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Kenntnis fremder Völker

Dies steht fest: die Völker kennen einander nicht. Kennen sie sich etwa selber? Davon aber ist hier nicht die Rede.

Allmählich beginnt die Wahrheit in breite Massen durchzusickern: daß Mißverständnisse zwischen den Völkern obwalten, tiefgründige Mißverständnisse in bezug auf Charakter, Anschauungsweise und Sitten der Völker. Daraus allein läßt sich der Haß erklären, der heute wie eine Chinesische Mauer zwischen Volk und Volk aufgerichtet steht. Haß ist Mißverständnis. Nun hört man aber auch dort, wo die Haßtrompete eben noch laut erscholl, das stillere Bedauern sich regen: daß man vom Mitvolk so wenig gewußt habe. Die Reue regt sich, darüber, daß man auf jene, die das eigene Volk über Art und Sitte des fremden Volkes, seine Kräfte und Energien hätten belehren können, zu wenig oder zu oberflächlich gehört habe. Da fragt es sich: wer war im Frieden eigentlich dazu berufen, einem Volke die Kenntnis der anderen, der Mitvölker zu vermitteln? Wohlgemerkt: nicht einer dünnen intellektuellen Oberschicht, sondern dem Volk.

Diplomaten sicherlich nicht. Die lebten in ihrer Gesellschaftssphäre, im Dunstkreis ihres Ehrgeizes, nicht mit dem Volke noch unterm Volke, zumeist gegen das Volk. Reisende Gelehrte, Austauschgrößen etwa? Die Mehrzahl kam mit einem Kopf voll Wissen, das heißt fremder Erfahrung daher, mit fertigen Systemen, denen sich das fremde Volk auf Gnade oder Ungnade zu fügen hatte, fand Bankette, vorbereitete Auskünfte, Potemkinsche Dörfer von Theorien und Einrichtungen vor, erfuhr vom wirklichen Volk wenig. Zudem gibt die Spezialisierung des Wissenschaftlers keine geeignete Grundlage für das Erfassen eines Volkskörpers – mit der Lupe in der Hand kann wohl die Gesteinsart festgestellt werden, aus der die Kathedrale gebaut ist, nicht diese, das ganze komplizierte Kunstwerk selbst. Der Kaufmann vollends lernt nur ein Segment des Volkes kennen und begreifen, einen Teil seines Charakters und seiner Entwicklungsfähigkeiten. Er ist kein verläßlicher Kundschafter. Seine Erfahrungen dürfen nicht generalisiert werden, wie dies jetzt zuweilen mit Vorbedacht geschieht. Welche Gefahr solche Einseitigkeit in sich birgt, erfahren wir heute.

Es gibt überhaupt keinen bürgerlichen Beruf, der seinen Träger zum Vermittler zwischen den Völkern prädestinierte. Wohl aber gibt es einen seelischen Beruf, eine Veranlagung, die das tut.

An ernsten und objektiven Schilderungen fremder Völker war ja im Frieden kein Mangel. Warum nur hassen und verkennen sich die Völker heute so intensiv? Zwischen dem Betrachter und seinem Objekt stand nur allzu oft der einheimische Kirchturm aufgerichtet. Resultate wurden zwar vermerkt, Vorbedingungen in Betracht gezogen, aber wie oft wurde Berichten das bewußte patriotische Mäntelchen, das pharisäische »Wir danken dir, Gott, daß wir nicht sind, wie diese!« umgehängt. Noch in den freudigsten, von Sympathie erfüllten Schilderungen gab sich der Beobachter gern als erkorener Herold und Wortführer der heimischen Zivilisation; dem vollen Drange, sich dem Fremden hinzugeben, zu lieben, erwuchsen Hemmungen und Hindernisse aus falsch verstandener Pflicht.

Ja, zu lieben. Verstehen ist wohl eher Lieben als Verzeihen. Der sich in fremdem Lande glücklich gefühlt hat, in sich eine stumme Saite plötzlich schwingen, erklingen hörte, der sich nach jenem Lande, nach jenem Klang zurücksehnte, kann ein besserer Patriot sein, als der seinen Geburtsort nie verlassen hat, körperlich, geistig, in politischer Hinsicht.

Unter fremdem Volk zu reisen, sein Leben zu teilen ist ja nicht Sache der Wanderlust, der Sucht nach Neuem, nach Abwechslung, ja sogar nicht des Wissensdurstes – es ist eine wichtige Mission, eine verhängnisvolle Aufgabe. Auch wer mit der ernstesten Absicht reist, das fremde Volk zu verstehen, lernt das Volk nur verstehen, wie sich ihm seine Sprache durch die Grammatik erschließt, selten durch die Aussprache der Worte; wie schwer wird es ihm, sich hüben und drüben verständlich zu machen.

