Edmund Josef von Horváth
Ein Kind unserer Zeit
Edmund Josef von Horváth

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Anna, die Soldatenbraut

Gott hat mit jedem einzelnen etwas vor, sagte meine dicke Schwester und ich glaube allmählich, sie hatte recht.

Denn ich trag keine Schuld an dem, was vor einer Stund geschah, es mußte so sein.

Wenn ichs mir jetzt überlege, wieso es dazu gekommen ist, dann flimmert der Schnee vor meinen Augen, als hätt ich noch Fieber.

Es steht ein Engel in der Nacht und hält meinen Arm in seiner Hand, meinen armen Knochen, den ich diesem Vaterland gab, das seine Ehre verlor und zwar für immer –

Ja, der Hauptmann hatte recht!

Jetzt ekelts auch mich vor meinem Vaterland. –

Die Kirchturmuhr schlug Mitternacht, als ich langsam über den leeren Platz ging, quer hinüber zur Stadt Paris. Als ich eintrat, atmete mein Vater sichtbar auf. »Menschenskind, wo warst denn so lang?!« erkundigte er sich überstürzt. »Ich hab schon die größten Sorgen gehabt, ob dir nicht vielleicht etwas zugestoßen ist, es werden ja täglich mehr Leut überfahren!«

Ich beruhigte ihn – zufällig hätte ich einen Freund getroffen und dieser Freund, der hätt mich ins Kino eingeladen und hinterher auf ein Glas Bier.

Das war natürlich gelogen, aber mein Vater glaubte es mir.

»Hoffentlich hast du schon gegessen«, sagte er, »denn jetzt ist die Küche schon zu« –

»Ich hab keinen Appetit.«

Er sah mich forschend an.

»Du bist doch nicht krank? Paß nur auf mit deiner Verletzung, die ist noch lang nicht in Ordnung – hast du nicht Fieber?«

»Nein.«

»Trau dir nur nicht allzuviel zu! Wart, ich will sehn, ob ich nicht doch noch was Eßbares auftreib, was Kaltes – essen muß der Mensch, sonst geht er vor die Hunde!«

Er verschwand hinter dem Schanktisch, ich zog mir den Mantel aus und setzte mich, wo ich immer saß, gleich neben die Tür.

Es waren nur noch wenig Gäste da, Chauffeure vom nahen Standplatz. Sie würfelten wie immer.

Hier hast du nun viele Wochen gegessen, denke ich, Mittag und Abend, wenn auch zu ermäßigten Preisen, aber auf Kosten deines Vaters.

Er ist ein braver, verlogener Mann.

Es wäre wirklich arg, wenn ich ihm etwas antun würde. Denn ich werd vielleicht nimmer lang auf seine Kosten essen können, vielleicht heute nacht zum letztenmal –

Vielleicht kommt sie schon morgen früh, die Polizei, und holt mich ab.

Unsinn! Woher soll denn das die Polizei wissen?

Wer hats denn gesehen?

Kein Mensch.

Aber die Kriminaler sind raffiniert, ich kann mich noch gut erinnern. Es stehen ihnen alle Apparate und Hilfsmittel zur Verfügung, sie bringen ja das Unglaublichste an den Tag, früher oder später – und vielleicht hats doch wer gesehen, jemand, an den man gar nicht denkt, wär ja auch möglich, daß mich einer genau beobachtet hätt, eine Uniform fällt immer auf, besonders eine mit drei Sternen, mit drei silbernen Sternen –

Mein Vater bringt mir Käse und Brot. Und ein Glas Wein von dem Extratropfen.

Ich schau ihn überrascht an. »Wein?«

»Ausnahmsweise!« lächelt er. »Weil ich mich freu, daß du nicht überfahren worden bist, aber dann auch, damit du dich tröstest – erschrick nur nicht! Du hast nämlich heut abend einen Brief bekommen, meine Wirtin ist so lieb gewesen und hat ihn mir extra hergebracht, sie hat nämlich gleich richtig gedacht, daß es etwas Wichtiges sein muß, weil ich doch niemand kenne, der mir schreiben sollte, und es ist auch etwas Wichtiges, doch leider etwas Trauriges« –

»So red doch schon!«

»Nanana, nur nicht gar so ungeduldig! Ich red ja schon! Also, dieser Brief stammt von deiner Hauptmannswitwe, sie schreibt – da lies es übrigens selbst! Mit der Hilfsdienerstellung ist es Essig, nichts zu wollen, nichts zu machen« –

Ich lese den Brief und leg ihn dann weg.

»In Ordnung«, sage ich und beginne den Käse zu essen.

Mein Vater glotzt mich verwundert an.

»In Ordnung, meinst du? Das war doch der letzte Strohhalm, eine Katastrophe« –

»Es gibt ärgere Katastrophen.«

»Kaum, mein liebes Kind, kaum! Was wollen wir denn jetzt anfangen? Du kannst doch nicht bis in alle Ewigkeit hier an diesem Katzentisch essen, ich persönlich hätt ja nichts dagegen – ich zahls ja gern, aber einmal wirds auch damit Schluß! Vergiß nicht, ich bin ein alter Mann, mich kann jeden Tag der Teufel holen, und du, du bist noch jung – du mußt etwas in Angriff nehmen!«

»Franz!« ruft der eine Chauffeur. »Zahlen!«

Mein Vater geht.

