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Beichtvater

Wie ein Wegweiser stand an dem Hohlwege, der nach Hagedorn führte, der Zigeuner. Er stand da wie erstarrt, wie eine Salzsäule, wie Lots Weib. »Pour avoir regardé Sodome«, sagt Victor Hugo. Schon von weitem sah man der Gestalt an, wie die Augensterne erstarrt sein mußten. Ausgebrannte Welten. Die sich schon verkehrt drehten: einmal so, dann wieder so.

Und in der Tat, so stand er da, als ich näher kam, und er lüpfte seinen eingebeulten, gleichsam zitternden und verfallenden Filz.

Wo war sie geblieben, diese gleichsam wie eine Rüstung der Welt gegenüber angelegte Respektabilität.

In der Tat, es mußte weit mit ihm gekommen sein: dies war schon nicht mehr das Vorwerk, dies war das Bollwerk selbst, das er preisgab. Von allen Seiten drangen die Feinde ein bei ihm, wie Wasser über einen in sich zusammenfallenden, wie ein Blatt sich biegenden Damm.

Ein langer gelblichgrauer Überrock schlotterte um die hagere Gestalt: eine Farbe wie trübe, dumpfe, dichte, in sich verwobene und verkrochene Höllenglut: ein Papinscher Topf kochender Seele: kein Ausweg, alles siedend in sich selbst.

Sunt lacrimae rerum.

Zitternd, tastend, in Absätzen zuckte er mir seine bis auf die Knochen eingefallene Hand entgegen: seine Totenhand.

Eine Stimme, die nicht von ihm kam, die schon in sich eine graue, ungestalte, mißschaffene Gestalt war, stieg auf, ergoß sich:

»O Sie! sagen Sie mir, finden Sie mich ... ich habe mich verloren. Wo bin ich? Wo soll ich hin? Ich kann nicht mehr heraus aus mir: ich zerreibe mich an mir, das sind alles Foltergeräte nach innen, und da muß ich hindurch. Und wieder hindurch. Und noch mal. Hei, wird's bald!«

Der Schrei, der Ruf gegen sich selbst, war schmitzende Peitsche.

»Sagen Sie den Leuten, die da sagen: es gibt keine Hölle, sagen Sie ihnen: es gibt doch eine. Eine? Ja, so eine Hölle, die an einem Ort wäre, die um einen herum ist, wo man hineingekommen ist, das ist keine Hölle: das ist Spielerei. Aber daß man selbst Hölle ist, daß alles in einem ist und bleibt und nicht herauskann – so, so ist es! So ist es um mich bestellt! Brechen Sie mich auf, brechen Sie mich auf, sag ich Ihnen – Sie können nicht? Sie wollen nicht!«

Feige suchte ich ihn abzuschütteln:

»Waren Sie schon bei einem Geistlichen? Der müßte das doch besser verstehen als ich: Der ist doch eigentlich dafür da –«

Der andere lachte auf: die Fröhlichkeit der Verzweiflung.

»Also auch Sie? Auch Sie wollen mir entwischen. Auch Sie wollen bequem tun wie die andern. Aber Sie entkommen mir nicht! Sie mit Ihrem Geistlichen! Da glauben Sie wohl selbst nicht daran, an Ihren Geistlichen! Der ist dazu da: so sagten Sie ja wohl? Der ist dazu da? Der ist dazu da? Dazu angestellt! Dafür bezahlt: Ja, das ist er! Aber dazu da: das sind Sie! Und von Ihnen will ich es wissen.«

Es war mir etwas Erhabenes: diese Grenze der Bosheit, etwas Rührendes, wie sie über sich selbst ins Reine zu kommen suchte – all meine Menschlichkeit wallte auf, ihm entgegen.

Wozu?

Und ich begann:

»Oh, Sie sind auf dem Wege. Doch nicht bei mir, bei sich müssen Sie suchen, da finden Sie!«

Eine Lache, wie nach der Sprengung Blöcke herniederprasseln:

»Finden? Was finden? Asche? Wenn nichts mehr da ist, da suchen Sie mal!«

Vor seiner Heftigkeit war ich rahig geworden:

»Gelassen, lieber Freund, gelassen! Da ist immer noch etwas. Eine Bosheit, die sich erkennt, hebt sich auf. Ein Fegefeuer sind Sie, keine Hölle!«

Wie verhallend, wie ein Widerhall eines Rufes sagte seine Seele nach: »Wer bin ich, wohin mit mir? Zu was? Eine Bosheit des Geistes, die sich erkennt, hebt sich auf. Ja: Das ist was. Das trägt. Ja, das trägt.«

Und die tollen schneidenden Raubtieraugen erloschen nach innen.

Sein Gang, seine weitausholenden Schritte waren weicher geworden, wie seine Worte.

