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Nächster Krieg und nachher

Eine Ansprache an bürgerliche Intellektuelle

Der Weltkrieg, den wir erlebt haben, war im November 1918 zu Ende. Der Weltkrieg, den wir erleben werden, hat im November 1918 begonnen. An dem Tage, andern nach dem Aufhören des Völkermordens neues Kriegsgerät, neue Munition fabriziert, in Auftrag gegeben oder entworfen wurde, Friedensbedingungen festgestellt, aufoktroyiert, Entschädigungen nach der traditionellen Schablone dieser Art von Geschäften diktiert wurden, begann der neue Weltkrieg. Seit November 1918 konnte man, in steigendem Maße, die gleichen Symptome fortleben, wiederkehren sehen, zuerst sporadisch, sodann gehäuft, in stürmisch drängender Aufeinanderfolge, die die Zeit vor dem letzten Weltkriege charakterisierten und die uns allen noch in Erinnerung geblieben sind.

Krisen des kapitalistischen Systems, der imperialistischen Weltbeherrschung beweisen die Brüchigkeit, fortschreitende Auflösung von Strukturen ökonomischer und politischer Gebilde, die durch den letzten Weltkrieg ihren entscheidenden Hieb erhalten haben. Das Überwuchern des Nationalismus, in kleinen und kleinsten Splittern ehemals notdürftig geeinter Staatengebilde künstlich entfacht und vervielfacht, verdeckt, enthüllt aber auch gleichzeitig den Todeskampf, in dem sich jene dem Untergang geweihten Systeme befinden. Tatsache ist, daß die nationalistische Idee niemals so schamlos über die primitiven Instinkte, deren Ausdruck der Kapitalismus und sein Zwillingsbruder, der Weltimperialismus, sind, gebreitet worden sind, heroischen Faltenwurf abgegeben haben wie jetzt. Willkür, Unterdrückung, Verelendung ganzer Klassen, Unschädlichmachung der Besten und Integersten unter den Empörern beweisen das Herannahen jenes »letzten Gefechts«, von dem das Kampflied der »Internationale« seinen Refrain herhat. Die Moral der Welt gibt vor, diese Vorgänge zu übersehen, rechtfertigt sie womöglich. Indes, dies bewirkt nur Irrewerden der Massen, der Individuen, an der Konsistenz dieser Moral selbst.

Nüchtern und kühl betrachtet, besteht bei der Vorbereitung des nächsten Völkermordens, dem unaufhaltsamen Heranschreiten auf diese Katastrophe zu, eine Alternative. Werden die Völker sich wieder im Dienste des kapitalistischen Systems auf die Schlachtbank treiben lassen, oder wird Klassenkampf, der die werktätigen Scharen der Welt mit der bedrohten Sowjetrepublik der Arbeiter und Bauern in jähem Sturm zusammen- und ineinanderschweißt, einen Welt-Bürgerkrieg entfachen? Das ist die Alternative. In beiden Fällen werden Millionen fallen. Wird sich, nach dem amerikanischen Wahlspruch, daß der Weltkrieg 1914/18 derjenige Krieg wäre, der den Krieg überhaupt zu beenden berufen sei, durch die Tatsache des Weiterbestandes der Kriegsidee überholt und vergessen, der Wahlspruch der »Internationale« von dem »letzten Gefecht« als stichhaltiger erweisen? Das Resultat des jüngsten Völkermordens ist, zumal durch die ungeheure ökonomische Umwälzung, die die U.S.A. gegenwärtig durchmachen, besonders scharf und klar zum Bewußtsein der Welt gelangt: der Krieg ist ein schlechtes Geschäft. Was Norman Angell vor Jahrzehnten mathematisch vorgerechnet hat, wurde durch die Praxis des Erlebnisses bestätigt. Der Krieg kann nichts mehr schaffen, er kann nur zerstören. Jedermann weiß heute, mit welchen Mitteln des Angriffs der nächste Krieg geführt werden wird. Die Menschenzerstörungsindustrie hat seit dem letzten Kriege – durch die ins Maßlose überwucherte Gier, Erobertes zu behalten, Verlorenes wiederzugewinnen, Begehrtes sich anzueignen – so ungeheure Dimensionen angenommen, daß es für das schwerfälligste Fassungsvermögen klar und evident dasteht: welcher Art der nächste Krieg sein wird. Von Vaterlandsliebe und -verteidigung wird angesichts der Fortschritte der chemisch-technischen Kriegsindustrien kaum mehr mit sittlichen Gedanken und Vorstellungen die Rede sein können. Um an dem sich vorbereitenden Weltverbrechen keinen Anteil zu haben, um den in jedem mit Vernunft begabten Wesen vorhandenen Willen, seine eigenen Arbeitsmöglichkeiten zu retten, diese Arbeitsmöglichkeiten im Dienste der Menschheit zu bewahren, sich nicht zerstören zu lassen, betätigen zu können, wird sich jedes mit Vernunft begabte Wesen, das menschliches Antlitz trägt, beizeiten vor der Zerstörung in Sicherheit bringen müssen, ohne dadurch mit seiner Weltanschauung, seiner noch so tiefen, im Hergebrachten wurzelnden Moral in Konflikt zu geraten.

