Edmund Josef von Horváth
Ein Kind unserer Zeit
Edmund Josef von Horváth

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Vorarbeiten und Varianten

Es war einmal ein Soldat. Er war ein Kind seiner Zeit.

Name: Peter XY.

Geboren: 7. XI. 1915.

Geburtsort: die Haupt- und Residenzstadt.

Zuständigkeitsort: ein Dorf.

Ständiger Wohnsitz: ohne.

Beruf: Kellner.

Name des Vaters: Peter XY.

Beruf des Vaters: Oberkellner.

Name der Mutter: Karoline XY, geborene Z.

Wohnsitz der Eltern: Vater gefallen in Galizien Mai 1916.

Mutter gestorben an der Grippe Herbst 1919.

Statur: mittelgroß, schlank.

Haare: dunkelblond.

Augen: braun.

Mund: regelmäßig.

Nase: regelmäßig.

Besondere Kennzeichen: keine.

Bemerkungen: Kriegerwaise. Vorbestraft wegen Bettelns.

Etwas außerhalb des Städtchens, wenn man zur Mühle geht, zum Müller-Restaurant, liegt das Waisenhaus in einem idyllischen Park. Die dunklen, alten Bäume wachsen dort. Eine Allee. Man geht zum Friedhof. Die Frau von Skadletzky erinnert sich noch genau. Es ist sozusagen ihre erste Erinnerung. Sie hieß damals noch Fräulein Marianne von Klausewitz, und sie geht mit ihrem Kinderfräulein spazieren. Sie sitzt in dem Wagen und da sieht sie plötzlich einen großen Hof mit vielen Kindern, alle gleich angezogen. »Es sind Waisenkinder«, sagt das Kinderfräulein, »sie haben weder Vater, noch Mutter!« Und die kleine Marianne sieht sie und sie tun ihr so leid. Sie sehen sie und schauen hin. Sie gingen zwei und zwei. Und der sechste von hinten, das war der Peter XY. Er hat die Kleine vergessen, aber das Fräulein nie die Kinder. Sie hat sehr reich geheiratet und wenn sie ihren Mann betrügt, denkt sie an die Waisenkinder. »Recht geschiehts ihm!« sagt sie.

Es war einmal ein Soldat. Er war ein Kind seiner Zeit. Es gibt gute Zeiten und fette Jahre, aber als unser Soldat geboren wurde, waren die Jahre mager und die Zeiten bös. Es war nämlich Krieg.

Er lag in der Wiege und die Mutter sang: »Flieg Maikäfer, flieg, Vater ist im Krieg –«

Und die Maikäfer flogen um den Apfelbaum und der Vater blieb im Krieg. Da weinte die Mutter die ganze Nacht und hat nie mehr gesungen.

Die Wiesen blühten und die Mutter wurd immer stiller.

Der Sommer kam und im Herbst war der Krieg zu Ende. Die einen siegten, die anderen verloren. Aber der Mutter war das gleichgültig, denn sie hatte ihren Mann verloren. Sie bekam eine kleine Rente, aber die Rente war zu niedrig, von ihr konnte sie nicht leben. Und ihre Arbeit hatte sie auch verloren, denn nun kamen die Männer zurück und nahmen die Stellen der Frauen ein. Da ging sie ins Wasser. Ihr Name stand in der Zeitung unter der Rubrik »Die Lebensmüden des Tages«. Ja, sie war sehr müde. Es war nur eine kleine Notiz.

Sie wollte das Kind mitnehmen, aber da saß der Schutzengel an der Wiege und sagte: »Tu es nicht!« Und die Mutter fragte: »Wirst du denn mein Kind beschützen?« Und da lächelte der Engel: »Wenn mir alle so folgen, wie du, dann ja–«

Die Mutter begriff es nicht, was der Engel sagte, aber sie folgte ihm. Sie ließ das Kind zurück.

Heut sinds zirka zwanzig Jahre her.

