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Mehr anonyme Briefe!

Wohl dem, der auf seinem Frühstückstisch neben den nahrhaften Dingen, die ihm die Arbeit der Morgenstunden erleichtern helfen sollen, noch ein Päckchen Briefe vorfindet, ein hübsches Häuflein von Briefen, die nicht allein deswegen an ihn gerichtet wurden, weil sein Name im Telephonbuch steht. Frohgemut wird er die Adresse auf den Umschlägen besehen und wahrscheinlich zuerst jene Briefe öffnen, deren Umschlag eine ihm unbekannte Handschrift trägt. Auch wenn auf einem oder dem andern Umschlag sein Name von der vertrautesten Freundeshand geschrieben steht, wird er wahrscheinlich jene zuerst öffnen. Und vielleicht wird sich zwischen jenen Briefen einer finden, der keine Unterschrift trägt und der doch von Freundeshand geschrieben ist.

Es werden viel zuwenig anonyme Briefe geschrieben. Große Verschlossenheit, über die man nicht laut genug klagen kann, trennt die Menschen voneinander. Alles, was man sich gegenseitig sagen möchte und sagt, kommt leicht schief oder um einige Grade kühler, als es gefühlt wurde, über unsere Lippen. Es braucht nicht gerade die Trägheit des Gefühls hieran schuld zu sein. Viel öfter tragen irgendwelche Vorurteile die Schuld, anerzogene Vorurteile, landesübliche Schranken zwischen den einzelnen Schichten der Bevölkerung, schlimme Erfahrungen, aber vielleicht auch große Innigkeit, die sich schämt und verbirgt, Wahrhaftigkeit, die unfruchtbar bleibt, weil sie sich nicht auch in Taten Luft zu machen versteht. All diese und tausend andere Ursachen tragen zur baren Veroberflächlichung unserer Beziehungen bei. Wie oft nimmt man wahr, daß eine Unterhaltung gerade an dem Punkte, an dem sie die intimsten Lebensfragen zu berühren verspricht, plötzlich in entgegengesetzter Richtung abschwenkt, haltlos und seicht über unwichtige Dinge hinwegplätschert, daß man zu schwätzen anfängt, wo man sich und den anderen eine Lebensstunde verschaffen könnte, an der die Erinnerung lange noch zu zehren hätte! Auch um schriftlichen Verkehr vom Menschen zum Menschen: wie viele Hemmungen, wieviel Angst, welches Hin und Her zwischen Halbgesagtem, welches Herumschleichen um das Gefühlte, welch ein ängstliches Suchen nach dem Ausdruck – andererseits im Empfänger welches Unbehagen, welche Beschämung und Unsicherheit, wenn sich die Empfindung einmal in einer allzu heftig scheinenden Intensität des Ausbruches zeigt. Alle unsere Beziehungen zueinander tragen den Fluch einengender gesellschaftlicher Form mit sich herum, einer Form, die zu Unrecht als Zeichen für Kultur gilt.

Es ist nicht nur Neugierde, die einem die Hand führt, wenn man aus der Morgenpost die Briefe mit unbekannter Schrift heraussucht. Auch nicht allein die Erwartung von etwas Außergewöhnlichem. Eine Äußerung, die uns aus lauer Lethargie aufrüttelt, Wahrheit erkennen läßt, zur Aktion aufmuntert, wird unserem Leben auf alle Fälle, mag sie kommen, woher sie will, Gewinn bedeuten; unserem Leben, das ja doch mit so vielen bleiernen Nieten der Gleichgültigkeit und lahmen Gewohnheit belastet, in seinem Tempo beeinträchtigt, durch die Jahre dahingeht. Es wäre gewiß zuviel gesagt, wollte man behaupten, daß es der Instinkt der Selbsterhaltung sei, der uns nach den unbekannten Briefen zuerst greifen läßt, sicherlich aber ist es derselbe Instinkt, aus dem uns Hoffnung und Daseinslust und ähnliche schöne Dinge erblühen.

Vielleicht ist's nach dem schon Niedergeschriebenen überflüssig, zu bemerken: daß hier nicht von jenen Briefen gesprochen werden soll, an die man gemeinhin zu denken pflegt, wenn man die Worte »anonyme Briefe« hört, das heißt von Briefen, die verleumdungssüchtige Feigheit diktiert hat. Ebensowenig soll hier von Leuten die Rede sein, denen der Empfang solcher anonymer Briefe weiter nichts bedeutet als einen gar nicht unangenehmen Kitzel. Ich kenne Leute, die sich damit gebrüstet haben, daß sie täglich ein halbes Dutzend oder mehr von offenkundigster Mißgunst und Gemeinheit eingegebener anonymer Briefe auf ihrem Frühstückstisch vorzufinden pflegten, und die sich dann baß grämten, als diese Briefe ausblieben: weil dies ihnen ein Beweis dafür schien, daß die Öffentlichkeit sich mit ihnen weniger und weniger, zuletzt gar nicht mehr befaßte. Von solchen Fanatikern der Eitelkeit sei hier nicht die Rede, sondern von jenen, die ernsten Sinnes nach dem Widerhall hinhorchen, den ihr Dasein in der Welt hervorruft.