Einen der deutlichsten Beweise dafür, in welchem Maße die Moral der Welt, die Kultur und der Kulturwille eines großen Volkes seinen tödlichen Stoß erhalten hat, lieferten die Wahlen zum deutschen Reichstag. Eines der tüchtigsten, bestgebildeten Völker unter den Kulturvölkern der Welt hat seine Unfähigkeit bewiesen, die Prinzipien des moralischen und sozialen Fortschritts zu begreifen.

Man mag einwenden, der Bolschewismus sei ja auch dem im Sozialismus mündenden Nationalbewußtsein der Russen, ihrer Sendung unter den Völkern entsprungen. Rußlands Kommunismus ist eine logische Weiterentwicklung der panslavistischen Idee der Vorkriegszeit, einer Idee, die ihren Ursprung jenseits aller rein nationalistischen Vorstellungen, im religiös-mystischen Grundcharakter des großen Apostel- und Märtyrervolkes besitzt. Die Voraussetzungen dieser Mission wurden zudem gefördert und genährt aus der abgründigen Weltfremdheit der breiten, systematisch unterdrückten und zu klarem Denken umerzogenen Massen, aus der aus europäischen wie asiatischen Quellen geheimnisvoll gemischten Mentalität der Russen. Wie aber konnte es in einem Lande wie Deutschland geschehen, daß 6 ½ Millionen einer Partei zuliefen, die ohne positive Anschauung von den Möglichkeiten der Weiterlenkung eines leidenden und entwaffneten Volkes, nur durch das Hervorkramen atavistischer Vorstellungen von bereits lange als untauglich erkannten Methoden zu wirken sucht? Die schreckhaft unermeßliche Ignoranz der Massen, dieser 6 ½ Millionen Wähler – in Deutschland, das, was die Mittel der Volksbildung, die Organisation der sozialen Belehrung und Aufklärung der Massen anbelangt, an oberster Spitze der Kulturvölker marschiert! Das den Maßstab und Pegel für die allgemeine Erziehung der werktätigen Massen zum Sozialismus geliefert hat! Das Land, das dem Schulkind, dem Berufsschüler, dem organisierten Arbeiter die vollendetsten Bildungsmöglichkeiten bietet! Und als Resultat: diese Ignoranz, bodenlose Verkehrtheit der Vorstellungen von Nationalismus, Sozialismus, Arbeiterschaft, Marxismus, Rasse.

Die Roheit und Verdummung, in die wir die Kultur breiter Massen allmählich versinken sehen, bedeutet aber mehr als ein lokales Symptom des Niederganges, der Zersetzung. Sie bedeutet im Allgemeinen: den Bankrott einer Zivilisationsepoche unserer heutigen Welt.

