aber auch im Leben des einzelnen die Phantasie und Lust am Spiel allmählich vor nüchterner Berechnung des Erfolges und dem Zweckmäßigen zurücktreten muß, so gingen die meisten Länder zu Formen über, die rasches Handeln und gründliches Ausnützen aller Mittel ermöglichten. In Frankreich wurde nach und nach die Vielfalt des Individuellen von einem Mittelpunkte aufgesogen, in England bildete sich eine gegliederte Vertretung des einzelnen innerhalb der Zentralgewalt aus. In Deutschland erhielt sich die Idee des Römischen Reiches, und zwar so, daß die Zentralgewalt, die niemals unmittelbar und unbedingt herrschend gewesen war, nicht wie in den Nachbarländern stärker, sondern schwächer wurde. Wundervoll, als wäre es vernünftig abgewogen, war hier ein Miteinander und Gegeneinander von Kräften entstanden, die keinem ermöglichten, sich ein erdrückendes Übergewicht anzumaßen. Der Gegensatz von Kaiser und Papst, Kaiser und Fürsten, Fürsten und Rittern, Rittern und Städten, Städten und Fürsten hemmte den Machttrieb und ließ ihm doch so viel Spielraum, wie zur Entfaltung produktiven Lebens notwendig ist. Es bestand natürlich bei einem so vielverschlungenen, von entgegengesetzten Kräften durchströmten Gebilde die Gefahr, daß es auseinanderfalle, wenn die Vertretung des Ganzen im Verhältnis zu den Einzelgliedern zu schwach würde, und daß dann gegenüber der entarteten Freiheit die Gewalt einen falschen Reiz gewänne. Im vierzehnten Jahrhundert wurde diese Gefahr bemerkbar. Nicht nur schien der Kampf der Fürsten und Städte, des Adels und der Städte, der Fürsten untereinander das Reich sprengen zu wollen, es bildete sich das Territorialfürstentum, das die Idee des Beamten- und Polizeistaates einführte, und nicht nur von einem einzigen, sondern von mehreren Punkten aus den Reichtum der mittelalterlichen Staatsgestaltung unterdrückte. Sicherlich war das insofern ein Vorteil, als die Menge der Fürsten die Machtentfaltung jedes einzelnen beschränkte und als in dieser Menge doch die mittelalterliche Tendenz zur Vielgestaltigkeit siegte; aber sie trug dazu bei, das, was schöner Reichtum gewesen war, in ein Chaos aufzulösen. Durch keinen höheren Willen mehr geregelt, drohte die Herrlichkeit des Sternenhimmels in wirres Stückwerk auseinanderzufallen. Es wieder zur Ordnung zu erheben, wäre die Aufgabe des Kaisers gewesen, ihn traf der Vorwurf, wenn der Versuch dazu nicht unternommen wurde oder mißlang, und doch rief sein Eingreifen sofort Auflehnung und Mißtrauen auf allen Seiten hervor.

Nicht ohne wehmütige Betrachtungen kann man das Kinderbild Wenzels in Prag sehen, das morgenfrische Gesicht mit dem neugierig ins Leben schnuppernden Stumpfnäschen. Aus solch einer Knospe kann so viel Verwilderung, Unrat, Unglück erwachen! Es läßt sich denken, daß nicht Bösartiges, sondern etwas Kindliches, Unentwickeltes in seinem Charakter ihm zum Verhängnis wurde. Gegen die Kurfürstenaristokratie, die seines Vaters Grundgesetz als gleichberechtigte Regenten neben den Kaiser gestellt hatte, konnte er nicht aufkommen, sie kanzelten ihn ab und bevormundeten ihn wie einen Schüler, und er hatte wohl genug Selbstgefühl, um sich gegen ihre Überheblichkeit zu empören, aber nicht Überlegenheit genug, um sie abzuwehren. So blieb er denn in Böhmen als ein swyn in seinem Stalle, wie der deutsche Chronist sagte. Es scheint, daß sein Charakter sich mit den Jahren verschlechterte, daß er sich ungezügelten brutalen Aufwallungen überließ; seine Trunksucht