 

Eines der schönsten Geschenke, das die Welt dem arbeitenden Menschen machen kann, ist: daß sie ihn spüren läßt, wie er wirkt. Daß seine Arbeit nicht im Leeren verpufft. Daß seine Arbeit, die sein Schicksal ist, das Schicksal fremder Menschen beeinflußt und fremde Tatkraft anspornt. Daß aus seinem eigenen Wesen heraus sich Kreise in der Welt ziehen, und was er fühlt und äußert, der Welt nicht sozusagen zum einen Ohr hinein- und zum anderen hinausgegangen ist.

Freunde und Gleichgesinnte aus dem nächsten Umkreis können dieses Gefühl der Freude und der Selbstbestätigung nicht in dem Maße vermitteln wie der erste beste Unbekannte. Freund eines Freundes sein bedeutet ja schon Übereinstimmung, Einfluß aufeinander, demselben Willen und Gesetz gehorchen. Das ist ja gerade das Edelste an jedem Streben, dessen Ziel nicht in der eigenen Tasche liegt: ein vages Hinausschleudern der Sehnsucht ins Unbekannte. Darum bringt eine Stimme, die aus dem Unbekannten zurückschallt, den besten Lohn, den die Welt zu vergeben hat: das Positive, das kein Streben auf die Dauer zu entbehren vermag. Jawohl, aus dem Unbekannten. Und man darf füglich bemerken, ein wenig beschämt und ein wenig traurig, daß jenes reine Gefühl der Freude und der Selbstbestätigung um so stärker und befreiender wirkt, je weniger sich die Stimme aus dem Unbekannten herauslöst. Ein Unbekannter, der sich plötzlich als Freund und Gesinnungsgenosse entpuppt, zu erkennen gibt, sich auf die Brust schlägt, hier wohne ich, so und so lautet mein Name, dies meine Beschäftigung und so weiter, begeht die Indiskretion, etwas für sich persönlich in Beschlag zu nehmen, was eigentlich an die Allgemeinheit gerichtet war. Er nimmt einen beim Wort, das man ihm gar nicht gegeben hat. Mit einemmal sind die Rollen vertauscht: der Unbekannte ist einfach dadurch, daß er nicht mehr unbekannt ist, ein Gläubiger dessen geworden, dem er Dankesschuld abtragen wollte. Dieser hat wohl einen Freund gewonnen, aber die Erfahrung hat ihn ja gelehrt, was das bedeutet, »ein neuer Freund«! Ein neuer Freund, das bedeutet: Befangenheit am Anfang, Mißverständnisse im Weitergehen, Paktieren, sich mühsam aufeinander Einstellen, Ernüchterung, vielleicht Feindschaft am Ende. Der Anonyme hingegen, der nur Freundlichkeit erweisen will, ohne die geringste private Genugtuung davon zu erwarten und einzustecken, lediglich um der Freundlichkeit willen, das ist der richtige Wohltäter, der reinste und treueste unter den Freunden.

Denn unendlich mehr als das Bewußtsein, diesen und jenen und noch hundert andere zum Freunde gewonnen zu haben, unendlich kostbarer ist es, die Atmosphäre um sich von einer freundlichen Strömung angefüllt zu empfinden.

Deshalb sag ich, daß viel zuwenig anonyme Briefe geschrieben werden. Es ist wahrscheinlich zu viel Egoismus und zu wenig Freundlichkeit in uns Menschen vorhanden. Wie viele hunderttausend anonyme Kräfte wirken rings um uns in der Welt, um uns zu unserem Leben zu verhelfen? Auf allen Gebieten des menschlichen Wissens wirken Scharen uneigennütziger und opferwilliger Helfer im Dunkeln, das um ihre persönliche Existenz niemals gelichtet wird. Es ist ein großer und verhängnisvoller Fehler geschehen dadurch, daß die Anonymität gerade in den geistigen Berufen aufgehoben wurde. Daß gerade in den Berufen, deren Zweck es ist, der Allgemeinheit die Bahn zu zeigen, das Gefühl sich sofort durch einen Namen, der darüber gebreitet oder darauf geklebt ist, sozusagen bar bezahlt macht; auf alle Fälle sich durch diesen persönlichen Umriß, in den es hineingezwängt wird, vor der Öffentlichkeit automatisch abschwächt. Wie die Dinge liegen, ist das persönliche Interesse an dem Träger eines Gefühls, das aufs Allgemeine gerichtet ist, vom Übel und rächt sich ja auch oft genug in grausamster Weise.