Was wir gegenwärtig voll Schrecken und Entsetzen erkennen, ist nicht allein die Katastrophe eines Volkes, ja der Völker Europas, des Machtprinzips und des Prinzips der Erziehung, es ist mehr: ein riesiges völkerphysiologisches Geschehen, riesige kosmische Welle, eine jener ungeheuren Strömungen, die ihre Parallele in dem Untergang bedeutungsvoller Kulturepochen der Vergangenheit, dem Zersplittern und Zerfall festgegründeter Weltreiche, Ninives, Babylons, Roms und Spaniens hat. Können Völker, Klassen, Individuen etwas ausrichten gegen Strömungen von ähnlicher Gewalt? Weltorganisationen zerschellen an dem katastrophalen Vorwärtstreiben solcher Entwicklung. Am deutlichsten beweist dies die Ohnmacht und der Zusammenbruch einer der machtvollsten Organisationen der werktätigen Massen, der evidente Bankrott der II. Sozialistischen Arbeiterinternationale. Ohne auf die Fehler, die Schwächen der durch ihre Führerschaft überorganisierten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands einzugehen – diese Führer haben die Macht fortgeworfen, als hätten sie sich die Hände an ihr verbrannt, worauf sie dann eben jene Partei der töricht widerspruchsvollen Parolen vom Boden aufgehoben hat –, ich sage: ohne auf das Exempel der S.P.D. einzugehen, beweist etwa die Haltung der englischen Labour-Regierung nicht zur Genüge, wie die Macht, der Besitz sogar, in den Händen fortschrittlicher Organisationen und bestgesinnter, bewährtester Arbeiterführer seine korrumpierende Gewalt erweist? Die fortschrittlichste Partei eines freiheitlich gesinnten Volkes stemmt sich der Weltentwicklung, dem erwachten Freiheitsstreben höchstkultivierter Orientvölker entgegen, scheinbar ohne Verantwortungsgefühl für die eigene Überzeugung, den Leitsätzen konservativer und reaktionärer Vorgänger in der Regierung gehorsam. Trifft sinnlos und verstört Maßnahmen, entschlossen, sich erst nach zähem, blutigem Kampf das entreißen zu lassen, was sie doch in ihrem eigenen ethischen Programm als oberstes Postulat aufgestellt hat: die Befreiung der arbeitenden Massen der Erde! Indien! Gandhi und die Seinen! Dieser Prozeß, der mit dem Untergang der Edelsten, Verantwortungsvollsten der morgenländischen Welt beginnt, dem moralischen Tode einer der mächtigsten, ehrwürdigsten Organisationen der abendländischen Welt weitergehen wird, um in seinem Verlauf den Tod zahlloser Millionen Menschen, in einem Jahrhundert des Mordens und der Zerstörung zu bewirken. – Das Versagen des Pazifismus ist ein weiteres Symptom des Auflösungsprozesses. Das Emporschießen der nationalistischen Kriegstendenzen hat die abgründige Verkehrtheit und Ohnmacht, wenn nicht die heillose Feigheit innerhalb der Formationen europäischer Friedensgesellschaften bewiesen. Wir sehen heute den Welt-Pazifismus, angesichts der immensen Gefahr, die den Frieden bedroht, den Kopf in den Sand stecken. Die bürgerlich-kleinbürgerlichen, von jedem wahrhaft sozialistisch Gesinnten längst – und wie man sieht, mit Recht – scheel angesehenen, wenn nicht offen verachteten Elemente, die die überwiegende Masse pazifistischer Vereinigungen bilden, verschanzen sich vorsichtig und ängstlich hinter Schlagworten, wie dem von der Heiligkeit des Lebens, philanthropischen Phrasen, die den Verderbern die Bahn freigibt, um sich selbst an den Wänden entlang zu drücken, womöglich unterwegs in einem und dem andern Haustor zu verkrümeln. Welcher Pazifist würde sich vermessen, heute laut zu verkünden, daß Männer, die Kriege zu entfachen gewillt sind, Köpferollen versprechen, Rizinus und Liparische Inseln mobilisieren und mobilisieren wollen, selbst zertreten werden müssen, damit Millionen ins Verderben zu Treibender, von Tanks zu Zerquetschender, von Gasschwaden zu elendem Sterben Geweihter am Leben bleiben!

