Edmund Josef von Horváth
Ein Kind unserer Zeit
Edmund Josef von Horváth

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Im Reiche des Liliputaners

In der Nacht hat es geschneit und jetzt ist alles weiß. Ich geh zu meinem verwunschenen Schloß.

Die Stadt ist stiller geworden durch den Schnee, man hört seine eigenen Schritte nicht.

Und wie ich so dahingeh, bemerk ich es wieder, daß ich mich spiegle. In den vornehmen Auslagen.

Jetzt geh ich durch einen Schinken.

Jetzt durch Bücher und dann durch Perlen, Puderquasten – Einst wollt ich das alles zertreten, zertrampeln – wie dumm!

Heut möcht ich den Schinken fressen, die Bücher lesen und die Perlen und Puderquasten, die möcht ich jemand schenken –

Aber wem?

Vielleicht dem Fräulein an der Kasse – vielleicht kommt es noch dazu.

Werden sehen!

Eigentlich bist du sehr allein –

Werden sehen, werden sehen!

Ich geh zum Hafen hinab.

Die breite Allee wird immer breiter und lauter.

Ja, hier ist immer Betrieb, Sommer und Winter.

Die schwarzen und gelben Matrosen, sie weichen mir aus, denn ich hab noch die Uniform an.

Mit meinen drei silbernen Sternen –

Wenn diese Exoten wüßten, daß ich nichts mehr bin!

Rechts und links beginnen die Sehenswürdigkeiten – die großen und kleinen Affen, sie frieren im Chor. Schießbuden und Spielautomaten, das Schaf mit den fünf Füßen und das Kalb mit den zwei Köpfen – nichts ist geschlossen, trotz der eisigen Luft, die über das Meer gekommen war.

Es ist alles noch da.

Auf der Achterbahn quietschen die Leut und aus dem Hippodrom treten zwei Weiber, eine Größere und eine Kleinere. Sie sind geritten und richten sich noch immer die Röcke. Ja, die könnten mir beide gefallen, aber sie haben schon einen Kavalier.

Ein kleines Männchen, eine elende Ratte.

Es hat sich nichts verändert.

Es ist alles beim alten geblieben, nur daß inzwischen Schnee gefallen ist.

Auch jene Ratte ist mein Volksgenosse und auch für diesen Mist gab ich meinen Arm –

Ich muß grinsen, denn heut weiß ichs, daß, wenn ich was zu sagen hätte, daß ich dann dieser Ratte meinen Arm um den Schädel schlagen würde. Bis sie verreckt.

Rascher wandle ich die Buden entlang, denn mein verwunschenes Schloß kommt ja erst ganz am Schluß.

Rechts gibts den Mann mit dem Löwenkopf und links die Dame mit dem Bart.

Und dort – richtig, dort steht er noch immer, mein Eismann! Dort kauft ich mir einst die beiden Portionen, obwohl ich kein Eis mag.

Aber heut ist es Winter geworden und er verkauft kein Eis mehr, sondern gebrannte Mandeln.

Ich würd mir auch keine gebrannten Mandeln kaufen, obwohl ich die sehr gern hab – nein, heut geh ich direkt auf sie zu!

Paß nur auf, jetzt komme ich!

Doch – was ist denn das?!

Ich stocke –

Ich halte an.

Als war plötzlich eine Wand vor mir –

Was ist los?!

Was heißt das?!

Mein verwunschenes Schloß – es ist ja nimmer da!

Es ist verschwunden – weg, ganz weg!

Wo ist es denn hin?!

Hier steht ja jetzt etwas ganz anderes, eine Autohalle oder irgend sowas dergleichen –

Und meine Linie – meine schöne Linie?

An der Kasse sitzt ein anderes Fräulein.

Ich schau noch immer hin.

Und einen Augenblick lang wirds mir so weh um das Herz, als hätte ich etwas verloren, das ich niemals besessen hab. Der Schnee fällt immer stiller, und es geht eine Sehnsucht durch meine Seele –

Ja, es war mal ein Frühling, aber ich mußte weg.

Das Vaterland rief und nahm auf das Privatleben seiner Kinder mit Recht keine Rücksicht.

Mit Recht?

Der Wind weht, kalt und naß, die Katzen konzertieren nicht mehr und ich spür meinen kaputten Arm, er wird nimmer ganz –

Wo ist mein Fräulein geblieben?

Ich geh weiter und stolpere.

Über was?

Über nichts. Es ist ja nichts da.

Aber nun lächelt das andere Fräulein, weil ich gestolpert bin. Sie hat es gesehen. Sie lächelt noch immer und schaut mich an.

Schau mich nur an, du gefällst mir nicht!

Ich will weg, aber ich komme nicht weit. Nur über die Straße. Dort steht mein Eismann und ich kauf mir gebrannte Mandeln.

Sie sind sehr gut.

