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Der neue Intellektuelle

Aus einer Ansprache vor der Internationalen Studentenvereinigung, Berlin, gehalten am 4. Mai 1931, an der Universität Berlin

– – – Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, etwa 80 Jahre nach der Erklärung der Menschenrechte durch die französische Revolution und etliche Jahrzehnte nach dem Aufstand der Dekabristen, junge Studenten russischer Universitäten, die in der Geschichte der geistigen Umwälzungen unserer Zeit unter dem Namen der »Narodniki« fortleben, sich unter das Volk, das bedrückte, niedergehaltene und leidende Volk Rußlands begaben, da war zum erstenmal eine Bresche in die Mauer geschlagen, die den Intellektuellen vom körperlich arbeitenden Volk trennt. Diese jungen russischen Studenten wollten die breiten Massen in ihren Lebensbedingungen, Wünschen, Hoffnungen, Enttäuschungen und Resignationen durch eigene Anschauung, durch Mitfühlen, Mitleiden, Gemeinschaft erkennen. Hilfsbereitschaft, tätige Arbeit, Aufopferung war das Wesen dieser Suche nach Erkenntnis. In der Tat mengten sich die »Narodniki« vorerst unauffällig unter die Schichten des niederen Volkes; Söhne aus vornehmen Familien, aus den bevorzugten Klassen nahmen die schweren Arbeiten von Dorfbewohnern auf sich, unauffällig, da ja die Staatspolizei wachte und jeder Versuch, die unteren Massen aufzuklären, den unteren Massen Hilfe zu leisten, als Staatsverbrechen geahndet und bestraft wurde. – Ich brauche Ihnen, die Sie die Not und auch den Elan unserer heutigen Tage kennen, nicht länger zu erklären, was es mit dem Gebilde des »Werkstudenten« auf sich hat. Ich habe vor dem Krieg in den Vereinigten Staaten viele solcher Werkstudenten kennengelernt, die sich, um das Lehrgeld und die Gebühren des bevorstehenden Semesters an den Universitäten bezahlen zu können, im Sommer auf Farmen als Erntearbeiter verdangen, auch in kleinen und größeren Städten Kellnerarbeit, Kutscherarbeit und ähnliches leisteten. Meines Wissens haben sich europäische Studenten, um die Zeit, in der die Amerikaner mit solchen Ausübungen nichtintellektueller Arbeit begonnen hatten, diesen Gedanken noch nicht zu eigen gemacht. Erst die veränderten Verhältnisse nach dem Krieg, der die Klassen erschüttert und durcheinandergerüttelt hat, schufen in Europa den Werkstudenten. Er unterscheidet sich von jenen Pionieren, den »Narodniki«, eben durch die ökonomische Ursache und Bedingtheit seiner Aktion, während ja die »Narodniki« aus rein geistigen, dem Gewissen und Gefühl entsprungenen Motiven handelten. Es gibt nun eine dritte Form dieser Vereinigung des Intellektuellen mit dem körperlich Arbeitenden. In seiner reinsten und dem Ideal am nächsten entsprechenden Form hat sich diese Vereinigung in den letzten Jahren, im Laufe der Pjatiletka, des Fünfjahrplans des russischen Aufbaus, gezeigt. Ich werde im Laufe meiner Ausführungen auf diese Form der Arbeit intellektueller Kreise an dem technischen und wirtschaftlichen Aufbau Sowjetrußlands, insoweit sie physische Betätigung erfordert, zurückkommen. Unsere bürgerlich-kapitalistisch eingestellte europäische Gesellschaft ist in Schichten getrennt. Diese Schichten werden durch geistige und körperliche Arbeit gekennzeichnet. Der geistige Arbeiter, besonders der akademische Bildung genossen hat, befindet sich hier in einer höheren Schicht als der körperlich Arbeitende, der Proletarier. Die Möglichkeit zur geistigen Ausbildung ist ja bereits ein Privileg, wenn nicht Monopol der oberen Schichten dieser Gesellschaft. Die Vorrechte der Geburt, der Familien- und Standestraditionen schaffen ein Privileg, ja Monopol. Selbst in unserer Zeit, in der der russische Gedanke schon eine Spaltung, eine sichtbare Bresche in die traditionellen Schichten der bürgerlichen Gesellschaft, nicht allein in Europa, geschlagen hat, ja in manchen Ländern bereits diese Schichtungen aufgehoben hat, selbst in dieser Zeit betrachtet in Ländern, die unter bürgerlich-kapitalistischen Gesichtspunkten regiert werden, die akademische Jugend ihre intellektuelle Sonderstellung innerhalb des Volkes noch als etwas Selbstverständliches, ja Unerschütterliches. Der Krieg, der die Klassen durcheinandergerüttelt hat, hat die neuen Reichen geschaffen, die, ohne Tradition zu besitzen, doch für sich und ihre Nachkommen das Privileg der Bildung als selbstverständlich in Anspruch nehmen, weil sie dies ja vor sich gesehen hatten. Und gerade diese neu emporgekommenen Schichten der bürgerlichen Gesellschaft sind es, die wir das Privileg der akademischen Bildung am hartnäckigsten verteidigen sehen.

Dabei geht die Rückentwicklung des bürgerlichen Staates, der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform, ohne nach dem Willen des Einzelnen zu fragen, ihren Weg. Die internationalen Krisen, die sich auf dem Markt der Werte stürmisch folgen, beschleunigen die Rückentwicklung. Was Sowjetrußland in einem machtvollen Ansturm erobert hat, das bereiten eben diese internationalen Krisen in peinlicher Langsamkeit, aber stetig und ständig deutlicher vor. Was Sowjetrußland in seiner Oktoberrevolution mit einem Satz erreicht hat, dem steuert die Umwelt in einer unaufhaltsamen Auflösung, langsam und widerwillig entgegen.