Ich esse ruhig meinen Käse und denke: ja, du mußt etwas in Angriff nehmen –

Der Hilfsdiener – der ist vorbei. Der kommt mir ja fast schon komisch vor. In einem eigenen Zimmer zu wohnen, direkt im Amtsgebäude, mit Aussicht auf einen vornehmen Park, in dem sich der Efeu um die alten Bäume rankt – wie lächerlich!

Ich hab mir einen blauen Anzug auf Raten gekauft und dreimal täglich muß ich zur Post – nein – nein, ich bin nicht zum Hilfsdiener geboren!

Ich bin etwas anderes geworden.

Die Hauptsache ist und bleibt: es kommt nicht auf.

Dann war wirklich alles in Ordnung.

Denn ich hatte ja auch recht mit dem, was ich tat, jawohl: recht!

Ich erinner mich noch genau, wie ekelhaft mir jener Buchhalter war, als ich ihn fragte: »Und was macht sie jetzt, das Fräulein Anna?«

Er zuckte nur die Schultern: »Das wissen die Götter!«

Auf die Götter reden sich alle hinaus, aber an den lieben Gott denkt keiner.

Vor vier Stunden dachte ich noch: ausgeschlossen, daß du es bist, dem sie ihre Briefe schrieb. Woher hätte sie es denn wissen können, wer ich gewesen bin? Sie hätt mir ja seinerzeit heimlich nachschleichen und hätt sich beim Posten in der Kaserne erkundigen müssen, um meinen Namen zu erfahren – nein, das ist ausgeschlossen!

Als ich heut abend den Buchhalter verließ, dachte ich nur: jetzt weißt du es wenigstens, wo sie wohnt.

Sie wohnt sehr weit.

Wenn du zu Fuß gehst, brauchst du gut anderthalb Stunden, aber du sparst dabei das Trambahngeld, es dämmert zwar schon, doch die Nacht ist noch fern.

Rasch ging ich die Buden entlang.

Es gibt Millionen Annas auf der Welt, jede ist anders und keine ist die, die du suchst. Blond oder braun oder schwarz – es wird auch rote Annas geben. Dicke und dünne, lange und kurze, ältere und jüngere.

Wieviel Annas hast du denn schon gehabt?

Ich glaub, nur zwei, wenn mich nicht alles täuscht –

Von einigen weiß ichs zwar nicht, wie sie geheißen haben, die kannt ich nämlich nur so für die Nacht.

Wie gehts jetzt wohl deinen beiden gewesenen Annas?

Laßt mich in Ruh!

Ob die noch leben, das ist mir egal, jetzt kümmert mich nur eine dritte Anna –

Warum?

Was hast du denn an ihr gefressen?

Vielleicht, weil ich einst um ihretwillen etwas tat, was ich eigentlich nicht tun wollte –

Ich hab ja einst zwei Portionen Eis gefressen.

Spöttel nicht!

Man braucht sich noch lang nicht zu schämen, wenn man sich freut!

Lieben ist keine Schand! –

Rasch ging ich die Straßen entlang.

Die Stadt wurd immer stiller.

Wie kalt einem die Welt werden kann –

Und plötzlich, da flog, ich weiß nicht woher, ein Gedanke in meine Seele hinein – und es wurd mir so licht und warm, daß ich unwillkürlich stehen blieb.

Ich hatte so etwas Schönes noch nie gesehen.

Es war ein Lied, aber ich konnte die Worte nicht verstehen.

Wer singt denn in meiner Nacht?

Ist das mein Fräulein?

Still, jetzt will sie mir etwas sagen –

»Hör mich an«, sagt sie, »als ich dich damals vor unserem verwunschenen Schlosse sah, dachte ich, du würdest mich wiedererkennen« –

Wiedererkennen?

»Erinner dich, erinner dich – du und ich, wir waren uns ja schon bekannt« –

Schon bekannt?

»Von früher her, von früher – und ich hoffte immer, du würdest wieder zu mir kommen, aber du hast dir nur eine Eintrittskarte gekauft und hast dein Fräulein nimmer gekannt« –

Wer bist du?

»Später, später – damals sagt ich natürlich kein Wort, sondern zeichnete nur meine Linien, denn jeder Mensch hat seinen Stolz« –

Seinen Stolz?

»Kein Wort, kein Wort – geh nur zu, ich wart schon lange auf dich« –

Du wartest?

Ich schau mich um.

Der Wind weht, und der Schnee tanzt.

»Komm nur, komm – du hast nimmer weit.

Siehst du das gelbe Haus vor dir? Dort wohne ich, dort wohne ich« –

Ja, hier wohnst du. Ich bin am Ziel.

Auf dem Zettel steht im dritten Stock.

Hinter welchem Fenster?

Ich weiß es noch nicht –

Im Haustor treff ich die Hausmeisterin. Sie scheuert den Boden. Ich grüße und frage, ob hier das Fräulein wohnt. Sie glotzt mich an und sagt kein Wort.

Auf einmal schreit sie: »Jesus Maria! Sie sinds?!

Jetzt erkenn ich Sie erst wieder, ich dachte, Sie wären schon tot!«

Was? Ich?!

