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Das Taylor-System und der Sozialismus

Lenins Bemerkung in den »Nächsten Aufgaben der Sowjet-Macht«: daß der Akkord-Lohn, die Anwendung von vielem, was von Wissenschaftlichem und Fortschrittlichem im Taylor-System vorhanden ist, usw., auf die Tagesordnung der nächsten Zeit gestellt, praktisch angewandt und versucht werden müsse, hat jeden befremdet, der die Wirkungen des Taylor-Systems an Ort und Stelle, nämlich in der amerikanischen Industrie, in den amerikanischen Großstädten, in den Irren- und Zuchthäusern, den Schlupfwinkeln des Elends und den Landstraßenherbergen der Heimatlosen Amerikas zu beobachten Gelegenheit hatte. Lenin bemerkt auch sogleich nach dieser Kundgebung seines Programmes: daß der Russe im Vergleich mit den vorgeschrittenen Nationen ein schlechter Arbeiter sei und zu arbeiten erst lernen müsse. Auch diese Beobachtung kann der vollinhaltlich unterschreiben, der im Geburtslande des Taylor-Systems die statistischen Tabellen in Fabriken, in den »Settlements« der Newyorker, Chicagoer und Torontoer Ostseite, in den Redaktionen der großen sozialistischen Fach- und Tageszeitungen betrachtet hat. Daß eine Theorie wie die von Taylor in Zeiten der völligen Deroute der Arbeitsleistung, in Zeiten der erschrecklich zurückbleibenden Produktion ihr Bestechendes hat, ist begreiflich. Bedauerlich ist es nur, daß ein Wort, ein Vorsatz, eine programmatische Kundgebung wie die Lenins das System Taylor in den Vordergrund schiebt zu einer Zeit, in der alles eher als eine solch gewaltsame Methode zur Erhöhung der Leistung des erschöpften und verbitterten Proletariats am Platze wäre. Manches hat die Sowjet-Regierung schon in der Theorie aufgenommen und in der Praxis bald abgeschafft. Es ist an der Zeit, einen Warnungsruf vor Taylor ertönen zu lassen. Wenn auch das Eingeständnis verhängnisvoller Irrtümer keine Regierung diskreditiert, so ist es doch am Platze, die russische vor dem Begehen neuer, verhängnisvollster zu bewahren. Experimente wie die mit Taylor könnten Ärgeres als lediglich Enttäuschung hinterlassen.

Nun ist der Vorsatz Lenins in das soziale Bewußtsein Deutschlands eingedrungen. C. E. von Kühlmann bespricht im »Sozialist« vom 28. April die Bedeutung des Taylor-Systems für die Wirtschaft und Produktion der Gegenwart und nächsten Zukunft, durchaus im Sinne Lenins und unter Hinweis auf diesen.

Ich erinnere mich an die letzte Gelegenheit, bei der ich aufgefordert wurde, mich über die Durchführbarkeit und Notwendigkeit der Einführung des Taylor-Systems in extensivster Form in der deutschen Industrie zu äußern. Das geschah im Winter 1917, und die Aufforderung erging an mich von einem Sendboten oder literarischen Handlanger der Schwerindustrie. Er hatte augenscheinlich nur oberflächliche Kenntnis von der Tendenz meines Buches über Amerika, sonst hätte er mich wahrscheinlich nicht dazu auserlesen, als literarischer Speedboß, das heißt Hetzvogt, für ein rascheres und ausgiebigeres Granatendrehen herzuhalten. Mit begreiflichem Befremden finde ich jetzt Fürsprecher des Taylor-Systems innerhalb der Reihen der deutschen Sozialdemokratie.

Wer die Symptome und offenkundigen Ergebnisse der Arbeitsunlust, der freiwilligen und erzwungenen Arbeitslosigkeit dieser Tage miterlebt, wird sich darüber klar sein, daß, wenn es schon maßlos schwer sein muß, die Arbeiter in die Werke zu treiben, es eine an Wahnwitz grenzende Unmöglichkeit sein dürfte, sie zur Aufnahme des rigorosen Taylor-Systems zu bestimmen. Denn dieses System ist ein drakonisches; jede Beschönigung ist vergeblich. Frederick Taylor stellt sich in seinem Buche als ein ergebener und begeisterter Diener und glaubensstarker Bejaher des kapitalistischen Wirtschaftssystems dar.

