Edmund Josef von Horváth
Ein Kind unserer Zeit
Edmund Josef von Horváth

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Das verwunschene Schloß

Es ist Sonntag und wir haben frei. Von zwei Uhr Nachmittag, von vierzehn bis zweiundzwanzig Uhr. Nur die Bereitschaft bleibt zurück.

Gestern bekam ich meinen zweiten Stern und heute werde ich zum ersten Mal mit zwei Sternen am Kragen ausgehen. Der Frühling ist nah, aber er ist noch nicht da. Doch es weht eine laue Luft und nachts konzertieren die Katzen. Die Straßen der Stadt sind leer, jetzt essen die Leute oder schlafen.

Ich gehe mit drei Kameraden. Wir haben weiße Handschuhe an.

Wohin?

Zuerst gehen wir in ein Café und trinken einen Kaffee. Wir lesen die Zeitung und die Illustrierten. Dann sagt der eine: gehen wir doch auf die Wiese! Die Wiese ist ein Rummelplatz mit Karussels, Ausrufern, in der Straße. Sie ist sehr lang und wird immer breiter. Da stehen Karussels und Schießbuden und kleine dressierte Affen und große Affen und Hunde spielen Theater und Wahrsagerinnen und Abnormitäten. Und ein Hippodrom ist da und Tanzpaläste. Und ganz unten steht das verwunschene Schloß. Wir wissen nicht, was wir tun sollen und schießen. Wir treffen ins Schwarze und das Fräulein, das unsere Gewehre lädt und einkassiert, lächelt uns respektvoll und einladend an.

Meine Kammeraden lernen zwei Mädchen kennen beim Tanzen, aber mir gefallen sie nicht. Denn ich bin anspruchsvoll. Sie sind mir nicht hübsch genug. Ich will aber meinen Kameraden nicht im Wege stehen und trenne mich von ihnen. Ich gehe ins Hippodrom. Dort reiten schöne Mädchen. Man sieht die Stelle zwischen Strumpf und Rock. Ich habe diese Stelle an den Mädchen sehr gerne.

Überhaupt glaube ich, daß diese Stelle jeder Mann gerne hat. Ja, es wären schon zwei hübsche Mädchen da, aber sie sind für mich nichts. So viel Geld hab ich nicht, denn die müßt man einladen usw. Ich gehe also weg. Auf die zwei Sterne geben die nichts, sie haben schöne Schuhe an und die eine hat ein goldenes Armband. Da steh ich jetzt mit den weißen Handschuhen. Traurig etwas geh ich die Straße weiter und wandel zwischen den Abnormitäten.

Es ist Frühling und es dämmert, die Lichter entflammen rot und gelb und blau. Die Musik tönt aus den Buden und ich schreite einher. Die Luft ist lau. Und ich denke plötzlich, daß diese Männer mit den Mädchen auch zu meinem Volke gehören – natürlich! Und auch dafür hab ich geschworen zu fallen – und die Abnormitäten gehören auch zum Volk, nein, ich will nicht weiter denken! Durch das Denken kommt man auf ungesunde Gedanken. Das sind alles Probleme, die Reichen, die Weiber und die Abnormitäten, durch die man nicht hindurch sieht. Wir einfachen Sterblichen nicht, aber der Führer wirds schon richtig machen.

Ihm gehört meine ganze Liebe und nicht den Weibern. Überhaupt kommts auf die Weiber nicht an. Sie befinden sich dem Krieger gegenüber nur in einer Hilfsstellung.

Aber es wär doch schön eine schöne Frau – und ich denke an die Frauen, die ich hatte. Ich kaufe mir ein Bier und zähle sie zusammen. Wie viele warens denn bisher? Nicht viel, nur dreizehn. Davon nur zwei auf länger. Die eine die Frau eines Vertreters, er war ein Liberalist, ein widerlicher. Die zweite – ja, ich hatte noch nicht die richtige.

Aber es muß auch die richtige geben, wo alles selbstverständlich ist, wo die Seele und der Leib zusammenpaßt. Gibt es das überhaupt? Oder gibt es das nur im Märchen? Und wie ich so weiter gehe, komme ich zu dem verwunschenen Schloß, mit seinen Giebeln und Türmen und Basteien. Es hat vergitterte Fenster und die Drachen und Teufel schauen heraus. Ein Lautsprecher gibt einen feinen Walzer von sich, eine alte Musik, und dann wird sie immer unterbrochen durch Gelächter und Gekreisch.

Aber ich kenne das schon. Es ist eine Platte, das Gelächter und das Gekreisch, die Angst und die Freude, sie sind nicht echt. Sie werden verstärkt, um anzulocken, Angst und Freude.

Ein montones Geräusch tönt aus dem Hause. Aha – das sind Maschinen. Die treiben die Laufteppiche, ich kenne das schon. Nein, da geh ich nicht hinein. Das ist zu blöd. Das ist so blöd, daß es nur was ist, wenn man nicht allein ist. Es ist eine Gesellschaftsunterhaltung. Und überhaupt mit den weißen Handschuhen. Da fall ich hin und sie werden schwarz.

