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Lenin spricht

Kongreß der III. Internationale, Moskau, November 1922 (Geschrieben Dezember 1922)

Eine Woche lang hatten wir vergeblich erwartet, daß er unter uns erscheine. Am Abend der Eröffnung des Kongresses, im Großen Theater Moskaus, war die Erwartung auf ihren Höhepunkt gestiegen. Sie erfüllte die Tausende in allen Rängen mit einer Spannung, die sich in Wellen der Begeisterung zu lösen, überzuströmen begehrte, aber es mußte erst eine Spanne Zeit vergehen, eh' er zu uns kam. Es war im Kreml. Ja, wir werden uns an den Tag erinnern, an dem Lenin zu uns gesprochen hat. Tags zuvor hatte Sinowjews Schlußwort die wichtigen Debatten über die taktischen Probleme der Exekutive abgeschlossen. Die Tagesordnung zeigte nun Punkt 5: Fünf Jahre russischer Revolution und die Perspektiven der Weltrevolution. Als Referenten waren genannt: Lenin, Trotzki, Zetkin, Kun.

Am 13. November, einem Montag, war der riesige, goldstrotzende, goldüberladene Andreassaal des Kremlpalastes frühzeitig von den Massen der Delegierten, der Gäste, des Publikums überfüllt. Zwischen den hohen Säulen, auf der roten Estrade, Kopf bei Kopf, Menschen aus 47 Nationen zusammengeweht, von einem Willen, der gleichen Erwartung gepackt und zusammengeschmiedet – ein Brausen war über den Köpfen der Versammelten, wie Flügelschlag von gewaltigen Schwärmen kriegerischer Vögel, die ihren Flug nach Norden nehmen. Es war der Wolkenflug schwärmerischer Gedanken, die zu einem Pol hingerissen wurden. Wir standen und warteten.

Mit einemmal erhob sich, vom Ende des Saales her, ein Aufschrei. Ich erinnere mich gut, es war ein Aufschrei, plötzlich emporwirbelnder Donner. Die noch saßen, sprangen von ihren Stühlen empor. Betäubendes Händeklatschen übertönte die Rufe, das Stimmengetöse. Eine kleine Gruppe bewegte sich sehr rasch durch den Seitengang hinter den Säulen der Estrade zu. Aus der Gruppe löste sich ein Mensch, untersetzt, von unscheinbarer Gestalt, in grauer fest anschließender Joppe, trat eilig an das Rednerpult heran und blieb dort stehen. Er war es. Ich stand vorne bei der deutschen Delegation. Zur Linken waren die Franzosen. Einige Tische hinter ihnen die Italiener. In erschütterndem Chor tönten Rufe von jener Seite her. Heißblütige Menschen stürzten nach vorn. Wie zum Schwur emporgeworfene Hände schienen nach dem Menschen zu greifen, dort oben hinter dem Rednerpult. Die Deutschen standen wie eine Mauer, regungslos, bleich, und sangen. Sie sangen die Hymne der Internationale. »Wacht auf ...« Ich habe unseren alten Kampfgesang nie aus tieferer Inbrunst singen hören. All die Worte des tausendmal gehörten, gesungenen Liedes schienen plötzlich mit neuem Sinn bis an den Rand gefüllt. Einen Augenblick später sang der ganze Saal. In allen Sprachen der Erdenvölker tönte die Hymne der Befreiung dem Befreier entgegen.

Lenin stand auf der Estrade und wartete. Er zog sein Tuch aus der Tasche, schneuzte sich, suchte unter den Papieren, die er aufs Pult gelegt hatte, wendete sich rasch zum Sekretär, der neben ihm stand (Max Lewien), blickte in die Papiere, blickte dann zur Seite, als suche er dort etwas. Sein Gehaben war das eines einfachen, vielbeschäftigten, vielleicht überbürdeten Menschen, der besorgt ist, ja sozusagen unmutig darüber, daß aus seiner karg bemessenen Zeit kostbare Minuten unnütz verstreichen. Sein Gehaben war aber auch das eines befangenen Menschen, der sich angesichts von Ehrungen, Ovationen, begeistertem Lärm nicht recht zu verhalten weiß. Er stand da, sichtlich ungeduldig, und wartete ... Etwa zehn Minuten dauerte der Gesang, dauerten die immer erneuten Rufe: »Lenin!« an. Das Händeklatschen. Das stärker und stärker emporwallende Entzücken der Hunderte im Saal. Dann wurde es still, und Lenin sprach. –

Ich will nicht berichten, was Lenin gesprochen hat. Es ist bekannt, ist in der ganzen Welt gehört und vermerkt worden. Ich will nur wiederzugeben versuchen, wie dieser Mensch spricht, das äußere Gehaben dieser großen historischen Gestalt, dieses Menschen, der heute das Geschick der Erdenvölker verkörpert, die Fahne der Weltzukunft voran trägt. Nur so viel über die Rede: sie gab eine kurze Darstellung der neuesten, schmerzlichen Phase in Rußlands ökonomischem Kampf, die mit der Politik des »Nep« eingesetzt hatte.