Wir wissen, daß in Sowjetrußland die Trennung der Klassen aufgehört hat; daß eine Gemeinschaft des ganzen Volkskörpers vorbereitet und erreicht worden ist, die ohnegleichen in der Geschichte des menschlichen Fortschrittes dasteht. Damit ist aber natürlich keineswegs gesagt, daß die Trennung der Arbeit in körperliche und geistige in Sowjetrußland aufgehoben sei! Nur das ist der Fall, daß geistige wie körperliche Arbeit, vom Gesichtspunkt der gemeinsamen Anstrengung zum Volkswohl, diesem gleichwertig dienstbar gemacht sind. Im Fünfjahrplan, der seiner Vollendung entgegengeht, sind technische und kulturelle Ziele als Aufgabe der Gemeinschaft hingestellt. Wo es den Anschein hat, als ob das Technische überwöge, ist dieses Technische doch als Grundlage des allgemein kulturellen Aufstieges des Volkes genau erkennbar. Geistige Arbeit vereint sich mit körperlicher in diesem Aufbau. Aber, und nun komme ich auf die Andeutung, die ich vorhin getan habe, zurück: es erweist sich für den geistig Arbeitenden, den an den staatlichen Lehranstalten, den Volksuniversitäten ausgebildeten russischen Studenten oft die Notwendigkeit, ausgesprochen körperliche Arbeit zu leisten, zu der er jedoch nicht durch Regierungsverfügungen, sondern allein von seinem jugendlich stürmischen, beseelten Drang geleitet wird.

Der ungeheueren Aufgabe, die sich Sowjetrußland in diesem Augenblick gestellt hat, bewußt, begibt sich eine Schar junger Studenten (wie ehemals an jene ewig denkwürdige Perikopfront, die mit der Liquidation des Wrangelfeldzuges zugleich die Konterrevolution in Rußland ein für alle Male beendet hat,) an die am stärksten gefährdeten, höchstes Maß der Energie und Aufopferung erfordernden Stellender Aufbauarbeit. Im Bergbau des Donezgebietes, auf den weiten Ebenen, auf denen der Traktor an dem Ertrag des Bodens arbeitet, an ungezählten anderen Stellen hat sich der Student, der geistig arbeitende Russe freiwillig eingefunden, um den Aufbau zu Ende zu führen. Hier erst, in dieser dritten Form der Vereinigung geistiger mit körperlicher Arbeit, sehen wir den Bann gebrochen, die letzten Trümmer der Schichtungen niedergerissen. Hier steht, zum erstenmal vollständig klar und scharf umrissen, das Beispiel des ungetrennt im Dienste einer Idee arbeitenden Volksganzen vor den Blicken der zivilisierten Welt. Hier ist von der Not, der Verzweiflung, die in den Ländern des kapitalistischen Niederganges geistige Arbeiter zwingen, in das Proletariat »hinunter zu steigen«, keine Spur mehr zu finden.

Je eher die Depression, die sich des europäischen Studenten bei solchem eingebildeten Abstieg bemächtigt, überwunden ist, um so besser. Wissen, akademische Ausbildung, hebt seinen Träger nicht mehr oder wird ihn nicht lange mehr aus dem Volksganzen hervorheben. Er täte gut daran, sein Wissen beizeiten, nicht demütig, nicht bescheiden, sondern der Zeit und ihrer Strömung bewußt, der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Wissen hebt nicht mehr hervor, Wissen soll aufgelöst werden im Dienste der Gesamtheit.

Ich sage Ihnen nicht: Sie haben die Wahl, wählen Sie! Wollen Sie eine privilegierte Schicht der Gesellschaft bleiben, oder wollen Sie sich aus freiem Antrieb Ihres eingebildeten Vorrechtes begeben? Ich sage Ihnen das nicht, denn das Leben wird es Ihnen sagen. Das Leben wird Sie zwingen, zu erkennen, was ein großer Teil der Studenten heutigen Tages, wahrscheinlich auch unter Ihnen, schon weiß und erfahren hat: Sie werden die Früchte Ihres Studiums nicht in der bisher üblichen, hergebrachten Weise ernten können – nämlich durch eine Sonderstellung in der Gesellschaft! –

Jawohl: Sie haben heute vielleicht noch die Wahl, freiwillig auf eine solche Sonderstellung zu verzichten; morgen aber schon wird Ihnen das Leben bewiesen haben, daß Sie diese Sonderstellung nicht mehr einnehmen.

Ein Wort Nietzsches kommt mir in die Erinnerung: Was fällt, das soll man auch noch stoßen. Ihnen ist die Wahl geblieben, zu stoßen oder – gegen Ihren Willen! – in den Trümmerhaufen der heutigen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft mitgerissen und unter diesen Trümmern zermalmt zu werden.

Die nichtrussische Studentenschaft, der nichtrussische Intellektuelle hat die erwähnten drei Etappen: die Etappe der Narodniki, die Etappe des Werkstudenten, die Etappe des Arbeitsfreiwilligen für die Gesamtheit nachzuholen. Je eher die nichtrussische Studentenschaft sich mit dem Gedanken an die Volksgemeinschaft, die von Schichten nicht mehr durchzogene, einheitliche Gemeinschaft, die keine national begrenzte, sondern eine Menschengemeinschaft ist, vertraut macht, um so besser. Wenn die Narodniki in die Schichten der Gesellschaft als erste eine Bresche geschlagen haben, so heißt es heute für die Träger der geistigen Arbeit, besonders der jungen Generationen: durch dieses breite Tor, das durch die Trümmer der Schichten gebildet ist, in die Zukunft zu schreiten.


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