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Feuertaufe der Religionen

Der vorige Papst, Pius, ein gütiger, einfacher alter Mann, den sein Glaube aus dem Volk hinauf auf den Thron gehoben hat, ist an Verzweiflung gestorben, glaubt es nur! Die Verzweiflung ist eine Krankheit, die zu einer schlimmen Seuche werden kann. Wenn Ströme der Verzweiflung durch die Welt gehen, gehen mit ihnen Krankheitskeime über die Welt und schlagen sich zu den Krankheitskeimen, die jeder einzelne Mensch in sich trägt, die den Organismus jedes einzelnen Menschen bedrohen, wenn nicht schon untergraben haben. Und vor allem sind es die gläubigen Menschen, die von der Seuche der Verzweiflung betroffen werden können. Elf Jahre lang hat der gläubige Bauer aus Riese auf dem Thron gesessen, der der Thron der Seelen genannt wird. Am Ende des elften Jahres hatte er noch so viel Glauben in sich bewahrt, daß er an der Verzweiflung sterben konnte!

Vor wenigen Wochen, im ersten Monat des Krieges, war ich auf der Fahrt von England nach Berlin einige Stunden in Osnabrück. Es war ein sehr heißer Tag, in der Stadt war kaum ein Zivilist mehr zu sehen, Truppentransporte hielten und sammelten sich auf allen Plätzen und Straßenecken. Vor einer Kirche stand eine Gruppe Infanterie, daneben waren Wagen mit Fourage, Wagen mit Lebensmitteln, Wagen mit Verbandstoffen und Tragbahren. In der Kirche lagen Soldaten auf den Knieen vor den Bildnissen des Gekreuzigten, Mariä, des Schutzheiligen der Kirche, junge und ältere Menschen in derselben Uniform, die Rosenkränze wanderten Kugel um Kugel durch die andächtig zusammengepreßten Finger an inbrünstigen Lippen vorbei. In meinem von Übermüdung und Trauer zermarterten Gehirn war kein Platz für Sammlung und Beschaulichkeit, aber meine Augen sahen scharf und ungetrübt. In solchen Augenblicken kann es geschehen, daß man einen Eindruck empfängt, daß sich in einem ein Bild festsetzt, so deutlich umrissen und schwer versenkt, daß man es nicht wieder loswerden wird, und lebte man hundert Jahre. Nie werde ich das Bild des Soldaten loswerden, der der Stelle zunächst kniete, wo ich saß. In Dorfkirchen habe ich in früheren Jahren solche Hingaibe, solche Haltung, solches Ineinandergeschmolzensein mit dem Höchsten an einfachen Menschen beobachtet, wie es sich mir jetzt darbot in dem blassen blonden Gesicht, der zur Seite geneigten Wange, den zum Rosenkranz vorgeschobenen Lippen des knieenden Soldaten. Ich war nicht fähig, mich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf das Bild des Beters, aber das genügte. Und wenn ich einen Altar oder ein wundertätiges Gnadenbild vor meinen Augen gehabt hätte, ich hätte in dem Augenblick nicht tiefer und wahrer glauben und lieben können, als ich es tat, da ich auf den Soldaten blickte. Ich war auch dabei, wie er dann draußen vor der Kirche seine Pfeife anzündete, sein Pferd streichelte und ruhig mit seinen Kameraden sprach, die alle auf das Kommando zur Abfahrt warteten. Ich sah neben seiner Waffe die Leinwandtasche an seiner Seite, in der er seinen Rosenkranz verwahrt hatte.