Tot?!

»Ich dachte, Sie wären im Krieg geblieben«, sagt sie und erhebt sich vom Boden. »Das arme Fräulein hat ja so lang auf einen Brief von Ihnen gewartet« –

Ich starre sie an.

»Sie kennen mich?«

Sie betrachtet mich langsam von oben bis unten. Dann lächelt sie hinterlistig: »Nein–nein, ich will nichts gesagt haben« –

»Wer bin ich denn?«

»Das wird der Herr wohl selber wissen. Auf alle Fälle ist es schön von Ihnen, daß Sie doch noch gekommen sind« – Sie stockt im Satz und verstummt.

Mir wirds immer wirrer im Kopf, unschlüssig blick ich ins Treppenhaus – und auf einmal kommts mir hier so bekannt vor, als hätt ich dieses Treppenhaus schon einmal geträumt. Richtig, hier kennst du ja alles! Rechts gehen die Stufen empor und links um die Ecke wohnt diese Hausmeisterin und droben gibts einen dunklen Gang mit drei Türen in jedem Stock –

Es wird mir unheimlich.

Wo bin ich da?

»Das Fräulein wohnt jetzt zwar nicht mehr hier«, höre ich die Stimme der Hausmeisterin, »sie ist schon vor einem halben Jahr ausgezogen.«

»Wohin?«

Sie lächelt wieder tückisch. »Gehens nur in den dritten Stock hinauf, die Frau, bei der sie gewohnt hat, die wirds Ihnen schon sagen, wo Sie sie besuchen können – das ärmste Fräulein wird ja eine Riesenfreud haben, wenn Sie wieder auftauchen unter den Lebendigen, besonders nach dem vielen Unglück, das sie hat erdulden müssen« –

»Unglück?«

»Nun ja, einfach wars gerade nicht« –

»Was war nicht einfach?«

Sie schweigt und grinst.

Ich lasse nicht locker.

»So redens doch, ich hab ja keine Ahnung!«

Sie fixiert mich frech und beginnt zu lachen.

»Natürlich – natürlich, die Herren der Schöpfung sind immer absolut unschuldig und haben keine Ahnung, als könntens nicht bis drei zählen, auch mein lieber Herr Mann« –

»Hören Sie«, unterbrech ich sie grob, »was schwätzen Sie da für dummes Zeug?!«

Sie zuckt die Schultern.

»Denkens nur nach, junger Herr, Sie werdens schon erraten« –

»Ich kann nichts erraten!«

»Und ich sag kein Wort mehr, kein Sterbenswort – werd mich hüten! Mit der Sache will ich nichts zu tun haben! Gehens halt hin zu ihr selbst, persönlich, sie wird Ihr Gedächtnis schon auffrischen! Gute Nacht!«

Sie läßt mich stehen und wendet sich wieder ihrem Boden zu.

Sie scheuert ihn verbissen.

Ich schau ihr noch ein Weilchen zu, dann geh ich in den dritten Stock hinauf.

Zu der Frau, von der mein Fräulein fortzog.

Wohin denn nur?

Diese Hausmeisterin ist eine bissige Bestie –

Es gibt gottlob nicht nur solche, ich kenn auch sehr annehmbare.

Überhaupt gibts zweierlei Menschen.

Aber nur ein Fräulein –

Es ist wahr, dieses Treppenhaus kommt mir wirklich bekannt vor.

Warte nur, bald kennst du dich aus –

Jetzt bin ich im dritten Stock.

Ich läute an der zweiten Tür, wies auf dem Zettel steht.

Eine Dame öffnet ängstlich und ich sehs auf den ersten Blick, daß sie nicht alt werden kann. Ihre Haare sind grau, aber schwarz wie Pech, und sie trägt einen grellen Bademantel – ein altes Stück.

Mißtrauisch mustert sie mich, ich merks ihr an, daß sie ihre Tür zuschlagen würde, wenn ich keine Uniform anhätte.

Aber zur Uniform haben die Leute Vertrauen.

»Sie wünschen?« erkundigt sie sich.

Sie lispelt stark.

»Verzeihen Sie, daß ich noch so spät am Abend störe, ich möchte nämlich nur eine Auskunft haben« – und ich sage es ihr, daß ich das Fräulein suche.

Sie mustert mich immer mißtrauischer.

»Wen sucht der Herr?«

Ich verbeuge mich.

»Verzeihen Sie, aber diese Hausmeisterin schickt mich zu Ihnen herauf, sie redet so wirres Zeug durcheinander, daß ichs schon selbst nicht mehr weiß, wer ich bin« –

»Darf man fragen«, fällt sie mir ins Wort, »in welchem Verhältnis der Herr zu dem Fräulein steht – ich meine: sind Sie mit ihr verwandt?«

Ich lächle verbindlich.

