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Ideale an Wochentagen

Man traut sich kaum mehr recht, es so einfach hinzuschreiben: »Ideal«, dieses Wort, an dem herumgedoktert wurde wie an keinem zweiten im Wörterbuch, bis es etwas Vages, Hybrides geworden ist, eine schale Abstraktion, gut genug, das wahrhafte Ding, das es bezeichnen soll, irgendwohin weit weg von uns zu praktizieren, in eine respektvolle Entfernung zu schieben, wo es möglichst harmlos wird und lieblich anzuschauen. Wohin man mit seinen naturgemäß schwachen Menschenkräften gar nicht mehr langen kann. Und von wo aus es einem überdies auch nichts mehr anzuhaben vermag.

Setzt man ein etwas näherliegendes, verständlicheres Wort an Stelle von Ideal, etwa: »Menschlichkeit«, »Würde« oder »Pflicht«, so sieht sich das Ganze gleich vertrauter an. Nicht mehr wie ein uneinlösbares Versprechen, nicht mehr wie ein kindischer Wahn oder ein Kindheitstraum, auch nicht mehr wie eine in der Tasche geballte Faust. Sondern schon eher wie ein solider und ehrenwerter Gebrauchsgegenstand, an den wir uns getrost halten können. Der uns zu unserer Existenz dient. Den wir anziehen können, wenn's uns friert, mit dem wir uns säubern können, wenn wir uns beschmutzt fühlen. Den wir meinetwegen wegschenken können wie ein Stück von unserem Mantel oder wie ein Stück Seife von unserem Waschtisch.

Hat man eine Zeit gelebt und doch noch etwas für die Menschen übrig, so ist da weit und breit kein betrüblicheres Schauspiel als dieses: wie fast jeder irgendwo sicher verborgen etwas Hohes und Reines in seinem Innern herumträgt, diesem Idealen aber, wenn man es so nennen darf, täglich und stündlich zuwider lebt. Frierend und beschmutzt läuft einer einher zwischen Frierenden und Beschmutzten, daweil der Mantel im Schranke hängt und von der Seife die eingeprägte Fabrikmarke noch nicht abgewaschen ist. Die paar über die Stadt verstreuten Springbrunnen und die spärlichen offenen Kohlenbecken, an denen wir Obdachlosen vorbeilaufen, belehren uns nur um so schmerzlicher darüber, wie schmutzig wir sind und wie kalt es um uns herum ist.

Eine Zeitung zu halten, die unsere eigene politische Anschauung vertritt, aus der Leihbibliothek die Bücher jener Autoren zu holen, die annähernd unsere eigene Sprache sprechen – wenn das genügte! Vielen genügt es. Aber Menschen, die einen Diätfehler als strafwürdiges Verbrechen an ihrer Gesundheit erachten, werden schon, nach ihrem Umgang befragt, staunend entgegnen: »Was hat das damit zu tun?« Und andere, mit dem Nimbus des Wohltäters um die erhobene Stirn, stehen unbekümmert bis an die Kniee im Schmutz, woher ihr Geld kommt. Alle aber haben, das ist das Merkwürdige, das ist das Niederdrückende, etwas Hohes, Reines, Unbefleckbares und Unerreichliches, daran sie glauben, ohne daß ihr Lebensgefühl dabei irgendwelchen Schaden erlitte.

Wer von uns, die wir um des Lebens Notdurft zu sorgen und zu kämpfen haben, findet den Mut: die äußeren Formen einer Existenz durch das enge Sieb der inneren Pflicht rinnen zu lassen? Man ist abhängig.

Konfrontiere doch diesen Begriff Abhängigkeit zu Hause, wenn du allein bist, mit deinem Ideal! Abhängigkeit ist das gangbarste Argument gegen die Betätigung des Ideals. Um nicht zu sagen: sein wirksamstes Gegengift.

Man soll von Menschen, die schlecht und recht ihr Leben fristen, Erwerb, Sorge und Demütigung kennen, keinen Heroismus verlangen. Ich will das wiederholen: man soll doch von uns keinen Heroismus verlangen! Heroismus soll das Vorrecht einer kleinen begnadeten Schar bleiben, die exaltiert, selbstbewußt und befriedigt zugrunde gehen mag.

Dem Mann der breiten Masse, dem Mann des großen Demos, auf den alles ankommt, soll man keinen Heroismus zumuten. Ebensowenig, wie man ihm die Waffe zum Selbstmord in die Hand drücken soll, denn auf wirtschaftliche Ausrottung des Helden und seiner Nächsten dürfte es dabei wahrscheinlich ankommen.

Hier erlaube ich mir einzuschalten, daß ich bei diesen Ausführungen ästhetische Ideale nicht im Sinne habe. Stellen Sie sich bitte einen Mann vor, der in der belagerten Stadt Adrianopel ein Schaufenster nach künstlerischen Prinzipien aufbauen wollte. Der Mann müßte standrechtlich erschossen werden. Nicht anders sollte es uns hier oben in den westlichen Ländern der gesicherten Zivilisation ergehen. Mit was für Fragen verzetteln wir unsere Energie und Daseinslust! An was für Läppereien hängen wir unsere Herzen! Während blutiger Hohn von dort unten herauf- und über unser glorreiches Jahrhundert hinweggellt, etwas Ungeheuerliches, Unermeßliches, ein Jammer ohne Namen aus ermordeten Ländern zu uns herüberstöhnt, gedenken wir unserer, leider im Argen liegenden Kultur durch russisches Ballett und futuristische Sudeleien und Spielopern vorwärtszuhelfen.

