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Die Generation nach uns

Was ich hier niederschreibe, ist eine Totenklage, nicht nur eine Klage um einen jungen Menschen und die vielen Hoffnungen, die mit ihm aus der Welt geschieden sind, nicht nur um manche Erfüllung, die das junge Leben schon zur Reife gebracht hatte, um vieles mehr noch: um einen jungen Menschen, der einem Alternden Freund war und Kamerad hätte werden können – das ist viel in unserer Zeit, ein seltenes Geschenk des Schicksals.

Ein sicheres Zeichen dafür, daß man altert, ist: man hätte eigentlich nichts mehr dagegen, sich mit den Menschen zu vertragen. Ein Leben lang hat man ja Zeit gehabt, an sich selber all die Fehler, Unzulänglichkeiten, Unvereinbarkeiten zu beobachten, die einen so zornig machen, nimmt man sie an anderen Menschen wahr. Man beschließt also, sich mit den Menschen zu versöhnen zu guter Letzt. Manchmal, das heißt mit manchen gelingt's, mit anderen nicht. Es kommen einem bei solcher Gelgenheit verschiedene niederdrückende Tatsachen zum Bewußtsein. Zum Beispiel die, daß man mit diesem und jenem Menschen auf keine Art in Kontakt geraten kann. Nicht etwa aus einem oberflächlichen oder einem nicht gar tief unter der Oberfläche verborgenen, vielmehr aus den wahrhaft rätselhaften, tiefen Gründen, die schon so etwas wie einen Organisationsfehler in der Natur vorstellen. Solch eine Erfahrung ist die, daß eine Freundschaft zwischen älteren und jungen Menschen zu den Seltenheiten gehört.

Denn gerade das edelste Motiv solch einer Freundschaft, nämlich: daß der Ältere dem Jungen helfen könnte vermöge seiner Erfahrungsüberlegenheit – gerade das betont den Unterschied, schließt gemeinsame Gefahr aus, verringert gemeinsame Chance, und auf dieser Basis erhebt sich ja das Zusammenstreben von Gleichem und Gleichem. Dazu kommt noch der Unterschied in der Stellung zum äußeren Leben, der zwischen zwei aufeinanderfolgenden Generationen klafft. Die heutige versteht selten die gestrige. Noch seltener aber versteht die gestrige die heutige. Man weiß nicht, soll man das mangelndem Gedächtnis auf der einen, mangelnder Ehrerbietung auf der anderen Seite zuschreiben? Es ist schon das Beste, man redet sich aus: die Welt sei eben weitergegangen. Wir bilden uns weiß Gott was darauf ein, Gerechtigkeit gegen die Vergangenheit, unsere eigene und fremde, in uns gehütet und bewahrt zu haben. Wie schwer ist es aber da, gegen die Zukunft gerecht sein zu können! Mißverständnisse zwischen Eltern und Kindern, zwischen Kindern und Eltern sind nur die geringste Bestätigung des Gesagten. Eltern werden es sich hoch anrechnen, wenn sie ihren Kindern Streiche verzeihen, die ihren eigenen Jugendstreichen ähnlich sehen. Fehlt dieses Vergleichungsmittel, dann tritt in den meisten Fällen Entfremdung und Haß zwischen das Alter und die Jugend. Ja, – wer im eigenen Ringen die Erfahrung gewonnen hat, wie schwer es sei, Gerechtigkeit gegen Gleichaltrige zu üben, der wird zugeben müssen: es ist ein hoher Grad und volles Maß von Weisheit vonnöten dazu: gerecht zu sein gegen Junge. Manche, die das eingesehen haben, simulieren Verständnis, manche (nicht eigentlich geborene Pädagogen ) haben sich darin eine gewisse Routine angeeignet. All dies ist nichts wert, ja von Übel. Etliche wähnen schon genug zu tun damit, daß sie die Jungen sentimental um ihre Jugend beneiden, weil diese sie an ihre eigene Vergangenheit erinnert. Solche Toren konstruieren sich aus ihrem baren Egoismus heraus etwas, das in ihren Augen nach einer Tugend ausschauen soll. Die Jungen aber täuscht man nicht so leicht. Sie, die Beneideten, durchschauen den Trug gar bald, und die Folge ist Mißtrauen, das Ende Spott.