»Die Frau Hausmeisterin meint, ich war des Fräuleins Bräutigam« –

»Aber – aber!« unterbricht sie mich entrüstet. »Diese unmögliche Person schwätzt wahrlich lauter ungereimtes Zeug, dabei verwechselt sie auch noch alle Leut, mir scheint, die Person ist nicht ganz normal – Sie, mein Herr, sind doch hier kein Bräutigam, der richtige Bräutigam war zwar auch ein Herr vom Militär, aber für diese idiotische Person da drunten ist Uniform eben Uniform und außerdem kann sie ja auch den richtigen Bräutigam nur einmal gesehen haben, flüchtig, denn er war nur ein einziges Mal hier – ach jaja, Glück währt nur kurze Zeit!«

So, denke ich, also du bist nicht der, dem sie ihre Briefe schrieb – es war ein anderer Soldat. »Hm«, sag ich nur und eigentümlicherweise ists mir jetzt völlig gleichgültig, ob es ein anderer war oder ich – als wüßt ichs bereits, daß die Hauptsache erst kommt.

»Sie waren auch im Krieg?« fragt mich die Alte interessiert.

»Ja, das heißt: als Freiwilliger« –

Jetzt macht sie eine Handbewegung wie zuvor der Liliputaner. Ja, das kennen wir schon, lassen wir das, wir sind unter uns –

Dann fordert sie mich auf, in ihre Wohnung einzutreten, denn »man könne sich doch nicht mit einem Helden in einem kalten Treppenhaus unterhalten«.

Sie führt mich in ihr Zimmer. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie in mein Schlafgemach führe, aber das ist der einzige Raum, den ich heize, obwohl wir ja allerhand erobert haben« –

Sie tut ironisch und ich tu nichts dagegen.

Ja, wir haben gesiegt!

»Ob wir allerdings die Früchte unserer Siege noch ernten werden«, parliert sie mit mir, »glaub ich kaum. Ich fürchte – fürchte, daß zumindest meine Wenigkeit jene prophezeiten Segnungen nicht mehr erleben wird, man ist ja schon steinalt« –

»Aber gnädige Frau!«

»Nanana!« droht sie mir mit dem Zeigefinger.

»Sie sind mir einer!«

»Ich sag nur die Wahrheit«, lüge ich.

»Das ist sehr lobenswert, doch zumeist kein ungefährliches Unterfangen – Schauen Sie, das alles war einst ich!«

Sie deutet auf ihre vier Wände, die sind übersät mit Photographien.

Ich erkenne verschwommen eine junge Frau in weißem Trikot.

Das war einst mein Gegenüber?

Sie nimmt ein Bild von der Wand. »Ich und mein Bruder.«

Eine Artistin?

Trapez und Ringe und Scheinwerfer –

»Mein guter Bruder, er blieb im großen Krieg. Jaja, wir zwei, wir waren mal eine große Nummer – gesucht, sehr gesucht! Ich bin damals noch ein Kind gewesen.«

Ein Kind?

Also das ist übertrieben.

Nein, mit einem solchen Busen warst du sicher schon achtzehn. Und ich rechne rasch nach, wie alt dies Kind heutzutag sein muß.

»Das waren noch Zeiten!« seufzt sie. »Aber heutzutag? Was leisten schon diese neumodischen Artisten? Alles Bluff! Eine hübsche Larve, das genügt! – doch ich rede und rede da von mir und meinen privaten Interessensphären und wir kommen dabei ganz ab vom Zweck Ihres Besuches! Sie wollten sich doch nach dem armen Fräulein Anna erkundigen? Nun, verzeihen Sie meine Indiskretion, aber ich möchte es natürlich aus diversen Beweggründen heraus gerne wissen, warum, das heißt: wieso, mit welchem Recht Sie das interessiert? Sind Sie mit dem Fräulein verwandt?«

Ich? Was soll ich nur sagen?

Irgendwie muß ich zu ihr gehören, sonst wär ich ja jetzt nicht da – aber verwandt?

Nicht daß ichs wüßte –

Ich möchte grinsen, aber das alte Kind beobachtet mich scharf, fast lauernd. Und ich sage ohne mit der Wimper zu zucken: »Ich bin ihr Bruder.«

»Ihr Bruder?!«

»Ja.«

»Nicht möglich!«

»Warum nicht?«

Sie gibt keine Antwort vor lauter Überraschung. Wir schweigen.

»Also Sie sind der Bruder«, fängt sie endlich wieder an, »und Sie haben sich nicht um Ihre Schwester gekümmert« –

»Ich hatte keine Zeit.«

»Ausreden! Nichts als Ausreden! Für einen Menschen muß man immer Zeit haben – der Mensch kommt an erster Stelle und dann kommt erst alles andere!«

»Möglich« –

»Sicher! Wo kämen wir denn sonst hin?«

Ja, wohin?

So frag ich mich und der Nebel wird immer gelber –

Dick und schmutzig, so senkt er sich auf meine Seele.

Es wächst ein Baum, ein toter Baum.

Am Rande eines hohen Plateaus.

Um uns gähnen Abgründe und drunten rauschen die Wasser –

Wir haben fünf Menschen gefangen, jetzt hängen wir sie an den Baum.

Zuerst den Älteren, dann den Jüngsten.

Denn dem Alter gebührt der Vortritt.

Wir säubern, wir säubern!

Und der Hauptmann reißt einen Stern herunter, einen silbernen Stern –

Hauptmann, Hauptmann, was schreibst du nur in deinem Brief?

»Wir sind keine Soldaten mehr, sondern elende Räuber, feige Mörder. Wir kämpfen nicht ehrlich gegen einen Feind, sondern tückisch und niederträchtig gegen Kinder, Weiber und Verwundete« –

Komisch, ich weiß noch jedes Wort!