Gerade um diese Zeit herum würde es sich empfehlen, etwas vorsichtiger mit dem gefährlichen Wort »Ideal« umzugehen. Es womöglich gar nicht auszusprechen, wenn nicht aus anderem Grund, so doch aus Schamgefühl. Anderthalb Tagereisen weit im Südosten unseres Weltteils zeigt es sich, wie Großes und Mächtiges das vielgepriesene europäische Gewissen in den letzten vier Jahrhunderten geleistet hat. Dieses Gewissen, das wir heute in die Ferien zu allerhand Firlefanz schicken dürfen, nicht wahr? Tausend Pioniere an der Front der Menschheit dahinmarschierend, die Erwählten der Generationen, die Fackelträger und besorgten Hüter von allem, was hoch und rein war in der Vergangenheit und hoch und rein bleiben soll in aller Zukunft. Man erkennt wohl heute den Geist dieser Auserwählten in den Geschehnissen der Weltgeschichte, die wir miterleben, oder etwa nicht?

Es würde sich wahrhaft empfehlen, reumütig den Blick von jenen Höhen abzukehren und lieber zuzusehen, was der gar nicht Besondere, der Mann des Durchschnitts in seinem kleinen Werkeltag tun und erreichen kann. Vielleicht liegen die Ideale da verborgen.

Gerade dies: diese Distanz von unserem Alltag, dessen Sklaven wir sind, bis zu unseren Idealen, zu denen wir nicht hinaufreichen, beweist, daß wir an beiden verzweifeln dürfen, so wie sie heute gegeneinander stehen.

Wenn's heute eine Pflicht, ein Göttliches, das heißt Menschenwürdiges gibt, so ist es dies: die abgrundtiefe Ungerechtigkeit in den Ursprüngen und Schichtungen unserer Gesellschaft zu erkennen und sie auszugleichen zu suchen. Sein Leben so einzurichten, daß man nicht in einem Atemzuge bürgerliches Behagen von sich bläst und im nächsten Atemzuge die Not und Pein um sich beseufzt. Daß man nicht mit der geübteren Rechten Profit einsackt und dann mit der anderen Hand ein wenig Wohltätigkeit zwischen den Fingerspitzen zerkrümelt. Daß man nicht zweierlei Lächeln um seine Mundwinkel feilhält, ein geschmeicheltes und ein leutseliges. Daß man sich nicht daran gewöhnt, aus seiner Zeitung, die des wunderbaren, betörend vielfältigen Lebens Spiegel ist, Erschütterndes und den Kitzel gleich oberflächlich auf sich wirken zu lassen.

Man möchte heute, durch die Gegenwart belehrt, behaupten, daß der treuer dem Ideal dient, der seinem Alltag eine Reihe von verschwindend kleinen Opfern auferlegt, als der, der mit großen Phrasen in die Luft sticht. Immer mehr lernen wir ja einsehen, daß von oben herab, wo die Auserwählten der Macht, des Geistes und der Schönheit stehen, wenig an dem Lebensunrecht geändert wird, das sich täglich aufs neue vor unserem empörten Sinn abspielt. Man kommt auf den Gedanken, daß die Kultur ihre treuesten Hüter vielmehr an jenen hat, die in kleinem, hartnäckigem, bewußtem, kaum bemerktem Wirken die große Ungerechtigkeit kleinweise auszugleichen suchen. Die Rücksicht auf ihre Nächsten nehmen. Ihren Mitmenschen an winzig kleinen, aber fortgesetzten Beispielen zeigen, daß etwas lebt, was Güte und Milde heißt, Pflichtbewußtsein gegen sich selbst und Respekt vor der Würde des anderen. Gewiß, so zu handeln bedeutet eine schwere Sorge, die man sich auferlegt. Aber man sehe nur zu, wie diese eine neue Sorge die anderen, die man schon vorher auf dem Rücken trug, leichter macht.

Eine kleine Anleitung, wie man sich anstellen soll dabei, wird hoffentlich nicht als Anmaßung gedeutet werden. Sie bezieht sich auf die ersten Stunden des Tages. Beim Frühstück, während man Butter auf sein Brötchen streicht, darf man sich vielleicht vornehmen, im Laufe des Tages Namen und Adresse des armen Schulkindes auszukundschaften, das vor Morgengrauen dies Brötchen vom Bäcker in dem Frühstücksbeutel gebracht hat. Beim Fortgehen mag man im Vorzimmer selbst in seinen Paletot schlüpfen und dem Dienstmädchen ein freundliches Danke sagen, während man ihr diese kleine Mühe abnimmt, für die sie ja doch bezahlt wird. Dafür Sorge tragen, daß dieses Mädchen in Zeiten, da es sich schonen muß, die Hauswäsche nicht zu waschen, keine Kohlen zu tragen, das Teppichbürsten nicht zu besorgen habe. Im Geschäft hinter die Verkaufspulte Stühle hinstellen, damit die bleichsüchtigen Ladenmädchen sich setzen können mitten in ihrer Arbeit.

Und übrigens auch in den späteren Stunden des Tages, wenn mit der Frische die guten Vorsätze erlahmen und fremde Böswilligkeit es einem nahelegen will, daß man lieber selber hart und rücksichtslos sein sollte – sich zum Gegenteil zwingen. Mit aller Gewalt zwingen. Wie zu einem Sport, den man der Mode wegen mitmacht, sich zur Güte und Nachsicht trainieren. An dem Anblick eines ausruhenden Arbeitsmenschen gleiches Entzücken finden wie an der Schnellkraft eines graziösen und geschmeidigen Ballettänzers. Vielleicht kommt man den Idealen auf diesem Wege etwas näher.


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