Ja, unser Soldat ist ein sogenanntes Kriegskind.

Aber er kann sich an den Krieg nicht mehr erinnern.

Wenn der Soldat heute nachdenkt, an was er sich als erstes in seinem Leben erinnern kann, dann sieht er sich in einem großen Raume auf dem Boden sitzen. Der Boden besteht aus Brettern und er fährt mit dem Finger die Striche entlang. Er weiß nicht, was er tut. Er weiß nur, die Fenster sind hoch, sehr hoch, überhaupt ist alles so hoch, als war droben der Himmel, als wäre der Plafond der Himmel. Noch ist alles so groß, was die Menschen gebaut haben. Warte nur, es wird schon kleiner! Und er weiß, daß wenn er groß sein wird, daß wenn er bei den Fenstern hinausschauen könnt, dann lag draußen die große Welt. Wie ein böser Hund. Oder ein braves Pferd.

Aber das weiß er alles nicht so genau.

Er weiß nur, daß er fror, wie er so auf dem Boden saß.

Und das stimmte auch. Denn in dem Waisenhaus, wo er heranwuchs, wurde oft nicht geheizt. Nicht, als wollte man sparen, nein – man hatte keine Kohlen. Denn nach dem Krieg gibts oft keine Kohlen. Keine Waggons und die Arbeiter streikten. Und es wurde um die Gruben gekämpft. Denn die Arbeiter meinten, nur durch einen Krieg könnte es dahin kommen, daß es keinen Krieg mehr gibt.

Aber an die Kohlen, die es nicht gab, erinnert er sich nicht mehr.

Heut weiß er nur, daß er fror.

Es ist kalt, das ist seine erste Erinnerung.

Und dann kommen viele Erinnerungen. Es wurde Frühling, die Sonne wurde immer wärmer. Und sie durften in den Garten. Eine brave Frau, er weiß nicht, wie sie aussah, er hört nur manchmal ihre Stimme noch, sagt ihm, das darfst du tun, das mußt du tun und das darfst du nicht tun, ein artiges Kind. Er erinnert sich an einen verschütteten Teller, an ein Hündchen, das er am Schwanz reißt und das schreit. Und dann hustet er und ein Arzt kommt und er sagt Aah! Es waren die ersten Hände eines Mannes, sie rochen nach Seife. Und dann spielt er im Garten.

Sie spielen mit Sand und haben einen grauen Ball. Und da kommt plötzlich ein bunter herrlicher Ball hereingeflogen. Woher kam er?

Sie blicken in den Himmel und staunen über den Ball.

Sie haben sowas schönes noch nie gesehen.

Da hören sie ein Kind weinen, jenseits der Mauer. Sie laufen zum Gitter. Da steht ein Fräulein und hat ein kleines Mädchen im Arm.

»Sieh, die armen Kinder!« sagt das Fräulein. Und sie reichen ihr den Ball durch das Gitter. »Sag danke!«

»Tante!« sagt das Mädel und dann gehen sie weg.

Sie war ganz in Weiß gekleidet, in einen feinen Stoff mit einem roten Schal und roten Schühchen. Sie ist noch schöner, wie der Ball.

Wer war das? denken die Kinder. Wir sind grau.

Ja, sie wußten es noch nicht damals, wer das war.

Es war der Reichtum. Das Geld.

Eines Tages kommt der Kellner mit der Frau, die ihn abholen.

Er spielte gerade im Sand. Er war der Dreckigste. Mit Begeisterung spielte er. »Den nehm ich«, sagte der Kellner.

Es war ein kinderloses Ehepaar. Er bekam viele Geschenke und Spielsachen. Aber er weinte nach seinen Kameraden. Er hatte Sehnsucht nach dem Waisenhaus.