Es ist mir geblieben.

Und die Krähen, sie ziehen wieder vorbei und der Hauptmann, er ist von uns gegangen –

Er sah weder rechts noch links.

Jetzt sitzt er auf einem Stein und zeichnet mit seinem Säbel in den Sand. Er will mich nicht sehen.

Was zeichnet er dort?

Linien?

Und wie ich mich so frage, wird der dicke Nebel dünn, der Schmutz weiß, und auf einmal wirds mir klar: Immer, wenn es mir heimlich einfiel, jetzt geschieht etwas Niederträchtiges, dann fiel mir auch sie wieder ein, meine liebe Schwester, dann mußt ich immer denken: eigentlich wollt ich zu dir –

»Wenn der Herr Bruder früher gekommen wären«, höre ich die Stimme meines Gegenübers, »dann wäre vielleicht alles anders gekommen, dieses ganze Unglück.«

»Unglück?«

»Es tut mir sehr leid, daß ausgerechnet ich vom Schicksal dazu ausersehen wurde, es Ihnen mitzuteilen, aber mit dem Schicksal läßt sichs bekanntlich nicht streiten – kurz und gut: es ist eine böse Sache und ist dennoch mit paar Worten erzählt. Ihre arme Schwester hatte eine ganz hübsche Anstellung« –

»Im verwunschenen Schloß« –

»Jawohl, aber eines schönen Tages wurde sie abgebaut« –

»Wegen der Autohalle?«

»Autohalle? Aber nein! Sie wurde fristlos entlassen, weil sie etwas erwartete, etwas Kleines – ein Kind.«

»Ein Kind?!«

»Ja, und unter solch gesegneten Umständen hätte sie ihren Dienst naturnotwendig nicht immer auf die Minute pünktlich versehen können, sie hätte vielleicht mal ab und zu einen halben Tag pausieren müssen und deswegen hat sie die Firma abgebaut. Die Firma hätte es zwar überhaupt nicht gespürt, wenn sie mal ein paar Groschen für eine Aushilfe draufgezahlt hätte, Sie müssen nämlich wissen, daß das eine sehr große Gesellschaft ist, den Leuten gehört dort fast die halbe Allee, jede größere Sehenswürdigkeit, sie konnten sich eben in unseren fortwährenden Krisenzeiten alles zusammenkaufen – aber so sind nun mal diese Leute, die keine Rücksicht auf den einzelnen Menschen nehmen, sie bauen und bauen ab, ob dabei einer unter die Räder kommt, was kümmert sies? Es gibt noch genug, meinen sie, genug, die sichs gefallen lassen und obendrein war doch der Vater des Kindes sogar ein Soldat, ein tapferer Vaterlandsverteidiger, auch solch ein berühmter Freiwilligen!

Ihre arme Schwester, sie hat ihm in einer Tour geschrieben und nie eine Antwort erhalten – wieso denn auch? Eines Tages kamen alle ihre Briefe ungeöffnet zurück mit einem staatlichen Begleitschreiben: Adressat bei einer militärischen Übung tödlich verunglückt. Da war sie natürlich riesig verzweifelt, sie hatte ja nichts, kein Geld, keine Stellung – ja, und da hat sie sich eben leider zu einer Dummheit hinreißen lassen, zu einer unüberlegten Dummheit. Sie ließ sich von irgendeiner obskuren Person das Kind wegnehmen, die Sache kam ans Licht und jetzt, jetzt sitzt sie.«

»Sitzt?«

»Stellen Sie sichs vor: zwei Jahre hat sie bekommen!«

»Zwei Jahre?!«

»Es ist schrecklich« –

Wir schweigen.

Mir fällt der Liliputaner ein.

Er ist der Direktor der Liliputanertruppe –

Sicher ist er auch finanziell an der Firma beteiligt, sonst hätt er sich nicht so herrisch benommen. Er hat ein verkniffenes, boshaftes Gesicht – kein Wunder, er ärgert sich halt immer, daß er so klein geblieben ist. Und seine Wut, die läßt er an den anderen aus.

Er baut ab.

Rücksichtslos.

Man müßt ihm eins auf den Schädel geben –

Einem Zwerg?

Willst du einen Krüppel schlagen?

Warum nicht?

»Vielleicht wär, wie gesagt, alles anders gekommen, wenn der Herr Bruder früher gekommen wär«, schwätzt die Alte weiter. »Ich sags ja immer, es wär vieles besser auf der Welt, wenn sich die Männer mehr um die Weiber kümmerten, anstatt daß sie sich nur um sich selber kümmern. Der liebe Gott hat Adam und Eva erschaffen und nicht Regimenter, Kompanien und Divisionen« – »Wo sitzt sie denn?« frage ich.

»Am anderen Ende der Welt, sonst hätt ich die Ärmste schon längst besucht, jeden dritten Monat hat sie nämlich einen Besuchstag – auf alle Fälle: schreiben Sie ihr doch gleich einen lieben Brief?«

»Ja, schreiben werde ich auch« –

Ich erhebe mich und sie begleitet mich aus dem Zimmer. »Da reden die Zeitungen in jeder Nummer vom Geburtenrückgang und Schutz des keimenden Lebens der ungeborenen Volksgenossen, vom drohenden Volkstod und dergleichen, aber ein armes Mädel wird auf die Straße gesetzt, wenn sie Mutter zu werden droht – hier sollten unsere Führer mal eingreifen!«

Ich muß grinsen.