wurde einer Vergiftung zugeschrieben, infolge derer er an dauerndem Durst gelitten habe. Die Sage hat sich überhaupt mit Wenzel viel beschäftigt; wie sie die verehrten Kaiser schmückte, so verunholdete sie den verachteten: sie läßt seine erste Frau durch seine Jagdhunde erwürgt werden, läßt ihn selbst Hand anlegen bei der Folterung seiner Feinde, läßt ihn die edelste Krone der Christenheit gegen ein Faß Bacharacher Wein verhandeln. Ausgehend von der Vorstellung des Hochgeborenen als des Schönen und Edlen erzählte man sich, daß der angebliche Königssohn ein untergeschobenes Kind und eigentlich der Sohn eines Schusters sei. War das auch nicht so, denkt man doch daran, wenn man mit Wenzel seinen Halbbruder Siegmund, den Sohn der Elisabeth von Pommern, vergleicht. Es erscheint wie ein Wunder, daß nach dem abseits schmollenden, halb tollen Wenzel, und nachdem auch das ehrliche Streben Ruprechts von der Pfalz vollständig gescheitert war, noch einmal ein Kaiser erschien, der seine Aufgabe im großen Sinne auffaßte und das edelste Zepter der Christenheit noch einmal wie einen Zauberstab gebrauchte. Hebt sich sein gekröntes Bild von der ungläubig gewordenen Zeit auch wunderlich grotesk ab, so überhaucht es der unheilbare Gegensatz zwischen seinen imperatorischen Ansprüchen und den in der Zeit liegenden Möglichkeiten sowie zwischen seinen Ansprüchen und der eigenen Persönlichkeit auch mit tragischem Schmelz. Schon äußerlich war Siegmund so, wie die Deutschen ihren Kaiser zu sehen liebten, blondhaarig, schön von Wuchs und schön von Angesicht, so schön, daß ihn Maler als Vorbild für einen der Heiligen Drei Könige wählten. Ein echter Vertreter des Römischen Reichs Deutscher Nation war er auch darin, daß sich das Blut verschiedener Rassen in ihm mischte, und daß er doch ganz Deutscher war, sich ganz als Deutscher fühlte. Die Heiterkeit seines schönen Gesichts war nicht nur die des Königs, der über seinem Volke wie die Sonne leuchtet, sondern auch die einer in ihrer Fülle glücklichen Natur. Er hat einmal gesagt, ein guter König müsse zugleich gefürchtet und geliebt werden. Vielleicht wurde er mehr geliebt als gefürchtet; aber er konnte auch hart, ja grausam nach den Gewohnheiten der Zeit strafen, wenn es ihm nötig schien, und die eigensüchtigen, widerspenstigen deutschen Fürsten würden sich sicher nicht aus bloßer Liebe gebeugt haben. Er wußte zu herrschen und zu gebieten innerhalb der Grenzen, die damals vorhanden waren, und er gab nach oder zog sich zurück, wenn er sich diesen Grenzen näherte. Was die Menschen anzog und überwand, war die unbefangene Menschlichkeit dieses Hochgestellten. Er glaubte nie, sich etwas zu vergeben, wenn er sich gab, wie er war, und wenn er, wie es wohl geschah, sich allzusehr gehen ließ, den Abstand zwischen dem Kaiser und dem Volk zu wenig wahrte, so hat das doch seinem Ansehen nicht schaden können. Was immer, besonders aber auf dem Throne, selten ist, er hatte Freunde, die er liebte und denen er treu blieb, manchmal mehr, als sie es ihm waren. Einen Unterschied der Geburt machte er nicht, wie es denn auch angenehm auffiel, daß er niemanden mit du, alle mit Ihr anredete; zu seinen Freunden gehörte so gut der Burggraf Friedrich von Nürnberg wie der Florentiner Pippo Spano, sein Feldherr, den die Legende zu einem Kind des Volkes gemacht hat, wie der Bürgersohn aus Eger Kaspar Schlick. Die Freunde machte er mit vollen Händen reich, nie berechnend, ob ihm auch sein Vertrauen vergolten würde.