Lenin ist von seiner langwierigen Krankheit, die die Krankheit eines von übermäßiger Arbeit und Verantwortung erschöpften Mannes war, scheinbar wieder völlig hergestellt. Seiner Blässe, der Fahlheit seiner Wangen sieht man die vergangenen Wochen und Monate, schlaflosen Nächte noch deutlich an. Lenin gehorchte seinen nächsten Freunden und Mitarbeitern darin, daß er nur kurz sprach. Seine Rede währte nicht länger als eine Stunde. Er hielt sie in deutscher Sprache. –

Lenin spricht fließend Deutsch. Sein Deutsch hat eine leichte Beimengung französischen Akzents, wie das bei Russen zu bemerken ist, die neben ihrer Muttersprache die französische beherrschen, ehe sie Deutsch sprechen lernten. Hie und da, nur ganz selten, fehlte ihm ein Ausdruck, dann sagte er das Wort rasch auf russisch dem neben dem Pult sitzenden Sekretär, der gab ihm das deutsche Wort. Wohl wurde ihm auch ein deutsches Wort aus den ersten Reihen des Saales souffliert. Aber Lenin benützte selten das ihm zugerufene Wort. Er suchte und fand leicht selber den prägnanten Ausdruck, der seinen Gedanken wuchtiger, unzweifelhaft formulierte. Es war die Klarheit und Geradheit in seiner Rede, die den Menschen der Berufung und des starken, unumstößlichen Willens kennzeichnet.

Seinem Wesen, das sich in seinem äußeren Benehmen widerspiegelt, fehlen die sonst bei den Herren, den Handhabern der Macht üblichen Attribute; sein Wesen ist vielmehr das eines schlichten, gütigen, unauffälligen Menschen aus der Menge. Er neigt sich beim Sprechen gern nach vorn, fast um körperlich näheren Kontakt mit den Massen zu gewinnen, von denen ihn die Estrade trennt. Er spricht eindringlich, aber nicht autoritär, als ob er jeden Einzelnen von der Stichhaltigkeit dessen, was er, ein Mensch unter vielen, für die Vielen, die Gesamtheit getan hat, tun will, überzeugen möchte. Er hat nicht die Gewohnheit manches berühmten Redners: auf einen Punkt in der Luft loszusprechen. Er spricht zu jedem einzelnen Menschen, als wollte er den Widerhall vernehmen, der aus jedem Einzelnen in der Menge ihm entgegenschlüge. Manchen Satz, manches Wort begleitet er mit einer formenden Geste seiner energischen, aber dabei auffallend kleinen Hände, die Hände eines Arbeiters oder Ackerbauers, aber aus guter Rasse, sein könnten. Er baut seine Sätze, seine Gedanken sozusagen aus der lebenden Materie auf, sichtbar vor den Augen der Hörer, wie er die Zukunft der Welt aus diesem unendlich lebendigen, wunderbaren Ton des russischen Volkes aufgebaut hat. Sein Wesen ist ganz umwittert von dem Unerklärlichen, dem Magnetismus der gewaltigen schicksalhaften Persönlichkeit. Dieses Unerklärliche ist es eben, in seinem Wesen begründet, was die Masse, die zu ihm aufblickende Masse bestimmt, an ihn zu glauben. Wenn er sich zu uns niederneigt, strömen ihm die elementaren Kräfte unserer Seelen gesammelt entgegen. Und die Gemeinsamkeit der Willensanspannung, der Hoffnung und der Gewißheit des Triumphes tönt das Körperliche dieses auserwählten Mannes mit ihrer Essenz, umkleidet es mit dem Widerschein der Einzigkeit, des in höchstem Sinne Einmaligen, Niewiederkehrenden, der Vollkommenheit. Wer seine körperliche Nähe nie gespürt hat, vermag sich von dem Eindruck seiner gewaltigen, in ihrer Einfachheit bezwingenden Persönlichkeit keine Vorstellung zu machen. Auch wenn er einen scherzhaften Vergleich, ein schlagend witziges Wort gebraucht, verläßt ihn dieser Schimmer nicht. Ein Leuchten, Aufflackern des Vergnügens an den heiteren Dingen des Daseins geht jäh über sein Gesicht. Dieses lustige Flackern, das mancher im persönlichen Gespräch mit Lenin wahrgenommen hat, aufzeichnete und der Nachwelt vermittelte. Alle bildlichen Darstellungen seines Gesichtes, seiner Gestalt, seiner körperlichen Gegenwart geben den Lenin, wie er in Wirklichkeit ist, nur unvollkommen wieder. Im besten Falle den äußeren Schein. An seine Gestalt heftet sich der Nimbus, das Unerklärliche, Einmalige, das Rätselhafte, das jedem Menschen eigen ist – diesem aber millionenfach.

Nach einer Stunde rafft Lenin die Blätter auf dem Pult zusammen, schließt rasch und wendet sich zum Gehen. Wieder brausen Rufe, der Gesang ertönt aufs neue, schwillt wuchtig empor zwischen den Säulen des goldenen Saales; einige Minuten noch verweilt Lenin auf der Estrade, von den Freunden, den Mitarbeitern, dem Präsidium der Exekutive umdrängt, dann geht er den Weg zurück, den er gekommen, rasch, wie einer, der Versäumtes nachholen muß, oder wie einer, der nicht mehr viel Zeit zu verlieren hat. Hunderte stoßen nach vorn, um ihn noch einmal zu sehen, ein Wort, einen Blick, vielleicht einen Händedruck von ihm zu empfangen. Es sind Menschen aus allen Gegenden des bewohnten Erdballs, junge und alte, sie wollen den Führer, den brüderlichen Genossen sehn, sie werden das Gedenken dieser Stunde, dieser Augenblicke in alle fünf Weltteile mitnehmen.

Unauslöschbar wird es in unseren Seelen fortleben, wirken, was wir in diesen Augenblicken erlebt haben. Dieses Gedenken an Lenin. Er ist unter den heute Lebenden der am innigsten, mit schwärmerischster Hingabe, der am stärksten geliebte Mensch.


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