Gehört zu werden verdient vor allem der Kosmopolit. Er ist der berufene Vermittler zwischen den Völkern.

Das hauptsächlichste Wesensmerkmal des Kosmopoliten ist zuverlässige Weltfreundschaft. Die Fähigkeit, sich überall einleben zu können, die Gabe, scharf und doch instinktiv gerecht zu unterscheiden. Jedem Klima gewachsen zu sein ist das Vorrecht stumpfer Nerven und verschlafenen Intellekts. Der Kosmopolit aber verfügt über den tätigsten, differenziertesten Gefühlsapparat, den die berauschende Welt nicht zu überrumpeln, zu betäuben, wohl aber vielfach in Schwingungen zu versetzen vermag. Die Welt tönt aus ihm; sie hat sich ihr Instrument gut gewählt; der Ton klingt rein.

Die Grenzen zwischen den Völkern sind nun einmal da. Es sind nicht nur Sprachgrenzen, Temperamentsgrenzen, sondern Grenzen, schärfer gezogen als jene, für Systeme, die diesseits der bunten Pfähle ein Volk verdumpfen, jenseits ein anderes übermütig machen können. Aufgabe des Kosmopoliten ist es nicht: mit einer gewissen innerlichen Belustigung diese Kontraste zu genießen und mit Behagen und Ironie herauszuarbeiten, noch: sich zum Richter aufzuwerfen über hüben und drüben, ein Volk gegen das andere auszuspielen; sondern seine Aufgabe ist, kraft seines Gefühls für Welt und Menschheit, ungeachtet der Gegensätze, die so verschiedenen Völker einander näherzubringen. Sie zur Einsicht etwaigen Widersinns in ihren eigenen Existenzbedingungen und zur Nachdenklichkeit über die Rechte, Errungenschaften ihrer Mitvölker zu leiten. Der Kosmopolit hat die Aufgabe, das Leben der Menschen auf diesem Erdball erträglicher zu gestalten. Besitzt er die Fähigkeit, durch die Schrift zu wirken, so ist ihm diese Aufgabe zugefallen, und er muß sie so auffassen, daß er die Verpflichtung habe, möglichst tiefen Schichten des Volkes die Lehre und Verheißung zu vermitteln. Alles andere ist Sport, Selbstbespiegelung, toter Wissensballast oder bare Unterhaltungslektüre.

Ich möchte die Behauptung wagen: die Echtheit des Kosmopolitentums verrate sich im sozialen Gefühl, in der Erhebung des Individuums über die Klassen. Schroffer als dem Ewig-Einheimischen gibt sich dem Manne, dem der Erdball sich erschließt, der Widersinn der Klassen-Gegensätze, Klassen-Absonderungen kund; er gewinnt auch ein besseres Urteil über die im ewigen Schwanken befindlichen Begriffe arm und reich, deren Maßstab ja ebenfalls nach der Verschiedenheit der Grenzpfähle wechselt, und ebenso über die Begriffe der politischen Macht und Demütigung.

Im Grunde ist keiner besser befähigt, die Zustände seiner eigenen Heimat, des Volkes, in dessen Mitte er lebt, zu beurteilen, als der Kosmopolit. In Ländern ohne politische Gleichheit, in Ländern ungeheuerlichster Gegensätze zwischen arm und reich ist die Atmosphäre rettungslos infiziert. Dies erkennt, empfindet niemand intensiver als der Kenner fremder Völker und ihrer Daseinsbedingungen. Er sieht, er durchschaut Kultur, Wissenschaft, ästhetische Werte in der Kunst, in den Zusammenhängen der Gesellschaft, den Dingen der inneren und der täglichen Existenz, mit freierem und sicherem Blick als der in engem Kreis Befangene. In Zeiten des Hasses, der kleinlichen, verlogen-rechthaberischen Einstellung auf den eigenen Standpunkt sollte man überall der Stimme des Kosmopoliten mehr Beachtung schenken, als es geschieht. Daß dies im Frieden nicht genügend geschah, sehen die Völker der Erde jetzt ein – im Maße, wie die Verblendung von ihren Augen zu weichen beginnt.

Das kommt daher, daß man nur allzu leicht gewillt war, den Kosmopoliten mit dem Globetrotter zu verwechseln – einem Produkt der erhöhten Verkehrsmöglichkeiten, den die Sucht nach Abwechslung aus seiner Langeweile in die Welt trieb.

Der Kosmopolit aber, den Weltliebe in die Ferne zog, ist in mancher Beziehung ein Menschheitspionier zu nennen, ein wahrer Kreuzfahrer dieser Zeit.


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