Er schenkte nicht, um sich Freunde zu machen, sondern weil Verschwenden seine Natur war; einmal, als ihm eine gewisse Menge Dukaten gebracht wurde, verteilte er sie sofort unter die Anwesenden. Allerdings liebte er festliche Geselligkeit, Pracht und Überfluß und gab achtlos Geld dafür aus, das wichtigeren Zwecken hätte dienen sollen. Seine Unfähigkeit, gut zu wirtschaften, lähmte seine Regierung, der Mangel an Geld, das verhängnisvolle Übel der römischen Könige des 14. und 15. Jahrhunderts, hinderte nicht nur die Ausführung seiner Pläne, sondern brachte ihn auch persönlich in beschämende Lagen. Ganz fehlte ihm die Feldherrngabe, niemals hatte er Glück im Kriege, was ihn nicht hinderte, es immer wieder zu versuchen. Persönlich mutig war er in hohem Grade: als einmal ungarische Barone ihn absetzen wollten und ihn mit dem Schwert bedrohten, sah man ihn nicht erschrecken, und seine Kaltblütigkeit entwaffnete sie. Ebenso unerschrocken benahm er sich bei Gelegenheit eines Brandes und Aufruhrs in Perpignan. Besonders auffallend war seine sprachliche Begabung: er beherrschte außer der deutschen die lateinische, böhmische, ungarische, französische und englische Sprache. Seine Gewandtheit im Ausdruck war so groß, daß er auch unvorbereitet über die schwierigen, meist so verwickelten staatlichen und kirchlichen Probleme der Zeit reden konnte. Seine Witzworte und treffenden Aussprüche sind von den Zeitgenossen gesammelt worden. Er war sich bewußt, daß das Wort ihm ein Übergewicht gab; oft hat er versucht, und manchmal mit Erfolg, durch seine Überredungskunst scheinbar unlösliche Verwickelungen zu entwirren. Seine persönliche Art, sich zu äußern, machte sich sogar in seiner Kanzlei bemerkbar. Auch wo er es nicht ausdrücklich sagte, spürt man doch in seinen Worten sein Gefühl für die Größe, für die Schönheit und Tragik des menschlichen Lebens.

Es scheint, daß Siegmund schon früh nach der Kaiserwürde als nach der ihm bestimmten Aufgabe strebte. Gegen das Ende seines Lebens sagte er einmal, die deutsche Krone könne nicht zu Lust und Ehre getragen werden, sie sei eine schwere Bürde, die den, der sie trage, fast erdrücke. Im Beginn seiner Regierung verkannte er die ungeheuren Schwierigkeiten, die sich kaiserlicher Wirksamkeit entgegenstellten, wohl nicht, aber im Gefühl überschwenglicher Jugendkraft traute er sich doch eher zu, ihrer Herr zu werden. Seine Auffassung des Reiches war durchaus mittelalterlich. Das Heilige Reich war für ihn der Mittelpunkt des Abendlandes, der Kaiser Herr der Welt, ohne Besitzer zu sein, als der Quell von Recht und Frieden. Den Rechtszustand und den Frieden im Abendlande herzustellen erschien ihm deshalb als seine dringendste Aufgabe, und der erste Schritt dazu war die Beseitigung des Schismas.

Die Tatsache, daß es unter den Kardinälen eine französische und eine italienische Partei gab, welche letztere verlangte, daß der Papst womöglich Italiener sei, jedenfalls aber seinen Sitz in Rom, nicht in Avignon habe, führte schließlich dazu, daß zwei Päpste sich gegenüberstanden, die, auf rechtmäßige Wahl gestützt, allgemeine Anerkennung beanspruchten, wozu schließlich noch ein dritter kam, durch den man gehofft hatte, die beiden anderen zu beseitigen. Daß es zufällig infolge der Absetzung Wenzels, die dieser nicht anerkannte, und einer Doppelwahl auch drei Kaiser gab, erschien die monströse Dreiköpfigkeit der beiden höchsten Häupter der Christenheit wie ein krauses Sinnbild allgemeiner Entartung. Das Bewußtsein der Verwilderung sowohl im Bereich des Seelischen wie der staatlichen und kirchlichen Organisation war in allen Kreisen lebhaft und deutlich. Äußerte es sich im Volke in Angriffen auf die führenden Kreise, auf die hohe Geistlichkeit, die Fürsten, die Stadtregenten, den Adel, so erkannten die Führenden selbst das Verrottete der Einrichtungen und die Unvereinbarkeit vieler alter Einrichtungen mit veränderter Lebensunterlage. Daß alles von Grund auf anders werden müsse, war allgemeine Meinung, allgemeines Gefühl; man nannte das die Reformation an Haupt und Gliedern. Für den Kaiser war es natürlich, daß er als die Hauptsache die Wiederherstellung des alten Verhältnisses zwischen Kaiser und Papst ansah. Hatte sich doch gezeigt, wie unzertrennlich die beiden