Ein Hüstern ging neben mir, wie in Krankenstuben ist:

»Nicht wahr, Sie gehen etwas mit mir? Sie tun mir ja so gut. Sie wissen das auch. So was weiß man immer. Sie müssen mich noch etwas vorbereiten. Denn es ist soweit: bald werde ich mich erkennen. Ganz bald! So was man Sterbesakramente nennt, das geben Sie mir heute. Der Geistliche kann das nicht. Der meint es ja ganz gut, er ist soweit ein ganz netter Herr, und ich habe ja auch gar nichts gegen die Religion. Aber sie hat nichts für mich – die sind zu allgemein! Zu allgemein! Und in mir ist so ein Abgrund! Ein ganz besonderer Abgrund! Der Abgrund bin ich. Nur ich! Und den können die mir nicht deuten, mir nicht sagen, wie ich herauskomme, herauskomme aus mir. Da heißt es klimmen! Und ich bin so schwach! Früher haben sie mich gefürchtet. Das braucht nun keiner mehr. Sie verlassen mich nicht? Sie haben ja andere nicht verlassen. Die vielleicht nicht mal so. – Ich tue kein Böses mehr. Ich kann nicht mehr. Gutes auch nicht mehr. Leider hat das die Bosheit mitgegessen.«

Wir gingen weiter und weiter. Zitternde Stunden.

Erntearbeiter grüßten – was sonst war, was für Gegenden wir durchstrichen, ob es auf der Erde war, oder dort, wo Geistergrappen Urgesetz weilen und wallen, träumen und rasen – ich weiß es nicht.

War es ein Wahnsinniger, der neben mir ging?

Das gerade Gegenteil eines solchen.

Wahnsinn heißt: das Gerüst, das zu deinem Geiste führt, ist eingefallen. Hier war es der Geist selbst, der brannte und sehen mußte, wie von der ihn verzehrenden Glut das Geräst, das ihm Qualen zutrug, nicht angetastet werden wollte. Er mußte es brennen wissen, brennen fühlen in sich. Wie ein trübes Kräusel, das nicht erlöschen will. Und immer wiederholte er sein:

»Sie verstehen mich; Sie müssen mir helfen!«

Ja, das war so eine Geschichte: verstehen, verstehen ist nicht Helfenkönnen.

Ich konnte ihm wohl sagen:

»Sie sind ein Lebensschicksal. Ein lebender Stein, wie dieser hier: ein Stein, der weiß, daß er verletzt und doch danach tun muß: nach seiner Natur, nach seiner Anlage. Hier der Adel, das ist ein Stein, auf Stein, der nicht aus den Fugen gehen kann und so sich verfallen lassen muß. Das sind Sie gar nicht. Dem Adel, wohin Sie hineingeraten sind, ist Beweglichkeit vonnöten. Ein paar Jahrhunderte hindurch hat er seine Aufgaben erfüllt. Nun hat er sie verloren. Und er kann sich schlecht bücken, sie wieder aufzunehmen. Und hat der Wind die Anweisung seines Lebens auf einen Baum entführt, so wird es ihm sehr schwer, in seiner Rüstung auf den Baum zu klettern und sie sich aus den Zweigen zu lösen. Ein Hirtenjunge kann das besser. Die haben zuviel Halt. Sie zuwenig. Sie hätten fluten bleiben müssen. Der Fehler, der an Ihnen begangen wurde: man hielt Sie an. Was flutet, darf nicht starr werden. Ich will Ihnen sagen, wie Ihnen ist: Da ist so etwas, man weiß nicht, ob Fluß, ob Flamme, und dieser Flammenfluß führt so nebeneinander mit: etwas, das Rauch ist und Haar sein könnte, lauter grelle, schreiend leidende Gesichter. Und dieser Gesichterschrei ist immer nur ein Antlitz: ist Ludmilla.

Ihr Blut ist Geisterblut: erst im Tode werden Sie zu dem, was Sie nun noch nicht sein sollten, erlöst werden: zu sich selbst. Nur in einem können Sie sich helfen: tun Sie Gutes. Das Gute löst Ihren wildstarren Geisterfluß, nimmt einige Tröpfchen davon und tanzt mit ihnen in Regenbogen.«

Der Zigeuner streckte mir wortlos seine Hand hin. Lautlos fügte er hinzu:

»Das ist mein Weg, ich weiß. Und ich werde ihn gehen.«

Wir hatten uns ausgesprochen, nun wunderten sich unsere Blicke – oder waren's meine allein? – in der Landschaft umher: wo wir denn eigentlich waren.

So weit ab?

Das ganze Mittelalter: da zwischen schlichtem einfältigen Wald und Sassenköpfen der nächsten Wälder das graugeräumige Benediktiner-Kloster Marienmünster mit seinen tüchtig überschauenden Abbasaugen von Galerie zwischen den beiden sinnbewußten Türmen.

Und über den etwas einfältigen grünen Gassenköpfen von Hügeln und Waldgebreiten das Zwing Uri: Oldenburg.

Und am Tor uns entgegen der Pfarrer.

