Edmund Josef von Horváth
Ein Kind unserer Zeit
Edmund Josef von Horváth

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Der Bettler

Es war nicht das Herz, es war nur der Arm, aber leider der Knochen.

Er wurde zersplittert.

Man holte die Kugel heraus und allmählich wuchsen die Splitter wieder zusammen. Lange Wochen lag ich im Lazarett, zuerst noch im Feindesland, dann wurd ich in die Heimat transportiert. Denn der Schuß war doch komplizierter, als man ursprünglich annahm, und ich hatte hohes Fieber.

Hoffentlich werd ich nur meinen Arm wieder richtig bewegen können, denn sonst müßt man ja das Militär verlassen und was würd ich dann beginnen?

Ich habe ja nichts. Keinen Groschen.

Der Dank des Vaterlandes war mir zwar gewiß, dessen bin ich überzeugt, aber die Invalidenrenten sind minimal – davon wird keiner satt.

Und wo bleiben die Kleider, die Schuhe?

Vergangene Zeiten, an die ich längst nimmer dachte, tauchen wieder auf –

Der Schnee beginnt zu treiben.

Ich dachte, ich hätt euch vergessen, ihr Tage meiner aussichtslosen Jugend –

Doch die Suppe, die ich löffelte, dampft und die Heiligen auf dem Kirchendach schauen mich wieder an.

Laßt mich in Ruh!

Aber sie weichen nicht.

Sie ziehen an mir vorbei, stumm und schadenfroh, unter einem harten Himmel. Da kommen die kleinen Anzeigen in den großen Zeitungen, die verlassenen Badehütten, der Kriminaler und das dünne Eis –

Es ist eine Schand!

Ich friere.

Es schneit auf das Grab meiner Zukunft –

»Er fiebert noch immer«, höre ich die Stimme einer Frau. Das ist die dicke Schwester, die mich pflegt. Ich seh sie gern, weil sie meist ein bißchen lächelt, als wär sie der zufriedenste Mensch.

Ich schlage die Augen auf und erblicke neben der Dicken einen Offizier.

Er betrachtet mich.

Ich kenne ihn nicht.

Es ist ein Oberleutnant und er spricht mich an. Ich höre, daß ich für die tollkühne Tapferkeit, mit der ich meinen Hauptmann retten wollte, belobt und befördert wurde.

Und er gibt mir einen Stern, meinen dritten silbernen Stern.

Er erkundigt sich, ob ich arge Schmerzen hätte, aber er wartet meine Antwort nicht ab, sondern fährt gleich fort, er wäre überzeugt, daß mein Arm wieder richtig werden und daß mir eine glänzende Zukunft bevorstehen würde. Vielleicht winke mir sogar ein goldener Stern –

Und plötzlich tritt er ganz dicht an mich heran und spricht sehr leise, damit ihn die Schwester nicht hört. Ich solle es nur nie vergessen, sagt er, daß ich nicht als regulärer Soldat, sondern nur als ein sogenannter Freiwilliger mitgekämpft hätte. Im Feindesland tobe nämlich nach offizieller Lesart kein Krieg, sondern eine abscheuliche Revolution, und es stünden unsererseits keinerlei militärische Einheiten drüben, sondern, wie gesagt, nur freiwillige Kämpfer auf Seite aller Aufbauwilligen gegen organisiertes Untermenschentum –

»Ich weiß es schon, Herr Oberleutnant«, sage ich.

»Ich wollt Sie nur erinnern«, meint er und zieht sich wieder etwas zurück von mir.

»Herr Oberleutnant!« rufe ich. »Wie stehts denn eigentlich mit uns?«

Er grinst.

»Ausgezeichnet! Eigentlich habt ihr braven Freiwilligen bereits gesiegt, es wird nur noch gesäubert.«

Aha, gesäubert –

Auch ich muß grinsen.

Der Offizier geht und die Schwester richtet mein Polster.

Dann bringt sie Milch und Brot.

Draußen singt ein Vogel.

Schau – schau, wir haben also schon gesiegt. Jaja, schlau muß man sein, wenn man seinem Vaterlande nützlich dienen will. Schlau und nicht nur tapfer. Jetzt wird dann irgendeine Scheinregierung eingesetzt, bestochene Kreaturen, und das Land, das wir holen wollten, fällt uns in den Schoß – geschickt gemacht!