Es gibt innerhalb des Pazifismus selbstverständlich Bewegungen und Aktionen, die aktivem Widerstand ähnlich sind. Da ist die Ponsonby-Aktion zur Verweigerung des Kriegsdienstes, besonders im Falle einer Mobilisierung. Da ist die Aktion Professor Quiddes gegen die Wiedereinführung der Dienstpflicht in Deutschland. Ehrlichkeit und Geradlinigkeit der Tendenzen solcher Aktionen ist unbezweifelbar. Jedoch sie richten einen zu dürftigen Damm gegen die schrankenlos heranbrechende Flut auf, die sie niederreißen und zermalmen wird, ehe man sich dessen versehen kann. Der Bankrott des Pazifismus ist nicht umsonst dem der II. Internationale eng verbunden, deren kleinbürgerlich gewordene Führerschaft vor den Konsequenzen der Macht zurückzuckt, deren Selbstbewußtsein sich allein in der Denunziation und Verächtlichmachung der Sowjetrepublik der Arbeiter und Bauern stärkt, von der Unantastbarkeit des Privateigentums durchdrungen, gegen den ersten großartigsten Versuch der Weltgeschichte, die Macht des Kapitals radikal zu stürzen, Front macht. Selbst in Ratlosigkeit zwischen den Klassen hin- und herirrend, dem Arbeiterproletariat entronnen, in kleinbürgerliches Bonzentum emporgestiegen, bekämpfen diese Führer den ersten entscheidenden Versuch zur Auflösung der Klassen, negieren wütend die heroisch konstruktive Politik der Sowjets, verstärken und verzehnfachen durch ihren Widerstand die Härten jener konstruktiven Idee des russischen Aufbaus. Die Leiden des russischen Volkes rühren zum großen Teil vom stumpfen Widerstand der in der Defensive träg und durch Kompromisse korrupt gewordenen Massen des außerrussischen Proletariats her. Die Krisen allein, die heute die Fugen der alten Ordnung sprengen, besorgen das, wozu die historische Mission des Sozialismus die Führer der II. Internationale drängen sollte. Die Leiden ihrer eigenen Massen, von Angriffsmethoden des bedrohten Kapitals entfacht, wollen diese Führer kaum wahrhaben. Die Irregeleiteten werden dafür eines Tages, vermutlich zu spät, Rechenschaft fordern.

 

Wäre eine Einigkeit der Werktätigen der Welt nicht unmöglich gemacht, so würde die Welt vielleicht von der nächsten entsetzlichen Katastrophe verschont bleiben können.

Längst glauben die Gläubigsten unter den aufrichtigen Sozialisten der Welt nicht mehr an das unmittelbare Eintreten der Weltrevolution. Hat der letzte Weltkrieg den Bolschewismus gezeugt, so ist damit noch keineswegs gesagt, der nächste werde den Sieg des Sowjetgedankens über die ganze Welt hervorrufen. Nicht die Weltrevolution wird im Gefolge des nächsten Weltkrieges eintreten, sondern die Weltanarchie. Wenn die Giftschwaden sich von den großen Zentren, den Kapitalen Europas verzogen haben werden, wird eine irrsinnige Welt in Erscheinung treten. Banden preisgegeben, ohne systematische Führung, vollends entgöttert, aus Hunger, Vernichtung und Seuchen emporröchelnd mit wolfähnlichem Geschrei durch entvölkerte Gebiete, beherrscht von dem Schrecken allein eines hoffnungslos vernichteten Daseins. Auf dem Trümmerfeld des alten Europa, aus Irrsinn und Verzweiflung, aus dem Grauen über das Versäumte, die Schuld, den paralysierten Willen, aus der Erkenntnis, daß es wieder die Verderber sind, die Nutznießer der Zerstörung, die die Trümmer der Welt nach Macht durchsuchen, wird erst eine kleine schüchterne, schmale Flamme sich erheben – das Wahrzeichen der Gerechtigkeit, die wahrscheinlich heute schon in einigen verstreuten Herzen unter den noch Lebenden brennt.

 

Ich sprach im Vorhergehenden resigniert über die Unwirksamkeit jedes individuellen, in besonderer Hinsicht auch jeglichen kollektiven Willens zur Ablenkung jener destruktiven Entwicklung, über die schmerzhafte Ohnmacht des Individuums, das das Versagen der kämpferischen Organisationen miterlebt und das Umsichgreifen der unabwendbaren Strömung, die heute, mit Europa beginnend, die Länder der Welt nacheinander mitreißt und umstößt, tatenlos ansehen muß. Die Erkenntnis dieser Ohnmacht lastet auf denen, die Verantwortung gegenüber der Gesamtheit fühlen, am schwersten. Die Wissenschaft hat als erste begonnen, das Ende des Zeitalters zu verkünden. Besonders die Mathematik hat den entscheidenden Vorstoß und Hieb gegen die Grundlagen unseres heutigen Wissens geführt, unsere Vorstellungen, unverrückbar scheinende Gesetze von Zeit, Raum, Zahl und Maß erschütternd. Nicht der Dichter hat sich in dieser Zeit als Seher erwiesen, sondern der Gelehrte. Schritte Tolstoi, lebte er heute noch, an der Spitze der Entwicklung? Das ist mehr als fraglich.

