Edmund Josef von Horváth
Ein Kind unserer Zeit
Edmund Josef von Horváth

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Der Vater aller Dinge

Ich bin Soldat.

Und ich bin gerne Soldat.

Wenn morgens der Reif auf den Feldern liegt und wenn abends die Nebel aus den Wäldern kommen, Frühling und Herbst, Sommer und Winter, ob es regnet oder schneit, Tag und Nacht – immer wieder freut es mich, in Reih und Glied zu stehen.

Jetzt hat mein Leben plötzlich wieder Sinn! Ich war ja schon ganz verzweifelt, was ich mit meinem Leben beginnen sollte. Die Welt war so aussichtslos geworden, so ganz ohne Zukunft, und die Zukunft so tot. Ich hätt es zwar schon gewußt, was ich hätt werden wollen, aber dazu hätt ich Geld gebraucht, ein Anfangskapital – nicht viel, nur wenig, aber immerhin Geld und dann hätt ich mir schon eingerichtet, mein Leben. Am liebsten wär ich Bauer geworden oder Verwalter auf einem Gut. Ich bin zwar in der Großstadt geboren, aber die Stadt gefällt mir nicht, und ich liebe das Land. Ich weiß zwar nicht, ob ichs am Land immer ausgehalten hätte, so ohne Kino, ohne Café, aber ich hatte halt die Sehnsucht darnach, denn in der Stadt ohne Geld ist es dreifach schwer. Und dann hat ein junger Mensch meiner Generation gar keine Aussicht, etwas werden zu können, er findet ja gar keinen Posten, so ist es mir gegangen. Ich habe die Buchdruckerei erlernt, und wie ich fertig war, stand ich da. Und es war keine Aussicht, etwas zu bekommen, und auch keine, daß es [anders] besser wird. Es gibt immer weniger Zeitungen, es wird immer weniger gelesen, das macht der Sport. Die Leut treiben Sport, statt zu lesen, das ist nun mal unsere Welt. Ich kann es begreifen, daß man nichts liest. Es ist fad und geht einen nichts an. Wenn in einem Roman drin stehen würde, wo du einen Posten bekommst, dann würd jeder lesen, aber es stehen nur so fade Liebesgeschichten drin oder Expeditionen, in ferne Länder, wo du dann vor Sehnsucht vergehst. Aber selbst, wenn man eine Stelle hätte, was wäre dann? Es war Tag für Tag das gleiche, immer im Büro sitzen, und du weißt schon, was du verdienst, wenn du siebzig wirst. Vorausgesetzt, daß das Büro nicht pleite geht. Nein, das ist alles keine Zukunft! Da schlaft man ein bei seinem eigenen Leben! Das kann alles nur durch etwas Großes anders werden, durch ein großes Ereignis. Zum Beispiel durch einen Krieg.

Erst unlängst sagte der Hauptmann: »Der Krieg ist der Vater aller Dinge.« Und er hat recht. Natürlich im übertragenen Sinn.