Ich freue mich.

Wenn nur mein Arm wieder richtig wird! Was würd ich nicht darum geben – ich glaub: alles!

Du hast doch nichts, geht es mir wieder durch den Sinn.

Was kannst du also für deinen Arm geben?

Zehn Jahre meines Lebens.

Lächerlich! Was weißt du denn, wie lange du lebst? Lauter leere Versprechungen!

Und ich denke, wenn ich noch daran glauben würde, was man mir in der Schule erzählt hat, dann würde ich jetzt sagen: ich verzieht auf meine himmlische Seligkeit und laß mich gern in der Hölle braten.

Aber leider gibts keine Engel und auch keine Teufel –

Halt! durchzuckt es mich. Was denkst du da?

»Keine Teufel?«

Ich muß lächeln.

Denn nun seh ichs wieder vor mir, das verwunschene Schloß. Die Fenster sind vergittert und die Drachen und Teufel, sie schauen heraus –

Ich muß immer lächeln.

Wenn ich auf sein werd – ja, dann geh ich mal wieder hin. Es kann nicht weit sein, denn dieses Krankenhaus liegt auch in der Nähe des Hafens, wo die fremden Schiffe liegen mit den gelben und schwarzen Matrosen. Vielleicht, wenn ich aus dem Fenster schauen könnt, daß ichs sogar erblicken würd, mein verwunschenes Schloß.

Aber das Fenster ist hoch und ich kann nur hinausschauen, wenn mich wer hebt, als wär ich wieder ganz klein.

Jaja, du sitzt noch immer auf dem Boden und bist drei Jahr, nicht älter.

»Es ist kalt«, das bleibt deine erste Erinnerung –

Wenn ich nur meinen Arm wieder hätt! Oh, wenn ich ihn nur wieder hätt! Man merkts erst, was man besessen, wenn mans verloren hat!

Hoffentlich find ich ihn wieder, meinen Arm –

Ich will ihn überall suchen, ich will die Splitter alle zusammenklauben und kunstvoll zusammensetzen, als wärs ein Kinderspiel –

»Er fiebert noch immer«, höre ich die Stimme meiner Schwester.

Ich möcht sie sehen –

Neben ihr steht der Arzt.

Er betrachtet mich nur und sagt: »Hm.«

Dann geht er wieder weiter –

In meinem Saal liegen noch siebzehn andere.

Lauter verwundete Freiwillige.

Ausgerichtet, Mann für Mann.

Manche dürfen schon aufstehen und spielen Karten. Oder Schach.

Einige sind bereits fast wieder ganz gesund.

Nur einem fehlt ein Bein. Der wird nimmer.

Zwei sind schon gestorben.

Der erste vor zehn Tagen, der zweite heut nacht.

Ich wachte plötzlich auf und sah, daß auf seinem Nachtkästchen Kerzen brennen. In der Mitte stand ein Kruzifix. Es war sehr still.

Schlafen denn alle?

Siehts denn keiner, nur ich?

Nein, alle hatten die Augen offen, aber sie rührten sich nicht. Es wurde immer stiller.

Die Schwester stand vor dem Nachtkästchen und betete. Und plötzlich mußt ich denken: jetzt steht dieser Freiwillige vor seinem höchsten Richter.

So hab ichs einst gelernt.

Und die Schwester betet für ihn. Sie bittet für seine unsterbliche Seele –

Was hat er denn angestellt?

Die dicke Schwester sagt zum Richter: »Bitte, sei ihm gnädig« –

Was hat er denn verbrochen?

Warum soll er denn gnädig sein, dein höchster Richter? Dieser brave Mann fiel doch für sein Vaterland, was will man denn noch von ihm?!

Er gab sein Leben, das genügt!

Denn was einer ansonsten privat sündigt, das wird alles ausradiert, wenn er für das ewige Leben seines Volkskörpers stirbt – merk dir das, Schwester!

Du betest noch immer?

He, bet lieber für mich, damit mein Arm wieder richtig wird, das wär gescheiter! Wart nur, du Dicke, ich werds dir schon noch auseinandersetzen bei passender Gelegenheit! –

Und die Gelegenheit kam. Nach wenigen Tagen. Die Dicke brachte Milch und Brot.