Das beste und wirksamste Mittel gegen das Überwuchern des Persönlichen in dieser Beziehung ist daher, daß sich wenigstens die Allgemeinheit anonym verhält.

Aber es gibt noch eine Art von anonymen Briefen, die in beträchtlicher Höhe über jenen steht, in denen sich lediglich freundliche Zustimmung und Ermunterung kundgibt. Das sind die seltenen und kostbaren Schreiben, deren Absender richtig helfen wollen. Nicht durch freundliche Zustimmung und Ermunterung allein, vielmehr durch uneigennützige Hingabe einer reellen Kraft.

Wieviel Erfindungsgabe, Gedankenreichtum geht in jedem von uns einfach verloren, weil sie nicht dazu gebraucht werden können, unserem eigenen Gewerbe zugute zu kommen. Weil sich kein System hinter ihnen erhebt. Weil unser Egoismus von ihnen nicht direkt profitieren kann und weil es obendrein noch mit Mühe verbunden ist, sich ihrer zu entledigen.

Im Theater fällt uns, die wir keine Schauspieler sind, eine kleine Nuance ein, durch die der Mann oder die Frau, die eben auf der Bühne stehen, ihre Rolle wirkungsvoller pointieren könnten. Warum setzen wir uns, zu Hause angelangt, nicht einfach hin und schreiben dem Schauspieler einen anonymen Brief in der Absicht, ihm diese kleine Wirkung zu schenken? Es ist von einer großen Arbeit die Rede, die unternommen wird, um eine Erfindung für die Allgemeinheit in nützlichster Weise ausbeuten zu können. Warum setzen wir uns nicht hin und machen den Männern, die sich irgendwo in einem Bureau die Köpfe zerbrechen, Mitteilung von einer praktischen Wahrnehmung, die wir gemacht haben und die jenen Männern vielleicht ein Stück Arbeit ersparen könnte?

Wenn mehr Hilfsbereitschaft in der Welt wäre, ein innigeres Gefühl für das Zusammengehen aller mit allen, wenn nicht jeder so ingrimmig auf seinen eigenen Nutzen, sondern vielleicht etwas mehr auf den Nutzen der Gesamtheit bedacht wäre, dann würde die Post vermutlich mehr anonyme Briefe befördern, als sie es heutzutage tut. Aber in einer Gesellschaft, wie die unsere es ist, in der jeder sich in einer Arbeit spezialisieren muß, in der jeder einen scharf umgrenzten Posten ausfüllen muß, um zu gelten, ja um existieren zu können: da liegt die Gefahr nahe, daß solche Briefe von dem Empfänger in heller Entrüstung in Stücke gerissen und in die Ecke geworfen werden. Wer in unserer heutigen Gesellschaft einen Posten auszufüllen hat, sitzt sozusagen bis an die Zähne bewaffnet auf diesem Posten und wird jede Einmengung in seine Angelegenheit als eine Anmaßung auffassen, als arrogantes Besserwissen, ja als persönliche Beleidigung! Hilfsbereitschaft und ähnliche freundliche Tendenzen gelten dort, wo sie unaufgefordert zu betätigen sich erfrechen, als Übergriffe und können natürlich nicht schroff genug zurückgewiesen werden.

Der unaufgefordert Hilfsbereite aber, der weiße Rabe, der seltene Vogel, der hoffnungslose Sonderling, der wahre Christ läßt sich dadurch nicht beirren. (Zum Glück schützt ihn ja gerade seine Anonymität davor, die größte Genugtuung zu erlangen: nämlich für das Gute, das er tat, Böses einzuheimsen.) Vielleicht gelangt sein Brief gelegentlich doch an die richtige Adresse.

Wer das tiefe Glück genossen hat, daß ihm solch ein weißer Rabe, solch ein Mitmensch sein Vorhandensein in dieser Welt durch Schriftzeichen auf einem Stück Papier am frühen Morgen kundgab, der hat wahrhaftig auf seinem Frühstückstisch eine nahrhaftere Speise als Hafergrütze vorgefunden. Den freut die Arbeit, die er am Morgen leisten wird, noch einmal so sehr. Er schaut aus seinem Fenster auf die Straße hinunter: die Menschen unten gehen in einem Glanz.


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