Eines Tages hörte er, wie die Frau sagt: »Tu mir nicht weh!« Er stand im Gitterbett, es wurde Licht gemacht. Sie lagen nebeneinander. Dann schlief er ein und träumte von einem Engel, der sagt: »Tu mir nicht weh!«

Am nächsten Tage bekam er eine Kammer nebenan wurde sein Bett gestellt. Er schlief das erste Mal in seinem Leben allein. Er hatte Angst vor dem Zimmer und klopfte nebenan. Er darf bei den Eltern schlafen, es ist schön.

Die Zeit verging, er lernte lesen und schreiben. Und lernte den lieben Gott kennen. Die Kirche. Er fragte die Eltern, warum geht ihr nicht in die Kirche? Wir gehen schon, sagt die Mutter. Und der Vater: das ist nur was für Kinder, Erwachsene brauchen das nicht.

Er erzählt das in der Schule dem Katecheten. Der geht zum Kellner. Der Kellner sagt, er hört ihn: seit dem Krieg kenne ich keine Kirche mehr. Warum seit dem Krieg?

Die schlechte Zeit.

Die Eltern nebenan. Er: Ich wollt ihn nicht. Sie: Ja, es war ein Blödsinn. Jetzt seh ichs ein. – Aha, sie wollen ihn nicht. Und zum ersten Mal trauerte er, wer will ihn denn? Wer sind seine Eltern?

Es war einmal ein Soldat. Er war ein Kind seiner Zeit.

Er kannte seine Eltern nicht, ja, er wußte es gar nicht genau, wann er eigentlich geboren worden war, er war nämlich ein Findelkind. Er wußte nur, wann er gefunden worden war. Das ist noch im Weltkrieg geschehen, aber schon ganz am Schluß, wo die Landkarten bereits begannen, sich zu verändern, neue Linien, neue Farben – kurz: wo sich die alten Berge und Felsen neue Kleider anzogen, wo die einen bereits wußten, wir haben gewonnen, und die anderen wußten, wir Sieger sind besiegt. Da gingen die Besiegten nach Haus, verjagten ihre Könige und die Sieger jubelten den ihren zu. Es hätt auch umgekehrt kommen können, aber das war nicht wahrscheinlich gewesen.

Eine Bäuerin fand ihn vor ihrer Türe. Er lag in einer alten Decke und ein Zettel lag auf ihm: »Der liebe Gott beschütze Dich!« Das war alles. Der Schnee fiel lautlos in großen Flocken und man konnte nicht sehen, wer ihn dahingelegt hatte. Es waren alle Spuren verweht.

Nur eine Spur war zu erkennen, er war ein Kind armer Leut.

Es gibt gute Zeiten und fette Jahre, aber als unser Soldat geboren wurde, waren die Jahre mager und die Zeiten bös.

Heute sinds schon zwanzig Jahre her.

Jaja, unser Soldat ist ein sogenanntes Kriegskind. Er kann sich an den Krieg nicht mehr erinnern.

Der Onkel, bei dem er aufwuchs, war ein eingefleischter Junggeselle. Er liebte die kleinen Kinder und konnte die Weiber nicht ausstehen. Auch er ist im Kriege gewesen, aber er hatte unwahrscheinliches Glück. Dreimal wurde er verschüttet, zweimal verwundet, aber man merkts ihm kaum an. Nur manchmal zuckt er ein bißchen.

Wegen dieses Zuckens gabs schon viel Krach, besonders als unser Soldat seinerzeit in die Flegeljahre gekommen war. Da mußte er nämlich immer lachen, wenn der Onkel zuckte, und wenn er lachte, bekam er eine Ohrfeige und dann weinte er, und dann hörte der Onkel auf zu zucken. Aber einmal weinte er nicht und darüber regte sich der Onkel so auf, daß er ganz furchtbar zu zucken begann. Man mußte den Arzt rufen und der Soldat kam aus dem Haus. Von dieser Zeit ab wollte der Onkel nichts mehr von ihm wissen.

Er kam in die Lehre. Zu einem braven Buchdrucker.

Ob der Onkel ein Sonderling war? Wer weiß!


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