Gewalten zusammenhingen, wie gerade die Maßregel, durch welche die Päpste sich von den Kaisern unabhängig zu machen suchten, die Übersiedelung nach Avignon, zu ihrer Erniedrigung und ihrem Sturz geführt hatte. Daß die Länder je nach ihrer politischen Einstellung verschiedene Päpste anerkannten, Frankreich den in Avignon, das Reich den von Rom, führte zu den ärgsten Unzuträglichkeiten. In Frankreich selbst sah man endlich ein, daß das Papsttum nicht von Rom getrennt werden könne, wozu kam, daß die Kosten, sich einen eigenen Papst zu halten, für Frankreich allmählich zu drückend wurden. Die Universität von Paris, neben Bologna und Oxford die älteste und berühmteste des Abendlandes, unbestritten die maßgebende auf dem Gebiete der Theologie, vertrat durch ihren Kanzler Gerson, einem durch Charakter und Gelehrsamkeit hervorragenden Manne, die Theorie, daß ein Konzil, nämlich die gesamte Geistlichkeit des Abendlandes, über dem Papst stehe und berufen sei, die zerrüttete Kirche und ihre Beziehungen zu den Staaten zu ordnen. Indessen schon zur Zeit Ludwigs des Bayern hatten die Gegner des Papstes ein Konzil als Schiedsrichter gefordert, und seitdem war der Ruf nach einem solchen immer wieder erhoben worden. Unendliche Beratungen, Gesandtschaften, Veröffentlichungen beschäftigten sich mit der Frage, ob die Aufhebung des Schismas durch Abdankung der Päpste, durch zwangsmäßige Absetzung, durch ein Konzil oder wie sonst zu erreichen sei. Wurde auch eine gewisse Einigkeit der maßgebenden Länder und Persönlichkeiten in bezug auf das Konzil hergestellt, so war doch über die Frage, wer es einzuberufen und wo es stattzufinden habe, keine gütliche Einigung abzusehen, und es ist überraschend, in wie kurzer Zeit Siegmund, als er in seiner Eigenschaft als Kaiser die Angelegenheit wie selbstverständlich in seine Hand nahm, zum Ziele kam. Mit Benützung der Umstände, die die augenblickliche politische Lage bot, überredete er Johann XXIII., sich dem Konzil zu stellen und brachte es sogar dahin, daß eine deutsche Stadt, Konstanz am Bodensee, zum Versammlungsort bestimmt wurde. Für dreieinhalb Jahre wurde die reizende gastliche Stadt, die an Strom und See lagernd wie mit ausgebreiteten Armen den Vorüberziehenden Willkommen zu winken scheint, der Mittelpunkt des Abendlandes, wo die Würdenträger und Gebildeten aller christlichen Länder zusammenkamen. Am 30. Oktober des Jahres 1413 gab Siegmund in Como der Christenheit bekannt, daß am 1. November 1414 ein allgemeines Konzil eröffnet werde. Dann traf er in Lodi mit dem Papst zusammen und überredete ihn dazu, daß er am 9. Dezember die Einladungsbulle vollzog und nach Konstanz zu kommen versprach. Da sich Johann XXIII. von dort nach Bologna begeben wollte, begleitete Siegmund ihn nach Cremona, das damals einem Gewalthaber, namens Gabrino Fondolo, unterstand. Um den hohen Gästen Unterhaltung zu bieten, führte er sie auf einen Turm, der ihnen Aussicht über die breite Ebene der Lombardei gewährte. Es ging dem Manne durch den Kopf, als er die beiden Herren sich Ausschau haltend über die Zinnen beugen sah, daß er das Leben der beiden höchsten Häupter der Christenheit in der Hand habe: ein kräftiger Stoß, und sie lägen zerschmettert unten. Es war nur ein Prickeln, das den des Mordes nicht ungewohnten Mann anwandelte; einen greifbaren Vorteil versprach er sich nicht davon, und so stiegen Kaiser und Papst, höfliche Gespräche austauschend, gelassen den Turm hinunter. Langsam zog Siegmund nach Turin und durch die Schweiz an den Rhein, errichtete in Nürnberg einen Landfrieden für Franken und unterzeichnete am 18. Oktober in Speyer einen Geleitbrief für den Professor an der Prager Universität Johann Huß, der eingewilligt hatte, sich in Konstanz über seine angeblichen Irrlehren zu erklären, wenn der Kaiser ihm seinen Schutz zusage. Einige Tage später traf der Papst in Konstanz ein, unwillig und voll trüber Ahnungen, aber doch nicht wagend, das einmal gegebene Versprechen rückgängig zu machen. So konnte am 5. November das Konzil eröffnet werden. In der Weihnachtsnacht setzte Siegmund, von Überlingen kommend, wo er kurz zuvor eingetroffen war, über den See und landete um 4 Uhr morgens in Konstanz. Mit seiner schönen Frau Barbara begab er sich sofort in das Münster.