 

In der ersten Hälfte der Vierziger fällt es schwer, sich in die Sinnesverfassung der Menschen hineinzudenken, die zwanzig Jahre alt sind. Was vor allen Dingen diese Absicht erschwert, fast vereitelt, ist eine auf den Alternden peinlich wirkende Sicherheit oder Weitläufigkeit., die Überlegenheit, besser gesagt, der Aplomb, der dieser jungen, durch zwanzig Jahre getrennten Generation zu eigen zu sein, sie zu charakterisieren scheint. Manche unter den Vierzigjährigen erinnern sich gewiß noch deutlich an die Not und Scheu, die Befangenheit und Angst vor dem Leben, die ihnen vor zwanzig Jahren den Horizont verdüstert haben. Diese Verdüsterung übertrugen sie nur zu bereitwillig auf die Einschätzung der damals Vierzigjährigen, die ihr Leben vorgelebt hatten. Es kann sich gewiß jeder von den heute Vierzigjährigen auch noch an eine einigermaßen zornige Stellungnahme gegen die in jenen Jahren Alternden entsinnen. Mit Recht oder Unrecht schöpften die Jungen von dazumal den zornigen Mut zur Überlegenheit aus der Erkenntnis, daß ihr Leben einen Kampf bedeuten wird, einen Kampf gerade dagegen, was die Alternden sicher und überlegen gemacht hatte. Es gälte bedenklich in jungen Köpfen, und es war bedenklich klar in alten. Die Alten schienen es sich leicht machen zu wollen, wo die Jungen schmerzlich genau wußten, welche Schwierigkeiten die Zeit ihrem Leben bereiten wird.

Die Jungen hatten nicht ganz unrecht, mit der Art herumzufuchteln und sich auf ihre jugendliche Kraft und jugendliche Not etwas zugute zu tun, angesichts der bequem selbstgefälligen Erstarrung, in der so viele unter den Alten zu verharren liebten. Was uns an der heutigen Generation verstimmt, ist: wir wissen nicht, woher ihr Aplomb stammt. Besser gesagt: wir wissen recht gut, er stammt nicht aus der Quelle, aus der die Überhebung jener vor einer Generation Zwanzigjährigen herkam, nämlich aus der Kampfbereitschaft gegen lähmende Traditionen und aus der Erkenntnis einer großen Aufgabe, die zu bewältigen ist. Vielleicht erleidet die heutige Jugend auch nicht den gehässigen Widerstand mehr, der vor zwanzig Jahren den Vorwärtsstürmenden entgegengestellt wurde. Zur Stärke und wahren Kraftentfaltung gehört Widerstand oder Isolierung; Erben macht hochnäsig, und vielleicht scheinen uns die heute Zwanzigjährigen darum so selbstsicher und im reinen mit der Welt zu sein, weil wir wissen: sie sind die Erben von Pionieren. Wobei gar nicht behauptet werden soll, daß das Erbe verschwendet wird. Es ist wahr, in den letzten zwanzig Jahren hat die Eroberung der Welt durch die Technik solch ungeheure Fortschritte gemacht, daß der Sinn der Jugend wahrscheinlich durch diese Errungenschaften von den mehr innerlichen Gebieten abgelenkt ist, die zu erobern die Jugend vor einer Generation vorfand, ethische und ästhetische und soziale Gebiete.