Wohl dem, der in solchen Tagen einen Rosenkranz in seiner Tasche mit sich führen kann. Es muß gar kein Rosenkranz sein und gar kein geweihtes Stückchen Symbol, und es ist einerlei, ob einer an ein Alleinseligmachendes glaubt, ob er an die Transsubstantiation glaubt oder sie leugnet, ob er vor Bildern liegt oder vor ungeschmückten Säulen, ob er sich gegen Osten auf einen Teppich hinkniet oder ob er die Gebetriemen sich um die Handgelenke und die Schläfen bindet. Alles kommt darauf an, wie er aus seiner Kirche tritt, in welchem Zustand der seelischen Ruhe und seligen Sicherheit er sich von seinem Teppich erheben, die Lederstreifen, die seine Adern umpreßt hatten, wieder verwahren wird. In solchen Tagen kommt es nicht darauf an, zu leben oder zu sterben, es handelt sich darum, in Hoffnung zu leben und zu sterben. Auf den Stärkegrad der Seele, die die Ströme der Verzweiflung parieren, abhalten, an dem einzelnen Menschen vorüber ins Nichts lenken kann, in eine atmosphärische Schicht hinweg, in der sie kein Unheil mehr anstiften können, in der sie sich auflösen, weit weg von den zarten und leicht beeinflußbaren Gebilden, als die wir die Menschenseele erkannt haben.

In Prüfungen, wie der Krieg sie uns auferlegt hat, müssen wir nicht nur den Grad unserer körperlichen Widerstandsfähigkeit zu erkennen suchen. Jeder muß vor allen Dingen seinen Gott ins Feuer schicken können.

Jeder muß seinem Gott nachstürmen, der die Attacke gegen die Verzweiflung führt und leitet. Rings blitzt und donnert es von Haß, Mord und Zerstörung. Nun stürme jeder voran, seinen Gott im Herzen. Nun sehe jeder sich vor, daß ihm sein Gott nicht abhanden komme im Ansturm. Es ist nicht nötig, daß einer seinen Gott von seinen Vorfahren mitbekommen habe, daß sein Gott groß und fertig dagestanden habe seit Jahrtausenden, daß er in dem Nacheinander der Generationen seinen Mann gestellt, sein Haupt wolkenhoch erhoben bewahrt habe durch alle Kämpfe hindurch, die um seine Herrschaft oder seine Niederlage gefochten worden sind, seit wir Kunde von unseresgleichen auf Erden haben. Wir, die wir um das Jahr siebzig, das letzte große Kampfesjahr dieses Landes, oder später geboren sind, die heute vierzigjährig sind und jünger, haben ja Religionen entstehen sehen, an Götter glauben gelernt, selber Lehren aufgerichtet, von denen die vor uns nichts gewußt haben – vielleicht nur hier und dort ein erlauchter Geist, ein erlauchter Prophet und Märtyrer, verstreut über viele Jahrhunderte. Aus Wissenschaften und Erkenntnislehren, aus den Retorten der Chemiker und den Gleichungen der Mathematiker, aus Geschichtsbüchern und von Philosophenkathedern herab sind Götter unter die Menge gestiegen und dichte Scharen von Menschen haben sie auf die Schultern gehoben. Es gibt monistische, pragmatische Götter, es gibt den Christus der christlichen Wissenschaftler, es gibt den Menschengott, der ein moderner amerikanischer Enkel des Menschensohnes ist, es gibt Götter der Friedenszeit, die noch nie im Kriege gestanden, die Feuertaufe noch nie empfangen haben. Götter gibt es, deren Existenz von einem Zustande des Friedens geradezu bedingt ist! Und diese Götter vor allen, diese jungen Götter haben den Beweis zu erbringen, daß sie standhalten können im Feuer. Im Kriege gilt es, die Verzweiflung an dem Menschengeschlecht von der Seele wegzuhalten. Und das vermag Gott allein, kein Mensch. Keine der guten Eigenschaften, die in solcher Zeit mit den schlechten Eigenschaften um die Herrschaft ringen, ist stark genug, die Seele vor dem Untergange zu erretten. Der Glaube allein kann dieses Wunder bewirken.

Hat einer ihn von seinen Vorfahren mitbekommen auf den Weg, oder hat er ihn selbst erworben, nun ist es an der Zeit, daß er ihn hinausstelle vor sich. Ist er einem abhanden gekommen, so ist der Augenblick günstig, in die Stille zu gehen und sich zu besinnen. Rüste ein jeder seinen Gott mit allem aus, was an Kraft der Seele in ihm lebendig ist. Dann schicke er ihn ins Feuer. Auf allen Höhen brennen die Feuer.


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