Die Anwesenheit des Kaisers machte sich durch einen Aufschwung der Tätigkeit bemerkbar; so war es aber doch nicht, daß alles nach seinem Willen gegangen wäre. Die Beseitigung des Schismas war ihm das wichtigste, weil dadurch erst eine Grundlage hergestellt wurde, auf der die weitere Entwicklung möglich war, dann sollte die Reformation an Haupt und Gliedern in Angriff genommen werden. Dieser vom Volke ersehnten und von allen bedeutenden Männern als notwendig erkannten Reformation aber setzte sich von allen Seiten Eigennutz und Trägheit entgegen, Einmütigkeit dagegen herrschte beim Klerus in dem Wunsche nach Ausrottung der Ketzerei, wodurch zugleich die Kritik und Angriffslust auf einen anderen Gegenstand abgelenkt wurde. Es zeigte sich, daß es leichter ist, Menschen von dem, was sie mit Recht verfolgen würden, abzuziehen und auf Unschuldige oder minder Schuldige zu hetzen, als Jagdhunde von der rechten Fährte. Siegmund hatte nichts von der schwärmerisch abergläubischen Kirchlichkeit seines Vaters, wenn man ihn fromm nennen wollte, war es höchstens die Frömmigkeit gesunder Sinne und eines ungetrübten Geistes; wenn er, wie jener als Diakon gekleidet, bei der Messe diente und mit wohllautender Stimme seinen Part sang, war das ein Mitmachen von Gebräuchen, das zu seinem Amt gehörte. Er war frei von Vorurteilen und beschützte wie einst Friedrich II. die Juden, die wegen angeblicher Ritualmorde verfolgt wurden; aber er wußte, daß er, wollte er überhaupt Kaiser sein, nur ein katholischer Kaiser sein konnte, Schirmherr des Papstes und des rechtmäßigen Glaubens. Die Verpflichtung, den Kirchenglauben rein zu halten, war der Kaiserwürde so wesentlich innewohnend, daß er nicht daran denken konnte, gleichgültig gegen offenbare Ketzerei zu sein oder sich gar auf ihre Seite zu stellen. Sein Wunsch war, als er Huß zum Besuch des Konzils einlud, das durch ihn in Böhmen erregte Ärgernis zu beseitigen, woran er als künftiger König von Böhmen, Nachfolger seines Bruders Wenzel, das größte Interesse hatte. Huß war auf seiner Reise durch Deutschland überall teils mit Neugier, teils mit Achtung aufgenommen; in Nürnberg überreichten ihm drei böhmische Herren Siegmunds Geleitbrief, und in Konstanz, wo er Anfang November eintraf, empfing ihn auch der Papst freundlich. Ein Umschwung erfolgte durch böhmische theologische Gegner, die gegen ihn wühlten und auf die Gefahr der Verbreitung seiner Lehre hinwiesen. Huß wurde angewiesen, die Ausübung geistlicher Funktionen zu unterlassen, und da er sich weigerte, von den Böhmen angeklagt und vom Papst vorgeladen. Jetzt hielt sich Huß für gefährdet und entfloh; er begriff mit einem Male, da er die Art der Ketzergerichte kannte, was ihm in der Fremde unter Gleichgültigen oder Feinden drohte. Verfolgt und zurückgebracht, wurde er nunmehr als Gefangener und Angeklagter behandelt. Als Siegmund seine Gefangennahme erfuhr, wurde er zornig, ein Beweis, daß er sie als Bruch seines Geleitbriefes auffaßte; aber er bestand nicht darauf, daß er in Freiheit gesetzt würde. Huß hatte sich, als er von Prag abreiste, vom dortigen Erzbischof bestätigen lassen, daß er kein Ketzer sei, und auch Wenzel behauptete und setzte seinen Stolz darein, daß es in Böhmen Ketzereien nicht geben könne. Huß selbst war überzeugt von der Richtigkeit seiner Lehre und erklärte sich bereit, wie alle Verkündiger reformatorischer Lehren taten, wenn man ihn seiner Irrlehre überwiese, diese aufzugeben; aber der Maßstab sollte einzig die Heilige Schrift sein, während für die rechtgläubigen Katholiken außerdem die Tradition, die Kirchenväter, die kanonischen Bücher, die Entscheidung früherer Päpste, der Wille des Papstes in Betracht kamen. So sehr war Huß überzeugt, das Rechte und Gute zu wollen, hatte auch so oft erfahren, welche Macht seine Rede über die Hörer hatte, daß er sich beinah darauf freute, die glänzende Versammlung durch die Macht seiner Gründe und Anschauungen zu gewinnen. Siegmund lag daran, die in Böhmen durch Hussens Lehre entstandenen Wirren zu schlichten, seine