Mein Vater hat nämlich gar nicht recht, wenn er auf den Krieg schimpft, nur weil er im Weltkrieg in Kriegsgefangenschaft geraten ist. Früher, wie ich noch bei meinem Vater gewohnt hab, da haben wir uns oft gestritten. Er sagte immer: »Hoffentlich gibts keinen Krieg mehr!« Unsinn! Hoffentlich gibts bald einen! Kriege wirds immer geben, mein Vater ist ein leibhaftiger Pazifist und wenn er nicht mein Vater wär, dann hätt ich ihn schon ein paar Mal angezeigt, weil er gar so schimpft über die Generäle. Ich habs ihm auch mal gesagt, daß ich ihn anzeigen werd, aber da ist er sehr bös geworden. »Zeig mich nur an!« schrie er. »Was redest denn du übern Krieg?! Du kannst dich doch an den Weltkrieg gar nicht mehr erinnern!« »Tröste dich nur«, sagte ich, »die, die sich erinnern können, die zählen eh nicht mehr, die sind ja schon alle zu alt! Hab nur keine Angst, du kommst eh nimmer dran!« »Eine Frechheit!« plärrte mein Vater. »Das wagst du mir? Ich hätt Angst, wo ich drei Mal verwundet worden bin, ein Mal verschüttet, zwei Jahr in der Gefangenschaft?! Du gemeiner Schuft, liderlicher!« Er wollte mir eine herunter hauen, aber ich bin rasch weg, denn ich hab mich nicht hauen lassen. Das war vor drei Jahren, damals war ich siebzehn. Ich hab ihn noch im Treppenhaus schreien gehört, er hat einen Stuhl zur Erde gehaut, das tut er immer, wenn er wütend ist. Ich warte schon darauf, bis der Stuhl kommt. Dann schwellen ihm die Adern an und er brüllt. Dann geh ich fort. Ich mag ihn nicht. Er gehört zu der Generation, die unser Land, ja die ganze Welt ins Unglück gebracht haben. Wie er jung war, hat er genug Stellungen gehabt. Er hat auch Aussichten gehabt, aber wir, das heißt: ich? Nichts. Keine Aussicht, ich kann auch in kein Land. Alles hat diese Generation verpatzt. Es war noch zu wenig für ihn, diese Kriegsgefangenschaft. Sie hätten ihn noch ein bisserl behalten sollen. Nein, ich mag meinen Herrn Papa nicht! Ich kann ja in kein anderes Land, überall Not und Arbeitsbewilligung! Und das ist ja schlimmer als der Krieg. Im Krieg hättest du wenigstens Aussichten, da ist alles unvorhergesehen, es stimmt schon: »im Felde, da ist der Mann noch was wert«. Aber diese Generation ist verschwommenen, blöden Idealen nachgehängt, sie haben die Welt ruiniert, und habens nicht erfaßt, daß man nicht denken, sondern handeln muß. Und es gibt nur das eigene Nest, ob es mir gut geht, meinem Volk, meinem Vaterland! Was gehen mich die anderen an?! Da gründen sie Vereine für Unterstützung der armen Ausländer, Quatsch! Hoffentlich gibts bald einen Krieg, jawohl: hoffentlich! Da gehe ich gerne mit! Ich schon, ich bin noch jung und will was haben vom meinem Leben! Ich will nicht ein ganzes Leben über in einem Büro sitzen! Ich hasse das bequeme Leben! Ich bin ein Kriegskind, geboren am 5. November 1915, aber ich kann mich an den Weltkrieg nicht mehr erinnern. Ich will auch nicht. Der nächste Krieg wird anders, ganz anders. Das wird ein Vernichtungskrieg, einer wird ausgerottet werden und dieser eine wird nicht wir sein. Garantiert!

»Angetreten!« kommandiert der Vizeleutnant.

Wir treten an. In Reih und Glied. Es klappt alles haargenau. Scharf und scharf. Ich bin ja jetzt auch schon ein halbes Jahr dabei und hab bereits einen Stern. Ich bin Gefreiter geworden. Erstens, weil ich gut schießen kann, zweitens weil ich sehr ausdauernd bin. Außerdem gefalle ich unserem Hauptmann.

Unser Hauptmann ist ein feiner Mensch. Wir lieben ihn alle. Er ist sehr gerecht und ist wie ein Vater, der einem auch etwas gibt. Er schreitet die Front ab und sieht genau nach, er ist sehr für Ordnung, aber wir haben das Gefühl, daß er uns liebt, jeden einzelnen extra. Er schaut nicht nur darnach, ob alle Ausrüstung richtig sitzt, nein, er sieht durch die Ausrüstung durch in unsere Seele. Das fühlen wir alle.

Er lächelt selten, aber lachen hat ihn noch keiner gesehen. Er hat manchmal traurige Augen. Aber dann kann er auch wieder ganz scharf schauen. Und streng. Man kann ihm nichts vormachen. So wollen wir auch mal werden. Wir alle.

Da ist unser Oberleutnant ein ganz anderes Kaliber. Er ist zwar auch gerecht, aber kann leicht jähzornig werden oder vielleicht ist er auch nur nervös. Er ist nämlich sehr überarbeitet, weil er in den Generalstab hinein möcht und da lernt er Tag und Nacht. Er steht immer mit einem Buch in der Hand und liest und lernt.

Dagegen ist der Leutnant eigentlich für uns kein Offizier. Er ist höchstens ein Jahr älter, wie wir, also so dreiundzwanzig. Und manchmal ist er unsicher, dann möcht er schreien, aber er traut sich nicht recht. Wir lachen oft heimlich über ihn, aber wir folgen natürlich. Er ist ein großer Sportsmann und der beste Hundertmeterläufer. Wirklich gediegen! Er läuft einen prächtigen Stil.

Wir sind alle sehr für den Sport. Nur der Feldwebel hat das Exerzieren lieber, aber neulich hat er sich doch so aufgeregt, wie unser Regiment gegen die Artillerie im Fußball gewonnen hat, daß er ganz weiß war. Er hat sich ganz vergessen und hat den Unteroffizier umarmt. Seither ist er auch mehr für den Sport, den sportlichen Gedanken. »Abzählen!« kommandiert der Feldwebel.

Wir zählen ab.

»1, 2, 3, 4, 5, 6, –« Usw.

Ich bin Nummer vierzehn. Von rechts, von den größten her. Der Größte ist einsachtundachtzig, der Kleinste einsechsundfünfzig, ich bin ungefähr einssechsundsiebzig, gerade die richtige Größe, nicht zu groß, nicht zu klein. Ich möcht auch nur so die normale Größe haben. So äußerlich gesehen gefall ich mir ja.