Noch vor kaum zwei Menschenaltern hat die Dichtkunst einen Seher hervorgebracht, den großen, vielfach verkannten Victor Hugo. Der sprach bereits 1870 von der Weltumwandlung, von den Vereinigten Staaten Europas, als Vorläufern der unter dem Sozialismus vereinigten Völker des Erdballs.

Seit Lenin hat die konstruktive Politik dieses Großen wohl Nachfolger, doch keinen Führer mehr hervorgebracht. Auf die Weltmoral aber scheint, tödlicher als je, das pessimistische Wort Renans zuzutreffen: daß die Moral keinerlei Fortschritte kennt.

Es mangelt ja nicht an Vorschlägen umfassenderer, offensiverer Art, als es jene Ponsonbys und Quiddes sind: H. G. Wells zum Beispiel hat in einer beachtenswerten Schrift: »The open conspiracy«, Gedankengänge klargelegt, die beherzigenswerte Einzelheiten enthalten. Ideen allerdings ausgesprochen reformistischer Art, die eine längere Periode geordneter Verhältnisse zur Voraussetzung haben. Wells meint: wohlmeinende und ihrer Verantwortung gegenüber der Zukunft bewußte Funktionäre der staatlichen und gesellschaftlichen, der ökonomischen Einrichtungen und so weiter sollten zu einer offenen Verschwörung zusammentreten, um die unter ihrer Führung stehenden Organisationen im Sinne ihrer eigenen innerlichsten Sauberkeit weiterzuführen.

Das Buch, das vor 3 Jahren erschienen ist, scheint heute, angesichts der in so rapidem Tempo fortschreitenden Auflösung des Gesellschaftsgebildes, offensichtlich überholt, fast Dokument einer Zeit des Friedens geworden. Es wirkt heute bereits naiv optimistisch, als ob diese veraltete Form, dieses brüchig und baufällig gewordene Gebäude noch durch Stützbalken gefestigt werden könnte. Zwischen diesen Vorstellungen und dem entschlossenen und entschiedenen utopischen von Unten-auf-Bauen, das sich gegenwärtig in Rußlamd vollzieht, klafft ein unüberbrückbarer Spalt. Das Ausmaß des bevorstehenden Völkermordens und der Zerstörung der Grundfesten unserer Gesellschaftsordnung, die dadurch hervorgerufene Weltanarchie zu überblicken vermag nur revolutionäre Phantasie. Es lohnt sich, dieser Phantasie einmal Spielraum zu gewähren, indem man die wirre Periode der Auflösung und der endlichen Katastrophe einfach überspringt und sich vorzustellen sucht, wie nach ihrer Überwindung der Aufbau einer neuen Ordnung unter den Menschen in die Wege geleitet werden könnte.

 

Sinn und Leitsatz der hier folgenden Ausführungen kann am besten durch das erhabene Wort Tolstois geklärt werden: »Widerstrebe nicht dem Übel!« Dieser Satz trifft besonders im Hinblick auf die Katastrophe zu, deren erste Anzeichen wir erleben und die aufzuhalten, wie bereits betont wurde, menschliche Energie unfähig ist. Ich spreche im folgenden absichtlich von einem Orden, weil es sich um Neuordnung des Weitgefüges handelt. Die Bezeichnung ist übrigens nebensächlich. Sie soll einen religiösen Sinn erlangen, zum Unterschied von jenen in ihrem Streben ähnlich gerichteten Gruppen zukunftsbewußter, Verantwortung in sich tragender Menschen, die hier und dort unter dem Druck der Erkenntnis des Bevorstehenden zusammengetreten sind und zusammentreten.