Verständigung herbeizuführen; Hussens Verdammung wünschte er nicht. Es läßt sich wohl die Ansicht rechtfertigen, Siegmund habe dem Urteil des Konzilgerichts nicht vorgreifen können, sein Geleitbrief habe also nur Schutz auf der Reise und etwa noch freie Verteidigung auf dem Konzil, nicht aber die Gewähr für straffreien Ausgang des Prozesses bedeuten können; allein Huß hatte das Gefühl, daß ihm Siegmund Schutz und Sicherheit überhaupt während seines Aufenthalts im Reich versprochen habe, und so empfand es auch der Kaiser selbst, der ein viel zu grade und unmittelbar fühlender Mensch war, um sich durch künstliche Rechtskonstruktionen freizusprechen. Allerdings, da er nun einmal lieber Huß preisgeben, als es auf eine Auflösung des Konzils ankommen lassen wollte, war er vielleicht innerlich geneigt, den unbequemen Professor schuldig zu finden. Er wohnte den Verhören bei und verfolgte das Hin und Her der Meinungen aufmerksam. Als der Satz Hussens besprochen wurde, daß einem König, der in Todsünde sei, kein Gehorsam mehr geleistet zu werden brauche, entgegnete er, den Blick des Angeklagten erwidernd: Kein Mensch ist ohne Sünde. Seine ganze Liebenswürdigkeit, seine Stärke und seine Schwäche lagen in diesen Worten: er gehörte nicht zu den strengen Idealisten, die Fehlerlosigkeit von den Menschen verlangen, er wollte nie selbst fehlerlos erscheinen, er verzieh gern anderen, aber auch allzu leicht sich selbst. Sein Bemühen, Huß zu retten, war offensichtlich; erst schob er die Eröffnung des Prozesses hinaus, dann redete er ihm persönlich zu, seine Irrtümer abzuschwören, was er ihm durch die beliebte Wendung mundgerecht zu machen suchte, er brauche ja nicht einzugestehen, daß er geirrt habe, sondern nur zu widerrufen, worin er geirrt haben sollte. Siegmund konnte das ehrlich meinen, da es sich in seinen Augen um theologische Streitfragen handelte, für die er kein wesentliches Interesse hatte, Huß aber, wie nach ihm Hieronymus, war sich bewußt, daß es um grundsätzliche Entscheidungen ging, die mit seiner Person eins waren. Er mußte mit seiner Person für sie eintreten, wie Siegmund seine Person für sein Kaisertum einsetzte.

Noch bevor Huß verbrannt wurde, war Johann XXIII. seiner Würde entsetzt und nach Gottlieben gebracht worden, wo auch Huß gefangengelegen hatte. Durch seine Flucht, mit der das mühevoll beseitigte Schisma wieder auszubrechen drohte, verscherzte er sich alle Sympathien. Man hielt ihm die lange Liste seiner Verbrechen vor, und da er eine gemeine Seele war, erkaufte er sich Sicherheit seiner Person, indem er das Konzil als über dem Papst stehend und was sonst noch von ihm verlangt wurde, anerkannte. Das seltsam Formelhafte des mittelalterlichen Rechtsgefühls fällt erschreckend auf: ein Mann von höchster Rechtlichkeit und Überzeugungstreue, dem nicht die geringste Befleckung seiner Tugend nachzuweisen war, wurde verurteilt und verbrannt; ein anderer, der schwerer Verbrechen angeklagt wurde und sie nicht leugnete, war kurz zuvor zum Papst gewählt, und sein Kaiser hatte seinen Fuß geküßt. Ist es aber zu irgendeiner Zeit anders gewesen? Der im Besitz der Macht ist, hat recht, und wer eine herrschende Macht angreift, hat unrecht. Verschieden ist nur die Bewertung der Verbrechen: Mord ging damals in manchen Fällen unbestraft hin, vielleicht weil überhaupt das Leben dem Tode weniger fern schien als heute. Daß die der Ketzerei Überführten verbrannt wurden, war selbstverständlich. Noch war man allgemein der Ansicht, daß die höchste Autorität, welche über die Verwirklichung der Idee des Guten und Bösen zu wachen berufen ist, an die Kirche gebunden sei, daß mit der Kirche die Grundlage geordneten Lebens zusammenbrechen würde. Grade weil sich die Schwächen der Kirche nicht mehr verbergen ließen, weil sie den Angriffen, die von allen Seiten auf sie eindrangen, so viele Blößen bot, glaubten ihre Anhänger, sie mit allen Mitteln schützen zu müssen. Das Fundament des Staates war noch nicht so fest gemauert, daß man die Funktionen der Kirche auf ihn hätte übertragen können.