»Greifen sie denn nicht ein?«

»Lieber Herr, wo leben Sie? Auf dem Mond?«

»Nein, nicht mehr« –

»Bei uns hier unten auf der Erde kann eine stellungslose Mutter mit Kind im günstigsten Falle eine kleine Rente bekommen, von der weder Mutter noch Kind leben können, vorausgesetzt, daß sie nicht einen Menschen haben, bei dem sie essen und wohnen können – hören Sie das zum ersten Mal, weil Sie mich so perplex betrachten?«

»Nein«, sage ich und sehe meinen Vater vor mir. Er hinkt.

Und meine Rente. Die hinkt noch mehr.

Wir stehen nun im Treppenhaus.

»Unsere Führer«, sage ich langsam, »sind eben große Betrüger« –

»Pst!« fällt sie mir erschrocken ins Wort und sieht sich ängstlich um. »Um Gotteswillen, nicht so laut! Und noch dazu in Uniform – geben Sie acht!«

»Ja.«

»Es hätt auch wenig Sinn« –

»Möglich.«

Leben Sie wohl – und kümmern Sie sich lieber um Ihre Schwester!«

»Gute Nacht, gnädige Frau!«

Ich geh das Treppenhaus hinab – Stufe für Stufe.

Ruhig, sehr ruhig.

Man merkt mir nichts an.

Aber drinnen in mir sitzt eine schreckliche Wut, ein entsetzlicher Haß –

Jetzt möcht ich säubern!

Säubern, daß die Fetzen fliegen!

Jetzt möcht ich ein Flieger sein, ein schwerer Bomber, und über unseren Führern kreisen –

Wenn sie alle beieinander hocken und das Land verteilen, das kleine Land, das auch ich euch holte.

Jenes lebensunfähige Gebilde, beherrscht von einer kläglichen Regierung, die immer nur den sogenannten Rechtsstandpunkt vertritt –

Ein lächerlicher Standpunkt – wie?

Das glaub ich euch gern!

Sagt, ihr Führer tief unter mir, wer kriegt wohl jenes eroberte Land?

Wer kriegt das Erz, das Fett, das Brot?

Wer?!

Ich seh nur ein Zuchthaus.

Ihr redet immer von einer welthistorischen Sendung –

Ihr habt keine welthistorische Sendung zu haben!

Macht uns nicht blöd, wenn ihr stehlen wollt! –

Rasch geh ich durch die dunkle Nacht, wieder zum Hafen hinab.

In das Reich des Liliputaners.

Denn ich will seine Firma zur Rede stellen, warum sie ein Fräulein entlassen hat.

Es geht mich zwar direkt nichts an, aber man kann doch nicht alles hinnehmen!

Wer läßt sich alles bieten?

Ein Schuft.

Und ich bin kein Schuft, mein Herz ist ein schwarzes Meer.

Unter einem wilden Himmel.

Die Wolken, sie ziehen so zornig dahin –

Gib acht, gibt acht!

Du hast noch die Uniform an, und es kostet dich den Kopf.

Laß dir nichts anmerken –

Deck es zu, dein Meer und deinen Himmel!

Verstell dich, bis du dich beruhigt hast!

Verstell dich! –

Ich geh an der Autohalle vorbei, da rodeln die letzten Gäste im Kreis.

Viel Vergnügen!

Und dort ist die weiße Wand mit der schwarzen Tür.

Sie ist schon zu.

»Wann ist denn hier wieder jemand?« frage ich einen Schaukelburschen.

»Morgen um acht.«

Schön, dann werde ich morgen wiederkommen. –

Langsam wander ich die Allee zurück, denn heut hab ich nichts mehr zu verlieren.

Die meisten Buden sind schon zu. Die Messerschlucker und Feuerfresser, sie schlucken und fressen nicht mehr. Die Frau mit dem Bart, der Mann mit dem Löwenkopf und die dickste Dame der Welt, sie liegen schon in ihren Bettchen und träumen blauen Dunst.

Nur ein kleiner Affe friert noch in der Nacht.

Er möchte um die Wette zittern, aber es ist kein zweiter Affe da, mit dem er zittern könnte.

Die Pferde im Hippodrom, sie stehen bereits im Stall, und auch die Schießbuden schließen schon.

Jetzt werden die Tage immer kürzer.

Links fällt ein Licht auf den Schnee. Aus einem Bierpalast.

Der bleibt natürlich ewig offen – dort kauf ich mir jetzt ein Glas.

Es wär schön, wenn man sich wieder mal einen richtigen Rausch leisten könnte, um wieder eine Zukunft zu spüren–

Ich leg schon die Hand auf die Klinke, da halt ich im letzten Moment.

Denn drinnen in diesem Bierpalast erblick ich einen alten Bekannten.

Den Mann, der mir den Zettel gab – mit der Adresse meiner Schwester.

Er ist es, der Buchhalter.

Er verzehrt gerade einen Hering.