Neulich hab ich mich lang in den Spiegel geschaut, denn es ist mir plötzlich aufgefallen, daß ich gar nicht genau weiß, wie ich aussehe, ich kenne gar nicht genau meine Nase und meinen Mund. Ich hab mir gefallen. Ich hab mich auch im Profil betrachtet und zwar mit zwei Spiegeln, bis der Feldwebel hereingekommen ist und gefragt hat: »Was ist? Bist du eine Primadonna? Betrachtet sich im Spiegel wie eine alte Badhur!« Dann hat er mir den Spiegel aus der Hand genommen und hat sich selber betrachtet. »Männer müssen nicht schön sein«, hat er dabei gesagt, »Männer müssen nur wirken, insbesondere aufs gegenteilige Geschlecht!« Ich hab ihn mir angeschaut und hab mir heimlich gedacht, melde gehorsamst, aber du wirkst sicher nicht. Plötzlich dreht er sich mir zu und fragt mich: »Kennst du Kitty?« »Wer ist Kitty?« frage ich. »Du kennst sie also nicht?« »Nein.« »Dann freu dich«, sagte er und verläßt den Saal.

Was ist mit dieser Kitty?

Am Abend frage ich den Karl, der neben mir liegt. »Kennst du eine Kitty?« »Ich nicht«, sagte er, »aber der Hans der Rote kennt sie«, er grinst. »Es war ihm sicher lieber, wenn er sie nicht kennen würde. Sie ist die Tochter der Greislerei und kriegt ein Kind.« »Von wem?« »Das ist es ja grad: sie gibt den Roten an, aber der weiß, daß noch andere dabei waren. Und jetzt hat der Hauptmann die Sache in die Hand genommen, er sagt, er duldet sowas nicht, ein Soldat muß ehrlich dafür einstehen, und wenn es mehrere waren, dann müssen eben mehrere zahlen!« »Ich versteh den Hauptmann nicht«, sagte der Franz, »wieso kommen Unschuldige dazu darunter zu leiden? Da lauft einem so ein Weibsbild nach und am Schluß hat sies Kind gar noch von einem Zivilisten! Verstehst du das?« fragt er plötzlich mich, wendet sich.

»Ich muß mirs erst überlegen«, sage ich. »Der Hauptmann ist ein gerechter Mann und er wirds schon wissen, wenn uns jetzt auch nicht gleich die Motive einfallen.«

»Aus bevölkerungspolitischen Gründen muß natürlich so ein Kind richtig erzogen werden, das ist klar, aber da sollte der Staat dafür eintreten. Wie komm ich dazu?«

»Das sind Ausreden«, sagt der eine. »Hättest halt achtgegeben!«

»Ich hab schon achtgegeben, aber sie hat nicht achtgegeben!«

»Man sollte ein Kind nur dann in die Welt setzen, wenn man es wirklich ernähren kann. Mein Vetter hat geheiratet, die haben gespart, sind in kein Kino und nichts, und wie sie so viel Geld gehabt haben, hat er zu ihr gesagt, so Luise, jetzt gehts auf. Dann hat er ihr ein Kind gemacht. Man muß Verantwortungsgefühl haben.«

Am nächsten Morgen hat der Hauptmann beim Appell eine Rede gehalten. Er hat gesagt, das wäre eine Schweinerei und eines Soldaten unwürdig. Gesetzlich sagte er, müßte keiner was zahlen, aber moralisch ja, es gibt noch ein anderes Gesetz und das müsse ein jeder Soldat befolgen. Er brachte es soweit, daß die vier sich einigten und zahlten. Es blieb ihnen nichts anderes übrig.

An diesem Tage rückten wir auf acht Tage aus zu einer kleinen Übung. Der Sommer war heiß und wir lagen mit unseren schweren Maschinengewehren auf einem verdorrten Felde. Gut in Deckung.

Es hatte schon seit Wochen nicht mehr geregnet und die ganze Ernte war verdorrt. Die Bauern klagen, aber tröstet euch nur. Wir können uns noch nicht selber ernähren, wir müssen autarkisch werden und uns darnach strecken, denn finstere Gewalten sind gegen uns gerichtet und hindern, daß unser Volk frei und glücklich wird, hindern seinen Platz an der Sonne. Aber tröstet euch, ihr Bauern, wir werden bald alles haben, große fruchtbare Ebenen, wo alles wächst. Dort werden wir uns ausbreiten und ansiedeln. Und dann wird jedes Kind etwas haben und um keines muß mehr gestritten werden, auch die Kitty kann hundert Kinder haben, denn dann können wir uns das leisten. Jeder wird Raum haben!

Wir liegen jetzt im Staub und haben Durst.

Wir müssen die Straße, die dort unten zieht, beherrschen.


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