Ich blicke auf die Autohalle, wo die Menschen in kleinen Autos herumfahren, immer im Kreise, immer einer allein, und ich frage den Eismann: »Hier stand doch einst das verwunschene Schloß, nicht?«

»Ja«, sagt er, »das war einmal.«

»Und warum gibts das jetzt nimmer?«

»Es hat sich nicht mehr rentiert.«

Ach so –

»Es war zu altmodisch«, höre ich den Eismann, »es paßte nicht mehr in unsere Zeit.«

Ich horche auf.

Wie sagte er? Nicht in die Zeit?

Wo hab ich das nur schon mal gehört –

Richtig, der Hauptmann! Der schrieb es in seinem Briefe!

Dort las ichs zum erstenmal, schwarz auf weiß: ich passe nicht mehr in diese Zeit –

Was soll das eigentlich heißen?

Warum paßt denn mein verwunschenes Schloß nicht mehr in unsere Zeit? Paßt denn diese Autohalle besser hinein?

Diese blöde Autohalle, wo ein jeder wie der andere für sich allein herumfährt und sich einbilden darf, daß er in seinem eigenen Auto fahren kann, wohin er will –

Derweil gehts immer im Kreis.

Es ist zu dumm!

Da waren doch meine Drachen und Teufel ganz andere Leut!

Und erst das Skelett persönlich – ich erinner mich noch genau.

Und die allgemeine Finsternis, in der man das Gruseln lernen sollte, wenn man immer wieder mit einem Fuß ins Nichts getreten ist – weißgott, das hat mir besser gefallen, obwohls natürlich auch nur eine Dummheit gewesen ist.

Aber es war eine schönere Dummheit.

Oder: paß ich denn auch nicht mehr in die Zeit? Unsinn!

Ich bin da und kann nirgends heraus, ich laß mir da nichts dreinreden! Natürlich paß ich in meine Zeit, nur in diese jämmerlichen Autos paß ich nicht hinein!

Ich mag nicht immer im Kreis herumfahren, ich bin ja nicht blöd!

Genug gegrübelt – Schluß!

Ich hau die gebrannten Mandeln auf die Erde, daß es nur so klatscht, und geh hinüber. Schnurgerade. Zur Autohalle.

»Eine Eintrittskarte?« fragt das Fräulein an der Kasse. »Nein«, sage ich, »ich möchte nur eine Auskunft haben.«

»Bitte?«

»Hier stand doch einst etwas anderes« –

»Jawohl«, fällt sie mir ins Wort, »das verwunschene Schloß, mein Herr.«

»Stimmt. Und damals saß doch hier ein Fräulein an der Kasse, ein anderes Fräulein, wie soll ich sie Ihnen nur beschreiben« –

»Ich weiß schon«, unterbricht sie mich wieder, »aber jenes Fräulein ist jetzt nicht mehr bei uns.«

»Sondern?«

»Darüber kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben, ich hab auch keine Ahnung. Doch bemühen Sie sich bitte ins Bureau, sehen Sie drüben die weiße Wand und die schwarze Tür – die werdens wahrscheinlich wissen, wo das Fräulein jetzt steckt.«

Ich bedanke mich und geh auf die weiße Wand zu.

An der Türe steht: Nicht klopfen!

Ich klopf also nicht, sondern trete gleich ein, aber eine schrille Stimme kreischt mich an:

»Können Sie nicht klopfen?!«

Ich wollt schon grob erwidern, da seh ich, wer vor mir steht.

Es ist ein Zwerg, ein Liliputaner.

Er hat ein verkniffenes boshaftes Gesicht. Kein Wunder, er ärgert sich halt immer, daß er so klein geblieben ist. Er scheint gerade auf und ab gegangen zu sein, der Liliputaner, und er hielt inne, da ich eintrat. Ich bemerke erst jetzt einen zweiten Menschen – der steht vor einem Pult und schreibt in dicken Büchern, eine Art Buchhalter oder so. Er betrachtet mich über seine Brille hinweg. Der Zwerg winkt ihm mit einer herrischen Geste, dreht mir ostentativ den Rücken und blättert wichtigtuerisch in Papieren. »Sie wünschen?« erkundigt sich der Buchhalter.

Ich frage nach dem Fräulein, aber ich komme nicht weit –

Mit einem Ruck dreht sich der Zwerg um und sagt: »Ah« –

Er sagt das gedehnt und fixiert mich. Dann grinst er. Und auch der Buchhalter grinst.

Was haben denn die Beiden.

Was soll das?

Der Zwerg mustert mich noch immer und meint dann ironisch: »Also Sie sind derjenige, welcher« –

Welcher? Wieso?

»Sie mußten in den Krieg?« fährt er mit seiner Fragerei fort.

»Ja, das heißt: ich ging als Freiwilliger« –

Der Zwerg unterbricht mich mit einer Handbewegung, als wollte er sagen, lassen wir das, das kennen wir schon, wir sind unter uns –

Er betrachtet mich wieder von oben bis unten und sagt dann zum Buchhalter: »Er ist es.«

Der Buchhalter kichert wie eine alte Jungfer.