In Amerika ist es keine vereinzelte Erscheinung, daß das über alle Maßen starke und gebietende Kapital wissenschaftliche Theorien gebiert, die es sozusagen heiligsprechen. Von all diesen Theorien aber dürfte keine so bewußt und ausgesprochen dienend und ergeben dem Kapitalismus zur Seite stehen wie das Taylor-System. Seine gediegene wissenschaftliche Fundierung läßt den Kern nicht vergessen, der direkte schonungslose Ausbeutung heißt. Neben diesem verschwindet das rein Wissenschaftliche und Fortgeschrittene, wovon Lenin spricht, zu untergeordnetster Bedeutung. Schon die Verlockung, daß der Arbeiter für seine erhöhte Leistung Prämien zu gewärtigen habe, zeigt den Pferdefuß des ganzen Systems. Denn ein System, das auf Hinaufschrauben der Leistungsfähigkeit basiert, weiß mit der Normalleistung des Arbeiters selbstredend nichts anzufangen; es scheidet den nur zur Normalleistung befähigten Arbeiter automatisch aus.

In den Theorien Taylors steht nichts von den mittelbaren, das heißt nicht sofort wahrnehmbaren Wirkungen des Systems auf den Arbeiter verzeichnet. Die muß der Beobachter, der teilnehmende und gewissenhafte Beobachter der amerikanischen Zustände aus eigener Anschauung ergänzen. Er wird es nicht schwer finden, diese Beobachtungen anzustellen und aufzuzeichnen. Neben den schon erwähnten mehr oder weniger menschenfreundlichen Institutionen wird ein Gang durch die Werkstätten, die Arbeitsnachweisämter und nicht zuletzt das Bild der Straße zur Zeit der »Breadline«, der allnächtlichen Bettlerpolonaisen vor den Hintertüren der großen Speisehäuser, Suppen- und Brotanstalten, über die Kehrseite des glorreichen Systems belehren, und darüber: wo der amerikanische Arbeiter nach der »wissenschaftlichen Ausnutzung der menschlichen Kraft« bleibt und endet. –

Wenn die Revolution einen Sinn gehabt hat, so ist es dieser: die Arbeit soll aufhören eine Strafe zu sein. Sie soll ein Fest werden. Das Wort Marxens, das sich auch im zweiten Artikel der Verfassung der Russischen Sowjetrepublik findet: daß die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt werden müsse, soll den alttestamentarischen Fluch von der Arbeit heben; die Arbeit soll vom Menschen nicht mehr im Schweiße seines Angesichtes verrichtet werden. Die Seele ist nicht beteiligt an der Arbeit im Sinne Taylors. Taylor tötet die Seele, er kann nur mit der physischen Kraft etwas anfangen. Er hat eine Theorie der Zwangsarbeit erfunden, die den letzten Rest von Liebe zur Arbeit aus dem elenden Fronsklaven peitscht, dem das System aufoktroyiert wird. Mit 35-40 Jahren bleibt der wissenschaftlich ausgebeutete Arbeitsmann als ein physisch ausgepumptes, seelisch längst verkümmertes Wrack auf der Straße liegen, nachdem er seine sämtlichen »Prämien« für die Herztätigkeit erhöhende Arsenik-, Alkohol- und ähnliche Präparate ausgegeben hat. Vor den amerikanischen Fabriktoren hängen Tafeln: Wir stellen keinen Arbeiter über 40 ein! Damit hats keine Not. Es kommen wenige über 40 mehr an.

Das Kriegshandwerk hat genial und spezifisch veranlagte Gehirne hervorragender Techniker, Chemiker, Strategen zu äußerst ingeniösen wissenschaftlichen Erfindungen angeregt. Unterseeboote, Fliegerbomben, Gelbkreuzgase wurden der Menschheit beschert, um nur die populärsten zu nennen. In einem Zeitalter kommender, hoffentlich nah bevorstehender Menschlichkeit wird man diese genial erdachten Errungenschaften der Zivilisation vielleicht in den Archiven des dunklen Mittelalters aufbewahren, wird man in den gesetzgebenden Körperschaften die Menschheit vielleicht vor ihrer Ausnutzung zu beschützen wissen. In die Nachbarschaft dieser von hoher Gelehrsamkeit erzeugten und zeugenden Geistesprodukte wird man dann vielleicht auch die Schriften Frederick Taylors, Gilbreth' und seiner anderen Schüler und Kommentatoren verbannen.

Wir wollen aus der Arbeit ein Fest, ein seelisches Bedürfnis des Menschen, einen erhebenden Dienst der Gemeinschaft machen. In der heutigen Entwicklung haben die Methoden der kapitalistischen Produktionsweise nur so weit Raum, als sie diesen neuen Sinn der Arbeit nicht verzerren und fälschen. Ich für meine Person kenne keinen grimmigeren Hohn auf das religiöse Element, das der Arbeit des Menschen für die Gemeinschaft innewohnt, als die Empfehlung und Einführung der seelenlosesten Mechanisierung, der wahnwitzigen Ausnützung und Überspannung der menschlichen Kraft, wie sie das System Taylor erstrebt.

Auch wir, deren Stimme nicht weit reicht, deren Absicht aber gut und deren Erfahrungen definitiv sind, haben das Recht, über unsere Warnung das Wort der Proklamation Lenins zu setzen: »An Alle!« – – –


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