Man braucht gar nicht tief zu schürfen. Betrachtet man einfach die Form, die es vor zwanzig Jahren zu finden galt für das Leben unter seinesgleichen und für den Ausdruck dessen, was man sah und empfand – und vergleicht sie mit der Form der heutigen Jungen, die das Leben meistern, zum Teil sogar sozusagen von oben herab im Jargon: dann darf man vielleicht ohne Seufzer getrost und guten Mutes sich für rückständig erklären, unbeirrt in der eigenen Richtung weitermarschieren, wird der Winkel zum Weg der Nachstrebenden auch immer breiter und breiter. Das Gefühl der Einsamkeit aber begleitet einen auf dem Marsch. Mit so vielen aus der eigenen Generation hat einen das Leben auseinandergebracht, mit so vielen aus der nächsten Generation das Befremden über ihr Wesen. Man möchte sich, wie gesagt, gern vertragen. Man wirbt fast. Man möchte gern Seelen gewinnen. Man sucht Verständnis aufzuwenden, Verständnis aufzufinden. Man greift in die Luft.

Wie glücklich darf man sich da schätzen, findet man einen Gleichgesinnten in einer fremd anmutenden Generation. Einen, in dem man verjüngt die eigene Richtung und die eigenen Perspektiven wiedererkennt, in einer Zeit, in der es seine Altersgenossen eigentlich gar nicht der Mühe wert finden, nach jener Richtung zu leben, jene Perspektiven im Auge zu behalten. Man ist dankbar dafür, daß man zusehen kann, wie ein junger Mensch, dem es die Zeitströmung doch leicht zu machen scheint, sich in den Daseinsformen zurechtzufinden, sein Leben dennoch auf Ringen und Qual einstellt. Dem schweren Kampf treu bleiben will, wo Siege doch leicht zu erringen wären. Wie in einer Natur der Respekt vor denen, die sich durchgekämpft haben und wahrscheinlich noch im Kampfe stehen, den eigenen jugendlich animalischen Trieb zur Überlegenheit niederhält, fast erstickt. Wie eine Natur, rein und hingegeben an das Gute, mit einem wachen, an der Welt leidenden Gewissen, sich auf das Schicksal vorbereiten möchte. Wie ein Gewissen den Willen, Unrecht gutzumachen, in sich nährt – das Unrecht, das die Welt den Menschen angetan hat. Das Unrecht, das junge Menschen vor allen anderen zu übersehen pflegen, weil sie es ja als ein gegebenes Faktum in der Welt vorfinden. Das Unrecht, das aber manchen jungen Menschen gerade dazu anspornt, es aus der Welt zu schaffen – wo der Durchschnitt nur darauf bedacht ist, es sich vermöge seiner jugendlichen Kraft erst recht zunutze zu machen. Denn unter denen, die bloß an ihre Jugend denken, findet sich schon in frühesten Tagen einer oder der andere, der es kaum erwarten kann, ein Mensch zu sein.

 

Jugend ist schon Erfüllung. Wenn diese Jugend gar mit Talent gesegnet ist, das von den günstigsten äußeren und inneren Umständen gehegt zu werden verspricht, durch liebevollen Stolz von Eltern, durch kundiges Urteil berühmter Lehrer, durch die Teilnahme freundlich gesonnener wertvoller Menschen – dann darf es nicht befremden, wenn ein gesteigertes Selbstbewußtsein aus der hell daliegenden Zukunft ihre Strahlen auf die Gegenwart herüberwirft. Der Neunzehnjährige, den das Leben vor solch eine Bahn gestellt hatte und in dem ich und mit mir einer und der andere meiner eigenen Generation heute einen verblichenen Freund betrauern muß, er hat mit seinem früh erstaunten, ernsten Blick nicht vor sich hin auf seine helle Bahn geblickt, sondern über all das hinweg zurück, hinter sich. Was dort hinten lag, war der Kampf der anderen, dessen Ergebnis ihm und seinen Altersgenossen als selbstverständliches Erbe zugefallen zu sein schien. Von dem Anblick dieses Kampfes, an dem er kein Teil mehr zu haben brauchte, fasziniert, ist seine junge Seele erstarrt. Uns spiegelte sein junges Auge nicht den Glanz des frohen Überwinders zurück, sondern in seinem Auge war der Schein von erstauntem Begreifen zu sehen. Gelächter hörten wir selten, ach wie selten! von seinen Lippen, um so öfter blieben sie, noch ehe ein Ausruf, ein schnellfertiges Urteilswort über Dinge dieser Welt zwischen ihnen hervorgekommen wäre, halb offen, doch stumm, wie die Lippen eines Menschen, dem eine innere Stimme das Wort jählings verschlagen hat. Auch im Tode sahen wir diese Lippen auf dieselbe Weise offenstehen, erstaunt, nachdenklich, erstarrt.

