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Wie die Leute von Oneida sich vertrugen

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte sich an dem Oneida-Bach im Norden des Staates New York eine Sekte niedergelassen. Erst waren es nur wenige Menschen, ihre Zahl stieg aber bald und betrug schließlich dreihundert. Sie nannten sich die »Perfektionisten«, liebten es aber auch, sich das »Bibelvolk« zu nennen. Diese Bezeichnungen künden die sozialen und religiösen Bestrebungen der Sekte. Die Oneida-Leute hatten die Grundpfeiler ihres Zusammenlebens auf den Lehren des Apostels Paulus und auf der wirtschaftlichen Doktrin des Kommunismus errichtet. Von anderen Sekten ähnlicher Richtung unterschieden sie sich durch geringere dogmatische Verbohrtheit. Sie bewilligten dem Individuum innerhalb der Grenzen ihrer Überzeugungen weitgehende Freiheit. Am Oneida-Bach durfte ein jeder nach seiner Fasson selig werden. Die Zehn Gebote galten keineswegs als eherne Gesetzestafel. Noch weniger galten die papiernen Gesetzestafeln der Vereinigten Staaten. Der Sonntag wurde nicht mehr geheiligt als welcher andere Arbeitstag immer. Die Ehe nicht mehr als irgendeine andere Form für das Beisammenleben vernunftbegabter Menschen. Das Prinzip des Kommunismus aber schloß, wie sich das von selbst versteht, den Begriff des Privateigentums aus dem Kreise der Lebensbedingungen aus. Die Oneida-Leute waren durchaus ehrenhafte und charakterfeste Menschen, die in gemeinschaftlicher Arbeit und vollem Einvernehmen auf ihrem Stück Land eine Fabrik nach der anderen errichteten, und die Erfolge ihrer Obst- und Gemüsezucht waren im weitesten Umkreise berühmt.

Sie hausten, alle dreihundert, in einem Hause beisammen, alle unter einem Dach. Daß sie, bei ihrer fundamentalen Mißachtung der bürgerlichen Gesetze und Einrichtungen, etwa fünf Jahrzehnte lang in der denkbar sichersten Gemeinschaft beisammenbleiben konnten, das beweist den gesunden Kern ihrer moralischen Anschauungen. Und den Beweis für das praktische Denken erbringt die Tatsache: daß die Erzeugnisse der Oneida-Fabriken (Seidengewebe, Konserven, Ketten, Wildfallen, silbernes Tafelgerät) heute über Nord- und Südamerika verbreitet sind, daß diese Fabriken ihren Betrieb stetig erweitern mußten und daß in der Direktion noch heute Kinder und Kindeskinder des »Bibelvolkes« sitzen. Derselben Leute, die auf die Fahnen ihrer Sekte am liebsten Leitsprüche dieser Art geschrieben hätten: »Gesetze sind für Sünder da, wir aber sind Heilige! Tragen daher das Gesetz in uns! Unsere Natur heißt uns das Gute tun, das Böse lassen, der Herr lebt gewaltig in uns!«

Ich muß es wiederholt betonen: sie waren weder Heuchler noch verstiegene Träumer, diese Leute von Oneida, sondern eminent praktisch denkende Menschen. Andere Sekten, die um die gleiche Zeit in Amerika ihre Sonderbündlerei betätigten, die Ikarier nach den Lehren Cabets, die Jünger Owens und Rapps: alle mußten gar bald von der Bildfläche verschwinden. Oneida aber kennt drüben jedes Kind.

Die Idee der Oneida-Leute, von der hier die Rede sein soll, läßt sich nun wie folgt formulieren. Menschen, die sich frei vom Gesetz erklären, können ihre Gemeinschaft unter einem und demselben Dach Jahrzehnte hindurch nur aufrechterhalten, wenn starke, immer wieder erneute Sympathie sie zusammenhält. Der Mensch ist eine Kreatur aus Gut und Falsch zusammengesetzt, aber als einer Kreatur Gottes ward ihm die Befugnis, zu sein, wie er geschaffen ist. Will er in einer engen Gemeinschaft mit seinesgleichen an einer gemeinsamen, ersprießlichen Arbeit teilnehmen, so muß er seiner Fehler und Vorzüge inne werden und den immer erneuten Versuch unternehmen, seine Fehler zu korrigieren, seine guten Eigenschaften zu fördern. Diese Tendenz soll in ihm nicht durch irgendwelchen äußeren Zwang, sondern allein eben durch Sympathie geweckt werden. Die Leute von Oneida hatten nun allabendlich nach ihrer gemeinschaftlichen Mahlzeit einige Stunden der Erholung und Erhebung. Jemand las aus den heiligen Büchern vor oder aus den Werken der Dichter; es wurde Kammermusik gemacht; eine Orgel war in den Saal eingebaut; ein junges Mädchen stand auf von den weißen, blumengeschmückten Tischen und sang. Von Zeit zu Zeit wurde in diesen Abendstunden einer oder eine aus der Gemeinschaft vorgenommen und der Charakter dieses einen Menschen von all den anderen Genossen analysiert und ausgelegt. Der auf solche Weise Kritisierte mußte es stillschweigend anhören, wie seine Taten, seine Äußerungen, sein innerstes Wesen sich in den Seelen der Brüder und Schwestern malten. Einwände durfte er erst Tage später äußern. Dann stand der vor den weißen Tischen und las von einem Blatte ab, was er sich in einsamem Nachdenken, in tiefer und inniger Einkehr aufgeschrieben hatte.