Der Arm ist nicht besser geworden.

»Schwester«, sage ich, »betens doch auch mal für mich, damit ich gesund werd.«

Sie horcht auf und sieht mich scharf an, aber nur einen Augenblick lang. Sagte ichs nicht fromm genug? Es war ja auch nicht ernst gemeint, denn ich wollte sie nur in Verlegenheit bringen – warum?

Aus Bosheit.

Ich glaube nicht daran, daß einem die Beterei was nützt, aber ich befleißigte mich, ernst dreinzuschauen.

»Ich bete immer für alle meine Kranken«, sagt sie und jetzt lächelt sie wieder wie immer: »Auch Sie laß ich nicht aus.«

»Und glauben Sie, daß ich gesund werde?«

»Das weiß man nicht.«

Ach so, denke ich und werde immer boshafter.

»Durch das Gebet kann man Gott nur bitten«, redet die Schwester weiter, »aber ob Er einen erhört, dafür kann niemand gutstehen, weil man ja als einfacher Sterblicher die Zusammenhänge nicht kennt.«

»Was für Zusammenhänge?«

»Gott weiß alles, hört alles und läßt keinen einzigen aus den Augen, Tag und Nacht, denn Er hat mit jedem etwas vor.«

»Mit jedem einzelnen?«

Sie sieht mich groß an.

»Natürlich«, sagt sie, »und die Hauptsache ist, daß man Seine Gebote befolgt. Sie haben sie vergessen – nicht?«

Seine Gebote?

Ich starre sie an. Sie fragt mich so mild, als würd sie es gar nicht wundern. Da steht sie dick und sicher vor mir und ihre Zufriedenheit wird mir unangenehm.

Sie verwirrt mich.

»Natürlich kenne ich seine Gebote«, sage ich und muß leicht grinsen, »zum Beispiel: liebe deine Feinde –«

»Ja«, fällt sie mir ins Wort und wird plötzlich sehr ernst, fast streng. »Liebe deine Feinde, aber hasse den Irrtum.«

Den Irrtum?

Ich horche auf.

Jetzt lächelt sie wieder, als hätt sie nichts gesagt.

Sie nickt mir nur zu – freundlich, sehr freundlich –

Der Arzt kommt.

Er tritt an mein Bett.

Und ich frage ihn: »Herr Doktor, wie stehts mit meinem Arm?«

Er schneidet ein saures Gesicht und gibt keine Antwort.

Dann geht er wieder weiter –

Ich sehe ihm nach und bekomme plötzlich Angst, schreckliche Angst.

Die Schwester steht noch neben mir.

Sie beobachtet mich.

Ich möchte weinen, aber ich beiß nur die Zähne zusammen.

Ich schließ die Augen und es flimmert vor mir.

Alles ist durcheinander –

Ich werd immer schwächer.

Es flimmert, es flimmert!

Mir scheint, mein Arm wird nimmer –

Das Durcheinander kreist um mein Bett und aus dem Kreise tritt ein Hügel.

Ein sanfter Hügel.

Auf dem Hügel steht ein Engel.

Er wartet auf mich und hält meinen Arm in der linken Hand.

In der rechten trägt er ein Schwert.

Die Blumen blühen, aber es ist bitter kalt.

Und ich muß denken, ich werde Gott fragen, warum es so kalt ist.

Denn man kann ja auch mit Gott reden, fällt es mir ein.

Ich erinner mich immer deutlicher, daß man ihm etwas versprechen soll, damit er einem hilft –

Richtig, damit er einem hilft!

Man muß ihm etwas geben, irgend etwas, und wärs das Kleinste, er ist für alles dankbar –

Als wär er ein Bettler.

Schenk ihm etwas –

Schenk dem ersten Bettler, der dir begegnet, wenn du wieder ausgehen darfst – schenk ihm einen Taler!

Nein, nicht einen – drei, vier, fünf!

Jawohl, fünf Taler!

Für fünf Taler kann man sich schon allerhand kaufen, wenn man sich nach der vorhandenen Decke streckt –

Fünf Taler ist viel für mich.