Was auf dem Grunde einer »Brüderschaft«, deren Bindung und Zusammentritt in diesen Zeilen erörtert werden soll, zu ruhen hat, ist: gefälschten, durch langen Gebrauch und Mißbrauch bis zur Unkenntlichkeit verzerrten Begriffen wie: Demokratie, Pazifismus, Nationalismus, Gleichheit, Freiheit, Religion zu ihrem reinen Sinn wieder zu verhelfen, sie in kristallklarer Wahrheit und Aufrichtigkeit hinüberzuretten, zu schmuggeln in eine Zeit, in der von Neuem anzufangen sein wird, weil sich die Fälschung und Prostitution der Grundbegriffe des Menschendienstes eben durch die vorhergegangene Katastrophe in schreckhaftester Weise geoffenbart haben wird. Eine Sammlung jener Geister ist zu versuchen, die von dem tiefen und wahren, keiner Fälschung zugänglichen Inhalt der Ideen, die jene erwähnten Begriffe und Worte (es gibt deren noch manche) verkörpern sollten, heute schon erfüllt sind. Menschen sind zu sammeln, die, frei von Lüge, von Eigennutz, von der Schlauheit, die aus Werten zweckdienliche Werkzeuge zurechtzimmert, Kraft und Ausdauer genug an den Tag legen, ohne Feigheit und Kompromiß, ohne Erlahmen hinüberzugelangen in jene Zeit des Alles-Neuaufbauenmüssens; die ihren Schatz unbefleckt bewahren wollen und es sich zutrauen, daß sie dies auch erreichen werden, ihr Verantwortungsgefühl gestählt, rein, dem Gebot gehorsam.

Heute schon ist die Sammlung solcher Menschen, die es hier und dort in der Welt auch gibt, notwendig. Denn die Arbeit, die sie zu leisten haben werden, beginnt schon heute.

Ehe aber von den Stadien der Aktivität einer solchen »Brüderschaft« vor, während, nach der Katastrophe, dieser »apokalyptischen Zeit«, die uns bevorsteht, geredet werden darf, ehe von ihren Pflichten und Zielen ausführlich geredet werden soll, muß ein Hinweis auf die Elemente erfolgen, aus denen sich diese »Brüderschaft« zusammensetzen muß. Auf die Menschen, die ihr angehören, und die, die ihr fernbleiben mögen.

Die Brüderschaft soll, wie gesagt, ein Orden sein. Keine Trennung ephemerer Klassen, keine Trennung von »Gebildet« und »Ungebildet« soll für ihre Formation maßgebend sein. Im heutigen Stadium der Entwicklung kommt es unter Menschen, die sich in einer radikalen Aufgabe zusammenfinden, nur darauf an: ob sie die Zeit begreifen oder nicht begreifen. Es kommt in diesen Zusammenhängen kaum auf die Jugend an, die ihrer eigenen Wege gehen muß und wird, sondern mehr auf Menschen mit Erfahrung und Distinktionsvermögen, die Lebensepochen überschauen können, die Erkenntnis nicht pessimistisch gestimmt hat, sondern klar und konsequent. Auf solche, in denen die Flamme lebendig, nicht von der Asche der Einsicht zugedeckt und erloschen ist. Wie jene flämische Brüderschaft, die sich besonders während schrecklicher Epidemien bewährt, ist die »Brüderschaft« gemeint. Sie hat, unähnlich jener Wellsischen konspirativen Gemeinschaft, die Tradition ausgeschaltet. Ihre Erfahrung wird kontrolliert durch das innere Gesicht – nicht allein jener bevorstehenden Zukunftsepoche, sondern einer Vollkommenheit des Gesellschaftsgefüges überhaupt. Es ist gleichgültig, ob unsere gegenwärtigen Begriffe von Schönheit, Lebensfreude, Komfort (Begriffe einer versinkenden Welt), ob unsere Vorstellungen von der Wichtigkeit, ja der Unumgänglichkeit technischer Errungenschaften, die sich ja bis zur völligen Mechanisierung unseres Lebens (die nur Rekorde beleben) gesteigert haben, ob unsere heutigen Vorstellungen von der Notwendigkeit und überhaupt von der Rolle der Kunst in der Menschengemeinschaft der Zukunft perpetiiert werden sollen oder nicht. Ob etwas von diesem Hab und Gut einer untergehenden Zivilisationsepoche hinübergerettet werden soll in eine neue, die emporsteigen wird aus Blut, Schlamm und Tränen.