Wie sehr Siegmund das belebende Element des Konzils war, zeigte sich, als er es bald nach der Verdammung Hussens verließ, um nach Paris und London zu gehen und als Haupt des Abendlandes die streitenden Könige von Frankreich und England zu versöhnen. Nach seiner Auffassung war es seine Aufgabe, nicht nur im deutschen, sondern im römischen Reich, das das ganze Abendland umfaßte, den Frieden zu fördern. Wie vorteilhaft für Deutschland die Schwächung Frankreichs durch den englischen Krieg war, bedachte er nicht, noch daß er dem Argwohn Frankreichs, als ob er es mit England halte, doch nicht entging. Vielleicht war er des Konzils sehr überdrüssig. Es war sein Schicksal, daß er, ohne über eine nennenswerte Macht zu verfügen, wirken sollte und wollte und dazu beständig seine Person einsetzen mußte. Vieles gelang ihm; aber nachdem er sich bis aufs äußerste erschöpft hatte, stieß er immer auf eine Grenze der Selbstsucht oder Beschränktheit, die er nicht einrennen konnte. Dann ging er fort, sah Wolken, Ströme und Hügel, sah schöne Frauen und freute sich am Reichtum des Lebens; es war ihm Bedürfnis, Leben einzuatmen, in Lebensluft zu baden, wenn er sich vergebens ausgegeben hatte.

Nach seiner Rückkehr setzte er alles daran, die Reform der Kirche an Haupt und Gliedern durchzusetzen, bevor der neue Papst gewählt würde, denn er sah voraus, daß die Kirche, sowie sie wieder ein Haupt hätte, sich der Reform erfolgreich widersetzen würde. Unterstützt wurde er dabei von den deutschen und englischen Kardinälen. Der Unterschied des germanischen und romanischen Wesens zeigte sich darin, daß die germanischen Nationen mehr Wert auf die sittliche Besserung der Kirche legten, während es den romanischen um die Beseitigung des Schismas und Minderung der finanziellen Belastung der Länder zu tun war. Siegmund war fest entschlossen, nicht nachzugeben, obwohl er sich dadurch den gefährlichsten Beschuldigungen aussetzte. Als er einmal mit einigen Prälaten im Zorn die Kirche verließ, wo Sitzungen stattfanden, wurde ihnen nachgerufen: »Laßt die Ketzer gehen!« Schmähschriften erschienen, in denen ihm Ketzerei vorgeworfen wurde. Unglücklicherweise starb am 4. September 1417 der Bischof von Salisbury, der seine bewährteste Stütze in der englischen Nation gewesen war; nun er fehlte, gelang es den Kardinälen und den Franzosen, an deren Spitze der berühmte Gerson stand, die Engländer von Siegmund abzuziehen. Wieder einmal war der Augenblick gekommen, wo er den Kampf aufgeben mußte und erbittert und enttäuscht Konstanz verließ. Er ritt den Bodensee entlang durch das Rheintal nach Feldkirch, dann am Wallenstädter See vorbei nach Einsiedeln. Er war damals fast 50 Jahre alt, im Hochsommer des Lebens, blickte zurück auf manchen Sieg und manche Niederlage, auf glänzende Erfolge und kümmerliches Verzichten, und fühlte Kraft in sich zu neuen Taten; nur eine augenblickliche Ermüdung war es, die ihn den kühlen Hauch vom See und den Bergen her wohltuend empfinden ließ. Als er die Urkantone besuchte, erzählte ihm Ital Reding von Schwyz auf seinen Wunsch von den großen Taten der Ahnen; vielleicht von dem ersten Bündnis am See, von der Tyrannei österreichischer Vögte, von der Treue der freien Bauern zu Kaiser und Reich und ihrem Heldenmut. Siegmund hörte das gern; er fühlte sich unter diesen Bergleuten als der echte Kaiser eines freien Volkes.

