Edmund Josef von Horváth
Ein Kind unserer Zeit
Edmund Josef von Horváth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Gedanke

Nun wohn ich bei meinem Vater. Er geht gegen Mittag weg und kommt erst nach Mitternacht heim. Sein Zimmer ist wirklich arm.

Ein Schrank, ein Tisch, ein Bett, zwei Stühle und ein schiefes Sofa – das ist alles. Das Sofa ist übrigens obendrein zu kurz für mich.

Dafür hab ich den halben Tag Musik.

Nebenan wohnt nämlich eine arbeitslose Verkäuferin mit einem heiseren Grammophon. Sie hat nur drei Platten, lauter Tanz.

Also immer dasselbe, aber das stört mich nicht, was lustiges hört man immer gern.

Ich lese ein Buch über Tibet, das geheimnisvolle Reich des Dalai-Lama am höchsten Punkt der Welt. Mein Vater hats von einem Stammgast bekommen. Der Stammgast konnte nämlich plötzlich seine Zeche nicht mehr bezahlen, weil er seine Stellung verloren hatte. Ein kleines Menü ist das Buch wert. Aber ohne Kompott.

Diese Verkäuferin ist nicht hübsch.

Sie wird also schwer eine Stellung bekommen.

Wenn sie nicht verhungern will, wird sie sich wohl verkaufen müssen.

Viel wird sie ja nicht bekommen. –

Eigentlich ist sie zu dürr. Zumindest für meinen Geschmack. Ich lieb nämlich nur das Gesunde.

In den Zeitungen steht zwar, wir hätten keine Arbeitslosen mehr, aber das ist alles Schwindel. Denn in den Zeitungen stehn nur die unterstützten Arbeitslosen – da aber einer nach kurzer Zeit nicht mehr unterstützt wird, kann er also nicht mehr in der Zeitung als Arbeitsloser stehn. Ob er sich umbringt, um nicht zu verhungern, darüber darf nämlich nichts berichtet werden. Nur wenn einer etwas stiehlt, das steht drin und zwar in der Rubrik: »Aus dem Rechtsleben«.

Es gibt keine Gerechtigkeit, das hab ich jetzt schon heraußen.

Daran können auch unsere Führer nichts ändern, wenn sie auch auf außenpolitischem Gebiet noch so genial operieren. Der Mensch ist eben nur ein Tier und auch die Führer sind nur Tiere, wenn auch mit Spezialbegabungen.

Warum bin ich nicht so begabt?

Warum bin ich kein Führer?

Wer bestimmt da mit einem Menschen? Wer sagt zu dem einen: Du wirst ein Führer. Zum andern: Du wirst ein Untermensch. Zum dritten: Du wirst eine dürre, stellungslose Verkäuferin. Zum vierten: Du wirst ein Kellner. Zum fünften: Du wirst ein Schweinskopf. Zum sechsten: Du wirst die Witwe eines Hauptmanns. Zum siebten: Gib mir deinen Arm – Wer ist das, der das zu befehlen hat?

Das kann kein lieber Gott sein, denn die Verteilung ist zu gemein –

Wenn ich der liebe Gott war, würd ich alle Menschen gleich machen.

Einen wie den anderen – gleiche Rechte, gleiche Pflichten. Aber so ist die Welt ein Saustall.

Meine dicke Schwester im Krankenhaus sagte zwar immer: Gott hat mit jedem einzelnen etwas vor –

Heut tuts mir leid, daß ich ihr nicht geantwortet hab: Und mit mir? Was hat er denn mit mir vor, dein lieber Gott? Was hab ich denn verbrochen, daß er mir immer wieder die Zukunft nimmt?

Was will er denn von mir?

Was hab ich ihm denn getan?!

Nichts, radikal nichts!

Ich hab ihn immer in Ruh gelassen. –

Das Grammophon spielt, ich lese im Buch über Tibet von dem salzigen See Lango-Ply, aber meine Gedanken sind wo anders.

Ich hab nämlich keine Angst mehr vor dem Denken, seit mir nichts anderes übrig bleibt. Und ich freue mich über meine Gedanken, selbst wenn sie was Unangenehmes entdecken.

Denn ich bleib durch das Denken nicht mehr allein, weil ich mehr zu mir selber komme. Dabei find ich natürlich nur Dreck.

Ich darf noch die Uniform tragen, denn ich hab keinen anderen Anzug, und das Jahr in der Kaserne war mein goldenes Zeitalter.

Vielleicht hätt ich jenem Bettler meine fünf Taler geben sollen, vielleicht war dann heut mein Arm wieder ganz – nein, das ist ein zu dummer Gedanke!

Weg damit!

Mein Vater sagte: wir haben gesiegt – jawohl: wir. Als wär er auch dabei gewesen –

Einst hat er den Krieg verabscheut, seinen Weltkrieg, weil er dabei gewesen ist. Aber mein Krieg, der versetzt ihn in Begeisterung –

Ja, er ist und bleibt ein verlogener Mensch.

Aber ich bin ihm nicht bös, wenn ich dieses Zimmer betrachte.

Wer arm ist, darf sich was vorlügen – das ist sein Recht.

Vielleicht sein einziges Recht.


 << zurück weiter >>