Es ist unnütz, darüber nachzugrübeln, ob wir selber, die eine solche »Brüderschaft« formen wollen, unser physisches Leben in der Katastrophe verlieren werden oder nicht. Die Verantwortungsvollsten, die Mutigsten und Reinsten werden vermutlich schon vor der Katastrophe fallen von der Hand jener, denen Reinheit und Opferwille ein Dorn im Auge ist, ein störendes Element ihrer Geschäfte. Das Wort von »Toten auf Urlaub« wird sich diesmal in ungeheurem Maßstab bewahrheiten, in einer Verbrecherherrschaft, von deren Ausmaß noch kein Begriff besteht. Die kosmische Furcht vor dem Weltgeschehen muß überwunden werden durch strenge Einsicht in dieses selbe Geschehen, ohne Beschönigung, ohne Übertreibung, durch klare Kontemplation einer von Irrtümern zu verschonenden Zukunftsepoche, der Auflösung des Individuums in einem höheren, heute noch in seinen Konturen kaum erkennbaren oder umreißbaren, vollendeten Typus der verantwortlichen, kollektiven Gemeinschaft. Dies ist eines der Ziele. Dieses Ziel erreicht man durch theoretische Erörterungen, praktische Vorschläge, Darstellung von Erkenntnissen und der Wege, auf welchen man zu ihnen gelangt ist. Durch offen propagandistisch die Kritik herausfordernde, an Kritik lebendig lernende, revolutionäre Studiengenossenschaften, die nicht zurückschrecken auch vor der Kritik jener Institutionen politischer Parteien, die in ihren Intentionen heute schon dem erwünschten Zustand der zukünftigen Gesellschaft Vorbereitung leisten, in ihrem Zusammenschluß ihnen am nächsten gelangt zu sein scheinen. Mehr oder weniger sind ähnliche Institutionen und Parteien doch nur in der Vorstellung heutiger Zustände, unter den gegenwärtig gegebenen Bedingungen erreichbarer Zustände befangen, während die »Brüderschaft« ja eben die Zeit, in der wir leben, wie auch ihre unmittelbare Folge, die Zeit der Katastrophe bewußt überspringt.

Phantasie ist vonnöten. Ein sich Hineinversetzenkönnen in die Erfordernisse postapokalyptischer Zeitläufte. Die moralische und physische Depravation der Menschen durch das Bevorstehende vernichtet gewiß nicht die Grundlagen der ursprünglichen Anschauung von Gut und Böse, Göttlich und Untermenschlich, denn das Fortwirken und die Unerschütterlichkeit dieser Begriffe, durch die Struktur des menschlichen Fassungsapparates gewährleistet, hat ja bereits Epochen katastrophaler Erschütterungen des Menschengeschlechtes überstanden und überdauert.

Ist man erst von dem Gedanken beseelt, unter den Lebenden Ausschau zu halten nach Menschen, die einer Gemeinschaft wie dieser hier dargestellten angehören dürfen, so ist man niedergeschlagen durch den Mangel an der klaren Vorstellung der bevorstehenden Periode, besonders bei den Menschen des engsten Berufskreises, der sich um den seine Zukunftsidee Propagierenden erstreckt.