Ich will weiter, da blicke ich nach der Kasse, ganz automatisch. Im ersten Augenblick halte ich, dann mache ich noch zwei Schritte weiter. Und halte wieder. Wer sitzt dort an der Kasse? Sie sitzt regungslos, es ist eine Frau, eine junge Frau. Sie sitzt so starr, als war sie eine Wachsfigur. Sie ist auch so wächsern – oder ist es nur das Licht? – nein, doch nicht. Sie hat große Augen, aber die seh ich nicht gleich. Ich sehe zuerst ihren Mund. Aber was red ich da? Ich weiß es nicht, was ich zuerst sah! Ich weiß nur, daß ich plötzlich stehen blieb, als war ich plötzlich vor einer Wand gestanden, vor einem Hindernis, aber dann bin ich durch, ich wollte weiter, und bin gestolpert, und bin wieder stehen geblieben.

Sie sah mich an. Es war ein ernster Blick, fast traurig. Und ich sah sie an. Und aus dem Lautsprecher tönte der leise Walzer und dann kam ein Schrei.

Jetzt sah sie weg. Sie nahm ihren Bleistift und schrieb.

Aber ich wußte es, daß sie nichts schrieb. Sie tat nur so, sie wollte mich nicht mehr sehen.

Ich ging weiter. Dort war ein Stand und ich kaufte mir Eis. Aber ich mag gar kein Eis. Warum kaufte ich es mir?

Da stand ich und schleckte das Eis. Ich sah hinüber aufs verwunschene Schloß. Sie sah mich an und lächelte und schrieb wieder weiter. Nein, sie schrieb nicht, sie zeichnete. Ich beobachtete sie. Sie hatte ein schönes Profil und es fiel mir auf, wie zart daß sie aussah. Sie sah so fein aus und prüde und doch ist sie eine Sau, ging es mir durch den Sinn.

Als ich das Eis fertig hatte, konnte ich noch immer nicht fort. »Noch ein Eis?« fragte mich die Verkäuferin. »Ja«, sagte ich. Und dann hatte ich wieder eines in der Hand. Ich sah, daß sie lächelte.

Warum lächelt sie? Weil ich da steh und das Eis schleck? Ich wollte das Eis auf die Erde hauen, da tauchte ein Offizier aus der Finsternis auf. Ich salutierte. Einem Offizier muß man salutieren. Das Eis hielt ich in der Hand. Jetzt lachte sie, aber ich hörte keinen Ton. Die Jahrmarktsmusik übertönte es. Ich sah es nur. Sie hatte schöne Zähne und es fiel mir auf, daß sie einen schönen Busen hatte, er stand so schön ab.

Ich muß sie sprechen, dachte ich. Und ich werde jetzt einfach ins verwunschene Schloß gehen, denn ich weiß es nicht, will sie mich haben oder nicht? Mag sie mich oder nicht?

Ich trat an die Kasse und sagte: »Ein Billet«. »Für Militär«, sagte sie ganz sachlich und sie fügte hinzu: »Sie haben Glück, denn ich wollte gerade zusperren.« »Schon?« sagte ich. »Es ist doch noch früh und alles ist voller Leut!«

»Ja, das schon«, sagte sie, »aber es kommt doch niemand. Die Geschäfte gehen schlecht.«

»Bei dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung?« fragte ich.

»Das tut nichts zur Sache«, sagte sie. »Das verwunschene Schloß ist unmodern.«

»Dann fangens doch was anders an!«

»Um etwas anderes anzufangen, dazu braucht man Geld«, sagte sie und gab mir die Karte.

Ich ging hinein. Ein Skelett salutierte. Dann kam ein Antrieb. »Au!« schrie ich und verstauchte mir meinen Fuß.

Sie kam.

»Um Gotteswillen!« sagte sie. »Sagen Sie nur niemand, daß Sie sich hier bei uns den Fuß verstaucht haben! Sonst kommt noch die Polizei! Und das ist kaputt, stimmt! Und ich bin schuld! Aber Sie werden ja sowieso umsonst behandelt!«

»Und die Schmerzen?«

»Die Schmerzen?« Sie sah mich an. »Es hat jeder seine Schmerzen«, sagte sie.

Sie stand neben mir. Ich saß auf dem Boden.

Sie blickte auf mich herab.

Ich umarmte ihre Beine, aber unter dem Rock.

»Was machst du da?« fragte sie.

»Warum sagt sie ›Du‹ zu mir?« dachte ich. Und ich hob ihren Rock. »Das kann ich auch«, sagte sie und hob ihren Rock bis über die Knie. Ich gab ihr einen Kuß oberhalb des Strumpfes und wunderte mich, daß sie sich nicht wehrte.

»Du wunderst dich?« fragte sie plötzlich.

»Wieso?«

»Weil ich mich küssen lasse«, sagte sie.

Ja, ich wundere mich.


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