Leicht zieht man das Fazit eines Lebens, dem Entfaltung beschieden war. Leicht, wie leicht, wiewohl das wahrscheinlich die schwerste Sache der Welt ist. Um wie vieles fragwürdiger ist es dann, das Fazit eines Lebens ziehen zu wollen, das nicht gelebt werden durfte. Jeder alternde Mensch mag seinen Doppelgänger irgendwo in der Generation, die ihm gefolgt ist, finden. Es wird wohl gegen das Leben sprechen, das einer erlebt hat, wenn er seinen Doppelgänger unter den Stillen, den Wunden, den mit Nachdenklichkeit schon in früher Jugend Schwerbeladenen sucht. Aber gerade nach diesen auszuschauen bedeutet uns, die wir uns unter den Sicheren und Überlegenen der Generation nach uns nicht wohl fühlen, Erholung und Trost. Da war nun ein Mensch, gesonnen aus seiner eigenen mitgeborenen Fähigkeit bei den sprödesten Klassikern seiner Kunst, der Musik, von früh an anzufangen, schwer zu erringen, statt sich flink und geschickt anzueignen. Vom Reichtum, der ihn umgab, schöpfte er die bittere Scham ab, durch diesen Reichtum so vielen Gleichaltrigen im Lebenskampf überlegen zu sein. Die Sympathien wertvoller Menschen, die mit kundigen Augen hinter dem liebenswerten und bescheidenen Wesen den Kern der jungen Natur erkannten, bezog er nicht auf sich. Eine innige Scheu hinderte ihn daran, es war die Erkenntnis der Pflicht, die jene Menschen erfüllt hatten und die zu erfüllen ihm bevorstand. Mancher unter den Jungen erfährt es erst spät, daß es die Mühe lohnt, alle schwere Last, alles schwere Leid der Welt zu schleppen, nicht der eigenen Welt, sondern gerade der Welt der anderen. Aus manchem Gespräch, das ich mir treu in der Erinnerung aufbewahrt habe, aus Tagebuchaufzeichnungen, die er verschämt und doch hingegeben hergezeigt hat, sprach das Erschrecken, die Erschütterung angesichts dieser Welt. Dem Neunzehnjährigen schien der Ernst derer, die sich von früher Jugend an durchzukämpfen berufen fühlen, eingeboren zu sein, auf seinen weichen Zügen stand deutlich und schmerzensreich der Kampf dieses Ernstes mit der jugendlichen Heiterkeit aufgeprägt. Wir Alternden erkannten den Zug in dem jungen Gesicht – hier war ein Verbündeter, mehr noch: Ablösung.

Der große Feind hat all das zunichte gemacht. Ihn, der ein Kamerad hätte werden können manchem unter uns, haben wir Alternden zu Grabe getragen.

Früher Tod ist kein Argument gegen jene, die das Leben schon in ihrer Jugend ernst und unfroh gemacht hat. Die Leichten, die Heiteren, die Überschwänglichen, die sich jubelnd und siegreich über die Hindernisse hinüberschwingen, die bleiben länger leben, gewiß. Aber was manchem jungen, tiefen und redlichen Menschenkind dieser Zeit die Daseinsluft unterbindet, das Wort verschlägt, den Puls stocken läßt, das überlebt die Generationen.


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