Eine Ahnung jenes Willens zur nächsten Kulturepoche findet sich bei spärlichen vorwärtsblickenden, vorwärtsschreitenden, religiösen Menschen, einem Fähnlein rebellischer Namen, die hier und dort wohl Geltung besitzen mögen – aber wie niederdrückend: die Schar der Beharrenden, durch die Routine Erstickten, in der Vergangenheit Zurückgebliebenen, jener Vergangenheit der im heutigen, stürmisch drängenden Leben besonders bemerkbar werdenden Reaktion – die Schar Jener ohne Pflichtbewußtsein, kaum für Heute, viel weniger für Dereinst Dahinlebenden. Wie bedrückend: der Anblick so vieler Starker und Dienstwilliger, die durch die Parteimaschinen gegangen sind, von der Disziplin Zermürbter, die im Zwang von Verordnungen, Vorstellungen der Notwendigkeit solcher Maßregeln vollständig gefangengenommen sind. Menschen der »Brüderschaft« haben sich von Vorurteilen (...), von dem Recht, über Menschenleben frei zu verfügen, aber auch von der Heiligkeit des Lebens jeglichen lebenden Individuums, des politischen Schädlings ebensosehr wie des Zukunftträgers, des »bewaffneten Propheten« (von dem Macchiavelli spricht); Gegenwartsanschauungen von der Verpflichtung gegenüber der Nation, der eigenen Klasse, der man nicht gesinnungsgemäß, sondern durch Geburt angehört, der Rasse, in der man wie in der eigenen Familie aufgehoben ist, der göttlichen und ephemer menschlichen Gerechtigkeit, gegenüber der eigenen Generation, dem eigenen Leben. Mißverständnisse, Schwankungen, Unstimmigkeiten, Denkfehler können nur ausgeglichen und beseitigt werden durch intensivste, beständige, gegenseitige Fühlung, Verständigung einer immer aufs neue, strenger und strenger durchsiebten Gruppe, die ihre Stimme schonen, ihre Wirkung nicht aufs Spiel setzen, vermindern wird, wenn der Orkan braust, den Sinn ihrer Arbeit erst erweisen soll, wenn der letzte Windstoß vorübergezogen, das letzte Gewitter verrauscht ist.

Daß die Welt der Übriggebliebenen, derer, die das Gewitter überdauert haben, nach der Vernichtung dieser heutigen, in Schichten, Rassen, Interessen- und Instinktgemeinschaften zersplitterten und auseinandergerissenen Gesellschaft, nach Ablauf der unbestimmten Epoche jener bevorstehenden Welt-Anarchie kommunistisch sein wird, diese Überzeugung muß als Voraussetzung für die innere Treue einer »Brüderschaft«, wie der hier skizzierten, angesehen werden. Nur unter diesem Gesichtspunkte vermag Jeder, der ihr angehören darf, auf dem ihm zugänglichen Studien- oder Berufsgebiet Nachforschungen anzustellen über die lebensfähigen und -trächtigen Keime einer zukünftigen Kultur.

Die Vereinigung aller arbeitenden, gleichberechtigten Menschen der Erde ist Voraussetzung dafür, daß eine auf Menschheitsgläubigkeit zurückgeführte Religion entscheidende Macht über die Zukunft erlangt.

Und noch Eines ist dabei zu betonen. In unserer Epoche erlebten wir die »Ächtung des Krieges«. (Welch schamlose Phrase.) Was aber geschah zur Ächtung des Krieges? Ist etwa die Soldatenkaste, die Kaste der berufenen Gewalt-Gläubigen, die durch Blutlust und Blutbürokratie gekennzeichnet ist, als menschlich minderwertig erkannt, geächtet oder unterdrückt worden? Sind Triebe, die auf gewaltsame, blutige Erkämpfung irgendwelcher national oder kulturell drapierter Vorteile innerhalb der menschlichen Gesellschaft als atavistisch, als »moral insanity« erklärt worden? Sind Individuen, in denen solche Gelüste alle übrigen Motive des Tuns dominieren, unterdrückt und paralysiert worden? Die Räuber und Mörder, nicht der Friedenszeit allein, sondern vornehmlich jene, die sich im Kriege betätigen, durch Drill und Zucht diese Instinkte des Krieges wiedererwecken und großziehen?

Das Mittelalter wird erst nach der Weltkatastrophe des nächsten, schrecklichsten aller Kriege liquidiert werden können. Wenn die Gasschwaden sich verzogen haben werden, wird, mitsamt dem Kriege, noch Manches liquidiert werden müssen, mancher heute herrschende Begriff fallen. Ich habe es betont: daß das verschüttete, vergessene Grundwesen zahlreicher Begriffe, die heute als ethisch, religiös, als Spitzenbegriffe der Menschheit angesehen sind, gereinigt, erneut, seinen Klang wiedergewinnen soll. Millionen werden untergehen. Die folgenden, nachher, sollen leben. Gleichgesinnte Menschen, die unter der Einsicht der Unmöglichkeit, dem Übel zu widerstreben, dem Schicksal in die Speichen zu fallen, ohnmächtig und unglücklich, isoliert und ohne Hoffnung dastehen, jeder in seiner Sphäre isoliert und verzweifelt, sie mögen sich von der Verantwortung der Tatenlosigkeit durch Brüderschaft entlasten und befreien.


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