Auf die Nachricht, daß der Kardinal-Diakon Otto von Colonna zum Papst gewählt war, eilte Siegmund nach Konstanz zurück. Eine Reihe von Festlichkeiten, die nun stattfanden, leiteten das Ende des Kongresses ein. Zehn Tage nach der Wahl fand um Mitternacht im Münster die Konsekration des Papstes statt, unter freiem Himmel im Bischofshofe die Krönung, woran sich ein feierlicher Umgang durch die Stadt schloß. Zwanzig berittenen Kardinälen folgend, ritt der Papst auf einem weißen Pferd mit weißer Decke, das der Kaiser und der Burggraf Friedrich von Nürnberg leiteten. Die übrigen weltlichen Herren folgten zu Fuß. Nach altem Brauch zogen die Konstanzer Juden dem Papst entgegen, überreichten ihm zehn Gulden und die Bücher Mosis und baten ihn, ihre Gesetze zu bestätigen, wie vor ihm andere Päpste getan hätten. Eugen IV. nahm ihnen das Gesetzbuch ab, worauf der König es ergriff, indem er sagte: »Mosis Gesetze sind recht gut, keiner von den Unsrigen soll sie verachten; ihr aber wollt sie nicht verstehen und beobachtet sie nicht, wie es sich gebührt.« Damit gab er ihnen das Buch zurück. In lateinischer Sprache sagte der Papst: »Lernt das Gesetz verstehen, und der Allmächtige nehme weg die Binde von euren Augen, damit ihr sehen könnt das Licht des ewigen Lebens. Amen!« Am 1. Dezember veranstalteten die deutschen Fürsten auf dem Fischmarkt ein Turnier zu Ehren des neugewählten Bürgermeisters von Konstanz, den Siegmund am Neujahrstage, nachdem der Papst das Hochamt zelebriert und dem Volk den Segen erteilt hatte, vor dem Altar zum Ritter schlug. Kaiser und Papst und alle geistlichen und weltlichen Großen, die den Kongreß mitgemacht hatten, zeigten sich gern der Stadt dankbar, die sie jahrelang angenehm beherbergt hatte. Man staunt, daß eine Stadt von etwa 20 000 Einwohnern etwa 50 000 Konzilsbesucher unterzubringen imstande war; allerdings konnten nicht alle innerhalb der Stadt bleiben. Die ungeheure Menge Menschen war ernährt worden, ohne daß es jemals eine Teuerung gegeben hätte. Obwohl unvorhergesehene und aufregende Ereignisse genug stattfanden, gab es niemals ernstliche Ruhestörungen, wozu freilich auch die Umsicht des Kaisers beitrug; als die Nachricht von der Flucht des Papstes sich verbreitete, lief er selbst auf die Straße und in die Häuser, damit die Geschäftsleute ihre Auslagen nicht schlössen und dadurch Tumulte entständen.

Das Konzil mit seinen Ergebnissen durfte Siegmund als sein Werk betrachten. Konnte er damit zufrieden sein? Als die Nationen mit Ausnahme der Italiener sich mit der Bitte an ihn wandten, er möge dazu tun, daß der Papst die Kirchenverbesserung beschleunige, sagte er: »Als wir darauf bestanden, die Reform der Kirche vor der Papstwahl vorzunehmen, waret ihr anderer Meinung und wolltet erst den Papst haben. Seht, jetzt habt ihr ihn, geht nun hin und bittet ihn um die Reform. Wir können jetzt nicht mehr soviel dabei tun wie in jener Zeit, als der päpstliche Stuhl erledigt war.« Ein trauriger Triumph, wie Siegmund deren oft zu verzeichnen hatte. Die Reformen, die gewährt wurden, betrafen die Verwaltung und wurden durch Konkordate festgesetzt, die der Papst mit den einzelnen Ländern auf mehrere Jahre abschloß. Von einer Hebung der sittlichen Zustände war keine Rede, ebensowenig wurde die übertriebene Zentralisation aufgehoben, die alle kirchlichen und weltlichen Angelegenheiten nach Rom zog und die Ursache der finanziellen Ausbeutung der Länder war. Nur das war erreicht, daß es wieder einen einzigen Papst in Rom gab, und daß der Papst sich in Übereinstimmung mit dem römischen König befand. Am 24. Januar 1418 erkannte der Papst den König feierlich an, reichte ihm die Hand und versprach ihm die Achtung und Rücksicht, die ihm als dem weltlichen Oberhaupt der Christenheit gebühre. Dem Gelöbnis schlössen sich die Kardinäle und übrigen Prälaten an. In Gegenwart Siegmunds ließ der Papst am Grünen Donnerstag die Exkommunikationsbulle gegen die Heiden, Häretiker, Schismatiker, Griechen, Juden, gegen den schismatischen Papst Benedikt XIII., der nicht abdanken wollte, gegen alle von der römischen Kirche Abgefallenen, gegen Falschmünzer und Verfälscher päpstlicher Bullen und Siegel verlesen. Es war eine förmliche, feierliche Restauration, die Grundzüge der mittelalterlichen Verfassung waren wiederum gesichert. War es das, was Siegmund gewollt hatte?


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