Wie fein der frißt – oder scheints mir nur so, weil er kurzsichtig ist?

Er wußte es natürlich, warum sie ihre Stellung verlor, er wußte es genau –

Er hat doch auch gesagt: »Das Fräulein wurde krank.«

Und ich hab gefragt: »Was hat ihr gefehlt?« Und er hat gesagt: »Nichts besonderes« –

Nichts besonderes? Na warte nur!

Er frißt noch immer.

Ich sehe, daß er Pulswärmer trägt, damit er nicht friert.

Und ich muß plötzlich denken, du sollst frieren. Und du sollst auch keinen Hering fressen –

Er wirft einen Blick auf die Glastür und zuckt etwas zusammen. Der Bissen fällt von seiner Gabel. Hat er mich erkannt?

Er sah gleich wieder weg –

Jawohl, er weiß es, wer ich bin – trotz seiner Kurzsichtigkeit.

Jetzt läßt er den Hering stehen –

Ist dir der Appetit vergangen?

Er steht auf von seinem Tisch, doch er bleibt noch im Bierpalast, obwohl er sich nichts mehr kauft. Er kommt und kommt nicht, nur ab und zu blickt er verstohlen nach der Glastür, ob ich noch vorhanden bin.

Ja, ich bin noch draußen und geh nicht hinein.

Ich warte, bis der Herr zu erscheinen geruht –

Denn ich will dich nun unter vier Augen fragen, warum ihr das Fräulein entlassen habt.

Unter vier Augen, denn es besteht die Möglichkeit, daß ich dir eine herunterhau.

Warte nur, dich bring ich schon heraus! –

Ich verlasse die Türe und geh ein paar Schritte nach rechts – jetzt wird er denken, ich bin fort.

Ich drücke mich an die Wand.

Die Tür geht auf, es erscheint aber nur ein Betrunkener.

Er singt vor sich hin und torkelt der Heimat zu. Endlich kommt mein Mann.

Mißtrauisch bleibt er in der Türe stehen und sieht sich um – ja, du weißt es genau, daß es eine Schweinerei gewesen ist –

Er kann mich nicht sehen.

Ich steh im Schatten einer Schaukel.

Plötzlich geht er los – nach links.

Ich geh ihm nach.

Er biegt in eine Seitenstraße – die kenn ich noch nicht.

Es kommen zwei kleine Brücken, hier ist alles Kanal.

Wir sind hinter den Häusern, lauter Magazine –

Jetzt geht er an einem Zaun entlang.

Geh nur zu, ich hol dich schon!

Es weht ein kalter Wind. »Herr Buchhalter!« rufe ich. »Einen Moment!«

Er sieht sich um, erblickt mich und erschrickt –

Er beginnt noch rascher zu werden.

Nun bin ich schon dicht hinter ihm.

»Sie gehen schnell«, sage ich, »aber ich kann auch schnell gehen« –

Mit zwei Schritten steh ich vor ihm und versperr ihm den Weg.

Jetzt muß er halten.

»Was wollen Sie denn von mir?« fragt er und sieht sich nach einem Menschen um. Doch es kommt niemand mehr, es bleiben nur wir zwei.

»Ich möcht Sie etwas fragen, was die Firma betrifft« –

»Kommen Sie morgen ins Bureau«, fällt er mir ins Wort und versucht krampfhaft sicher zu scheinen.

»Morgen?« grinse ich. »Wer weiß, ob ich morgen noch leb!«

»Das wollen wir doch nicht hoffen«, sagt er und lächelt ängstlich.

»Hören Sie«, sage ich streng, »es dreht sich um das Fräulein aus dem verwunschenen Schloß. Sie sagten mir heut nachmittag, das Fräulein sei seinerzeit krank geworden« –

»Leider, leider« –

»Sie wußten es, was ihr gefehlt hat?«

Er starrt mich einen Augenblick an, dann fährt er sich mit der Hand über die Augen und blickt zum Himmel empor – suchst du dort Hilfe? Such nur, jetzt gehörst du mir!

Plötzlich gibt er sich einen Ruck und erkundigt sich kleinlaut: »Verzeihen Sie – sind Sie tatsächlich der Herr Papa?«

»Nein.«

»Nein?« fragt er gedehnt und mustert mich.

Er wird frech.

»Was geht denn dann Sie jenes Fräulein an?«

»Es geht mich was an und Schluß!«

»Lassen Sie mich weiter!«

»Noch nicht! Sie finden es also in Ordnung, daß jenes Fräulein entlassen wurde?«

»Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen« –

»Antwort will ich haben!«

»Bitte – bitte! Da das Fräulein Anna ihren Dienst nicht mehr korrekt bewältigen konnte, mußten wir sie natürlich abbauen. Vergessen Sie doch nicht, wir sind eine große Firma und tragen also auch eine große Verantwortung« –

»Für wen?«

»Wir haben für rund 240 Personen zu sorgen, Angestellte, Artisten und dergleichen – in einem solchen Zusammenhang kann es niemand von uns verlangen, daß wir uns um jeden einzelnen kümmern« –

»Warum nicht?«

»Weil der einzelne keine Rolle mehr spielt.«

Ich starre ihn an.

Keine Rolle?