Ich will sie dem lieben Gott geben, damit mir der Engel meinen Arm zurückgibt.

Es flimmert, es flimmert – – –

Die Tage vergehen und nehmen die Nächte mit sich.

Wenn der Arzt kommt, schneidet er keine Grimassen mehr.

Der Arm wird besser.

Heut kann ich ihn schon bewegen, natürlich nur sacht –

Aber er wird besser! Besser, besser!

Wenn er mir nicht so weh tun würd, wollt ich mit ihm die ganze Welt umarmen, so rosig scheint wieder meine Zukunft!

Bald werd ich das Bett verlassen, wenn alles ohne Rückfall vergeht.

Es geht, es geht –

Die Schwester bringt meine Uniform.

Heut darf ich zum erstenmal an die Luft, wenn auch nur für eine halbe Stund.

Ich liebe meine Uniform.

Wo warst du so lang?

»Ich hing in einem Schrank«, sagt die Uniform, »neben einer alten Hose und einem hellen Paletot – lauter Zivilisten, brr!«

Ich zieh mich an.

»Das ist aber allerhand«, wundert sich die Uniform, »wie dünn du geworden bist! Ich schlotter ja direkt um dich herum! Fesch seh ich nicht aus, das muß man dir lassen!«

»Tröste dich«, beruhige ich sie, »ich hab dir auch etwas mitgebracht.«

Und ich zeig ihr meinen dritten silbernen Stern.

Da strahlte sie natürlich und es war ihr egal, ob sie schlottert.

Die Schwester nähte ihn an, den Stern –

Ich betrachte ihn im Spiegel.

In der Tasche steckt was Weißes –

Was ist das für ein Brief?

»An meine Frau«, steht da droben.

Ach, der Brief des Hauptmanns!

»Wir hätten ihn schon expediert«, höre ich die Schwester, »aber wir wußtens nicht, wem wir den Brief schicken sollten, Sie sind ja unverheiratet« –

Ach so, die Dicke meint, diesen Brief hätte ich geschrieben –

Nein – nein, ich bin allein.

Meine Mutter ist tot und mit meinem Vater hab ich nichts mehr zu tun. Der hinkt jetzt sicher in seiner Wirtschaft herum und das soll er auch.

Ich stecke den Brief ein und geh an die Luft.

Ich habe niemand.

Warum sagt ichs nur nicht, daß der Brief der Witwe meines Hauptmanns gehört?

Wahrscheinlich, weil ich ihn ihr persönlich überbringen will.

Das schickt sich nämlich so.

Ich weiß, wo sie ungefähr wohnt.

Wenn ich länger ausbleiben darf, werde ich sie besuchen, denn sie wohnt außerhalb und vielleicht muß ich dort übernachten.

Hoffentlich ist es ihr schon bekannt, daß ihr Gatte fürs Vaterland fiel –

Und plötzlich fällts mir wieder ein: warum ging denn ihr Gatte seinerzeit auf jene Scheune los? Wollt er denn das Maschinengewehr allein erobern? Er mußt es doch wissen, daß er in den sicheren Tod geht, es war doch völlig ohne Sinn – was hat er denn nur bezwecken wollen?

Was bildete er sich eigentlich ein?

Ich biege um die Ecke.

Da hockt ein Bettler –

Der erste Bettler, durchzuckt es mich.

Ich greife in die Tasche, um ihm die versprochenen fünf Taler zu geben.

Der Bettler nimmt von mir scheinbar keine Notiz.

Ist er blind?

Oder trägt er nur eine blaue Brille, weil er mich betrügen möcht?

Fünf Taler sind viel Geld.

Vielleicht sieht er mich genau –

Vielleicht hat der Bettler mehr als ich.

Gib ihm deine Taler –

Nein, ich geb sie dir nicht und geh an dir vorbei.

Ich bin ja gestreckt worden, mein Herr, massiert, gefoltert, und diese Prozeduren gaben mir meinen Arm wieder zurück – verstanden?

Es war die Kunst der Ärzte und mein Gelübde war eine Ausgeburt der Schwäche. Ich fieberte doch in einer Tour und war schon total verzweifelt, als ich dir fünf Taler versprach –

Ja, ich war nicht bei mir.

Aber jetzt bin ich wieder der alte!


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