Mir wirds zu dumm.

»Wer bin ich?« frag ich fast drohend.

»Sie sind ein Soldat, mein Herr«, antwortet der Liliputaner mit einer spöttischen Höflichkeit, »und das Fräulein, nach dem Sie sich erkundigen, das hatte sich nämlich in einen Herrn Soldaten verliebt, anscheinend gleich so auf den ersten Blick, sie soll ihn kaum gekannt haben, wahrscheinlich nur so vom sehen aus – na und dann ist halt eines Tages jener Herr Soldat nicht mehr erschienen.«

Ich starre ihn an.

»Sie hat geschrieben?«

»In einer Tour, aber er hat nicht geantwortet. Nicht eine Zeile, mein Herr« –

Der Buchhalter kichert noch immer. Schadenfroh, sehr schadenfroh.

»In einem Krieg gehen eben oft viele Briefe verloren«, meint der Zwerg und lacht kurz.

Mir wirds ganz wirr im Kopf.

Sie hat mir geschrieben?

Gleich auf den ersten Blick?

Woher wußte sie denn meinen Namen, wer ich bin und dergleichen –

Wahrscheinlich nur so vom sehen aus?

Ausgeschlossen! Ausgeschlossen –

Und ich sage: »Meine Herren, hier scheint eine Verwechslung vorzuliegen« –

»Kaum!« fällt mir der Zwerg ins Wort.

»Aber das ist doch unmöglich« –

»Es ist alles möglich!«

»Nein, das kann ich nicht glauben, das kann nicht sein!«

»Moment, mein Herr!« unterbricht mich wieder der Zwerg. »Wir sind hier kein Auskunftsbureau und haben zu arbeiten. Bitte, überzeugen Sie sich selbst, der Herr Buchhalter wird Ihnen die Adresse der Dame geben« –

Er verbeugt sich knapp und geht durch eine Tapetentür.

Ich schau ihm nach und der Buchhalter blättert in einer Kartothek.

»Wer war denn dieser kleine Herr?« frage ich automatisch. »Der Direktor unserer Liliputanertruppe.«

Aha.

Ich warte auf die Adresse.

Und auf ihren Namen.

Wie wird sie wohl heißen?

Eulalia?

Ich muß grinsen.

Nein, das kann ich wirklich nicht glauben, daß ich es bin, dem sie geschrieben hat – sie wird einem anderen Soldaten geschrieben haben, aber ich werde der Sache mal nachgehen, obwohls doch nur eine einfache Verwechslung sein kann.

Mir wars ja schon im Frühjahr klar, daß sie bereits einen haben mußte, irgendeinen Budenkönig.

Ich dachte an einen Seiltänzer, Messerschlucker, dummen August – aber ein Soldat, das fiel mir nicht ein.

Eher noch ein Liliputaner – sofern er nämlich nach Geld stinkt.

Doch jetzt will ich, wie gesagt, der Sache nachgehen, denn wenn ich mich nicht verwechsle, dann wärs allerdings ein Traum.

Der Buchhalter blättert noch immer und ich schau mich in seinem Bureau um.

An den Wänden hängen Plakate, Zirkus und so. Eine Dompteuse zum Beispiel. Mit bengalischen Königstigern.

Ein Balance-Akt und ein Magier.

Ein brauner und ein weißer Bär.

Und die dickste Dame der Welt.

Nein, die war nichts für meinen Arm –

»Hier«, höre ich plötzlich den Buchhalter, »jetzt haben wir sie endlich, diese verflixte Adresse – einen Augenblick, ich schreib sie Ihnen nur auf!«

»Danke vielmals« –

»Keine Ursache!«

Er nimmt seine Brille ab, setzt sich eine schärfere auf, und während er die Adresse meines Fräuleins auf einen Zettel schreibt, meint er so nebenbei: »Das war ein braves Fräulein, ein freundliches. Sie tat mir sehr leid« –

»Warum?«

Er lächelt sonderbar. »Sie wurde eben krank und da hat man sie entlassen.«

»Krank?!«

»Jaja, ziemlich« – er kichert wieder und es wird mir unangenehm.

»Was hat ihr denn gefehlt?«

»Mein Gott«, sagt er, »nichts besonderes« –

Jetzt hat er meinen Zettel fertig, er erhebt sich, nimmt die Brille ab und wendet sich mir zu –

Er stockt und glotzt mich mit seinen wässerigen Augen entsetzt an.

Oder ist er nur kurzsichtig?

Nein, er hat Angst.

Warum?

Ich lasse ihn nicht aus den Augen.

Langsam reicht er mir den Zettel, fast zögernd, als fürchte er sich, mir den Zettel zu geben –

»Hier«, sagt er und seine Stimme klingt plötzlich anders, hohl, wie aus einer Gruft.

Ich nehm ihm den Zettel ab und lese das erste Wort: Anna –


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