Das hab ich doch auch mal einst gesagt –

Wie dumm, wie dumm!

»Wir müssen rentabel bleiben«, redet er weiter, »auch der geschäftliche Konkurrenzkampf ist nur ein Krieg, mein Herr, und ein Krieg läßt sich bekanntlich mit Glacéhandschuhen nicht gewinnen, das sollten Sie eigentlich schon wissen« –

Mit Glacéhandschuhen? Das waren doch meine Worte –

Als der Hauptmann schrie, ein Soldat sei kein Verbrecher.

Der Buchhalter schaut mich einen Augenblick höhnisch an und kichert. Oder schiens mir nur so?

Dann redet er weiter sein Zeug und ich höre mich, ich höre mich –

All die hohlen Sprüche und Phrasen, unverschämt und überheblich, nachgeplappert, nachgebetet –

Es wird mir übel vor mir selbst.

Mich ekelts vor meinem Schatten der Vergangenheit – Ja, der Hauptmann hatte recht!

Ich haßte das bequeme Leben und schwärmte für das unbequeme –

Was war ich für ein Lügner!

Jawohl, ein feiger Lügner – denn wie bequem ist es doch, seine Untaten mit dem Vaterland zu verhüllen, als war das ein weißer Mantel der Unschuld!

Als blieb eine Untat kein Verbrechen, ob im Dienste des Vaterlandes oder irgendeiner anderen Firma –

Verbrechen bleibt Verbrechen und vor einem gerechten Richter zerfällt jede Firma zu nichts.

Für das Gute und für das Böse, da hat sich nur der einzelne zu verantworten und keinerlei Vaterland zwischen Himmel und Hölle.

Was war doch mein heißgeliebtes unbequemes Dasein für ein verlogener bequemer Morast!

Ich stand in Reih und Glied und es kam mir nicht darauf an, ob meine Schwester sitzt oder nicht.

Pfui Teufel, was war ich für ein Vieh!

Nein, ich war kein Mensch!

Wenn ich mir heute begegnen würde, so wie ich damals gewesen bin, ich glaube, ich könnte mich selber erschlagen –

Und dieses kurzsichtige Luder vor mir, jetzt sagt er sogar: »Der Krieg ist der Vater aller Dinge« –

»Ruhe!« unterbreche ich ihn schroff. »Wissen Sie denn, was mit dem Fräulein geschah?«

»Keine Ahnung!«

»Sie wurde eingesperrt.«

»Eingesperrt? Warum?«

»Zu guter Letzt, weil sie ihre Stellung verloren hat« –

»Das tut mir leid.«

Leid?

Er sagt es, aber es scheint ihm doch Spaß zu machen, daß sie leiden muß, denn er schaut gar so zufrieden und gesichert drein – als hätt er mich ganz vergessen.

Aber ich bin noch da und lasse dich nicht aus den Augen.

Jetzt zuckt er die Schultern.

»Lieber Herr, es bleibt dabei: auf den einzelnen Menschen kommts leider nicht an« –

Er lächelt und ich muß denken: du bist eine Kreatur, eine verlogene Kreatur –

Mich wunderts, daß ich so ruhig bin.

»Sie sind ein Hund«, sage ich.

Er glotzt mich an, als hätt er falsch verstanden, aber dann braust er auf: »Erlauben Sie« –

»Ich erlaub Ihnen gar nichts, denn Sie sind ein Hund, jawohl, ein blöder Hund, der nicht denkt, daß er eines schönen Tages genauso seine Stellung verlieren könnt wie jenes Fräulein, weil es ja auf den einzelnen ›leider‹ nicht ankommt!«

Er mustert mich gehässig.

»Junger Mann«, sagt er, »vergleichen Sie mich nicht mit irgendeiner erstbesten Angestellten. Ich bin der Oberbuchhalter und bereits seit sechsunddreißig Jahren bei derselben Firma« –

»Deshalb sind Sie auch nicht mehr!«

»Oho, junger Mann!«

Jetzt grinst er höhnisch.

»Und außerdem vergessen Sie, daß ich nicht in der Lage war, in gesegnete Umstände zu geraten« –

Er kichert und es wird mir rot vor den Augen.

Ich pack ihn an seinem Kragen und schlag ihm die Faust ins Gesicht – seine Brille fällt zu Boden.

»Sie schlagen mich?!« brüllt er. »Sie schlagen einen alten Mann?! Hilfe! Hilfe!«

Ich stürz mich auf ihn und halt ihm den Mund zu, er krallt sich in meinen Mantel und ich versetz ihm noch ein paar Hiebe –

Er torkelt.

Auf einmal erblick ich den Kanal.

War denn der immer schon da?

Er beißt mir in die Hand.

Wart, du Schuft! Weg mit dir!

In den Kanal, in den Kanal –

Weg!– – –

Ich schau mich nicht mehr um.

Der Wind weht und der Schnee tanzt – ich ging in die Stadt Paris.

Seine Brille, die hob ich auf und warf sie ihm nach. Damit er den Schlamm besser sieht.

Jetzt wird ers ja schon gesehen haben, ob ein einzelner keine Rolle spielt.

Es geht mir ganz gut.

Denn jeder, der da sagt, auf den einzelnen kommt es nicht an, der gehört weg.


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