Aus zeitgenössischen Chroniken ist zu ersehen, daß die Kritik, die die Gemeinschaft an dem Einzelnen übte, zuweilen die denkbar schärfste war. Die Liebe zur Gemeinschaft aber nahm der Kritik ihr Persönliches. Auch die schonungsloseste konnte nicht verletzen. Es handelte sich ja um eines allein: wieweit nützten die guten, wieweit schadeten die schlechten Eigenschaften des einen der Gemeinschaft? In Kritikern und Kritisierten lebte als das große Gemeinsame diese hohe Sympathie. Unter den Leuten von Oneida hatte keiner den Beruf eines Rechtsanwaltes. Niemals entfremdete ein Zwist die einzelnen Brüder und Schwestern einander. Und sie lösten schließlich ihre Gemeinschaft auch nicht infolge persönlicher Streitigkeiten auf, sondern kapitulierten vor dem übermächtigen Staatswesen, vor dessen Gewalt auf die Dauer kein Gebilde der Utopie standzuhalten vermag.

Man kann sagen: die Idee der Oneida-Leute bestand darin: man muß Menschen, die in einer Gemeinschaft leben und sie aufrechterhalten wollen, von Zeit zu Zeit Gelegenheit geben, einen neuen und besseren Lebensabschnitt zu beginnen. Die Anhänger Freuds werden in dieser Idee eine geniale Form des »Abreagierens« erkennen. Und wer diese Stunde der Prüfung mit Szenen Tolstois vergleicht, in denen geschildert wird, wie der einzelne, schuldbeladene Mensch vor die Gemeinschaft hintritt, bekennt, sühnt und von der Gemeinschaft nun heißer geliebt wird als je, der wird in dem Vorgehen der Sekte einen tiefen, im wahrsten Sinne menschlichen Vorgang erkennen.

Warum sollte sich diese Idee nicht auf das Leben der Völker anwenden lassen? Sie wohnen ja so eng beisammen mit all ihren Eigentümlichkeiten, Traditionen, die das Beisammenhausen unter des gemeinsamen Vaters Dach auf die Dauer erschweren und untergraben müssen. Bis heute hat die internationale Diplomatie die geheime Mission gehabt, Fehler und Schwächen des Nachbarn dem Sondervorteil der eigenen Regierung nutzbar zu machen. Die Nachbarn verharrten in höflicher Scheinfreundlichkeit, schwiegen, lauerten. Hinterhältigkeit erzeugte Mißverstehen, Haß, Neid. Das Resultat ist bekannt. Wäre nicht eine weitaus glücklichere Form der Gemeinschaft zu erzielen gewesen dadurch, daß von Zeit zu Zeit die Besten und Wahrsten der Völker zusammengekommen wären und die Fehler und Vorzüge des Nachbarn im Hinblick auf die Gemeinschaft ruhig und freundlich erörtert und durchgesprochen hätten? Wirtschaftliche Unstimmigkeiten zwischen den Völkern sind durch friedliche Übereinkunft geschlichtet worden. Warum sollten fundamentale Gegensätze, die aus der Natur der Rassen und ihren Existenzbedingungen, dem Maß ihrer Freiheit herkommen, sich nicht durch die wahre »Politik« der Offenheit aus dem Wege räumen lassen? Zwang von außen her und ungebetene Einmischung sind da ausgeschlossen. Einigung kann gemeinsamen Fortschritt erzeugen, während ohne gegenseitige Hilfsbereitschaft heillose Zerklüftung eintritt, furchtbare Katastrophen alle schädigen und vernichten. Einmal kommt es ja doch zur ungeschminkten Meinungsäußerung über den Nächsten! Nur ist es dann mit dem Frieden meistens leider schon vorbei – es geschieht im Krieg. Da kriegt denn ein jeder zu hören, was der höfliche Nachbar schon immer von ihm gehalten hat. Und es nimmt keiner mehr ein Blatt vor den Mund – das weiß Gott!

Die Menschen des Erdballs müssen ja doch daran glauben lernen, daß Verständigung allein ihre Existenz fördert, daß es für die Völker keine anderen Interessen gibt als solche, die die Gemeinschaft fördern. Der geheime, tückische Kampf in der Friedenszeit wirft gerade das Sonderinteresse jeder einzelnen Nation, jeder Rasse aus ihrer Bahn und weit zurück. Nach dem alten Sprichwort soll der Kampf das treibende Element im Menschen sein. Seit zweitausend Jahren aber wiederholt dieses Menschengeschlecht: sein Heil sei im Mitleiden und in der Brüderlichkeit beschlossen. Und es erlebt seine furchtbarsten Katastrophen und Niederlagen in den Zeitläuften, in denen es sich am weitesten von dieser Erkenntnis der Wahrheit entfernt hat. Hin und wieder ist es dann an einen Scheideweg gestellt. Welchen Weg wird es nun vorwärts gehen? Die Wahl kann so schwer nicht fallen, wenn die Vernunft, der bare Selbsterhaltungstrieb den Schritt lenkt, nicht der Trieb zur Selbstzerstörung.

Den Oneida-Leuten wurde neben ihrem hochentwickelten Sinn fürs Praktische große Herzensgüte nachgerühmt. Aber vom Herzen sei heute ganz geschwiegen. Das Herz der Menschen! Es ist wahrscheinlich nicht an der Zeit, mit solch pathetischen Worten um sich zu werfen. Wäre das Herz der Menschen nicht so verkrampft und erstarrt, man könnte es heute anrufen. Die Sympathie der Völker füreinander ist auf unabsehbare Zeit zerstört. Allein die wiederkehrende Vernunft könnte das Herz der Menschen aus seinem Starrkrampf erlösen.


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