Da gab's kein Entweichen. Der Spaziergang wurde nicht gemacht, wir mußten mit hinauf in seine Wohnung, diese geräumige geistliche Burg des Mittelalters.

Zu bauen wußten die geistlichen Herren: ausgiebig und tüchtig. Der Gang so breit wie ein Saal und so lang, daß die blankgebohnerten Dielen nicht mehr wußten, wohin sie sich zu wenden hatten. Und mitten im Gang ein Erker mit Eichentisch und Holzbänken, ähnlich wie die Chorstühle unten in der Kirche. An den Wänden große Heiligen- und Äbtebilder. Hier konnten die geistlichen Herren sitzen, der Erholung pflegen, einen guten Trunk tun aus dem Rheingau und doch den Hof, das Ganze im Auge behalten.

Recht benediktinermäßig!

Recht benediktinermäßig auch die Gastfreundschaft, die der hochwürdige Herr im Sinne seiner Vorbesitzer übte.

Ein goldener Wein ward gebracht, golden auch die gescheite, humoristisch dingwarme Unterhaltung, der stilfrohe Schönheitssinn dieses prächtigen Menschen im Priesterrock.

Allerlei heitere Schlaglichter fielen: bald auf einen Amtsbruder, der über eine Filialgemeinde – mittelalterlich, höchst mittelalterlich! – das große Interdikt auszusprechen hatte. Und das, weil dieser Gemeinde einer kaum beendeten Mission wegen nahegelegt wurde, das Schützenfest dieses Jahr zu verschieben.

Zu verschieben – nicht etwa ausfallen zu lassen!

Der aber kennt die dicken Sachsenschädel schlecht, der da glaubt, an diesem altgeweihten Brauch mit ungefüger Hand rühren zu können!

So hatten ihm denn die jungen Leute, in ihren heiligsten Empfindungen gekränkt, des Nachts vor einem großen Kirchenfeste die Laubgezelte, die für die große Prozession zusammengefügt waren, in der Nacht vorher zerstört.

So ein Frevel mußte entsprechend geahndet werden.

Da um den gastlichen Tisch alsbald auch noch die vierte Seite menschlich verbrämt wurde – diesmal war' s ein Amtsbruder und Studiengenosse –, neckte das gutmütig spöttische Gespräch einen Konfrater, einen Johannes, einen Professor der Theologie, der ergötzlich wirkte wegen seines hemdärmeligen Naturburschentums und seines ungenierten Verkehrs mit jungen Damen, deren zarte Ohren er durch derbe Bemerkungen nicht selten verletzte, sie dafür aber auch, wenn er guter Laune war, hitzig verfolgen und ins Heu werfen konnte, in aller Unschuld seines Herzens natürlich.

Er wurde nur mit seinem Vornamen genannt: Johannes oder so.

Auch die Schliche und Ränke, mit denen der Mann Gottes den Regierungsräten zu kommen hatte, um seinem Gotteshause, dessen Patronatsherr der Staat war, zu Recht zu verhelfen, wie er zum Beispiel unter des Himmels Beistand so einen Herrn gerade dann über den Gewölben der Kirche unter dem schadhaften Dach umherführen konnte, als gerade ein tüchtiger Platzregen gefallen war und alles da oben zu überschwemmen drohte: alles das gab der sinnig neckischen deutschen Rheinweinseele ein Ansehen, wie der Wein selbst, den sie genoß, von dem sie sich nährte.

Aber was konnte das alles meinem guten Zigeuner helfen, den das Fieber seines Wesens alle Augenblicke aufriß aus seinem Schlummer; und sah er nach der Uhr: es war erst eine Stunde vorüber!

Nein, mein Freund, und der so leidet, ist mein Freund, er hatte recht, in diesem Frieden konnte er keinen Trost finden.

Kaum einen Waffenstillstand!

Der pflichttüchtige Pfarrherr, mochte er auf gut altsächsische Weise mit Pferd und Wagen sich seine fünfzehn Gemeinden, zwei Häuser, manche und zehn Seelen, mochte er so sich seine Schafe zusammenholen: dieses eine verirrte Schaf, diesen Widder würde er schwerlich finden.

Damals waren die Seelen eben einfacher, totschlaglustiger vielleicht, aber einfacher.

Kaum hatte uns der Erbe St. Benedikts an der Treppe verabschiedet, kaum hatten wir den Hof betreten, als uns ein neuer Besuch begegnete.

Ganz fuchsig rotes Haar hatte der, wie ein Judas. Ein Pächter war es, ein als sehr streitsüchtig bekannter. Voll Bewunderung, die mit einem Schuß Grauen belebt war, sah man zu ihm auf und flüsterte von dem Spottgedichte, das er auf seinen Pachtherrn, einen Grafen von der Hünenburg, nicht nur gemacht, sondern auch hatte drucken lassen. Besonders erhalten geblieben im Gedächtnis und Mund des Volkes waren die ebenso beißenden wie meisterhaften Verse:

»Und mit seiner Scheinheiligkeit
Betrügt er selbst die Geistlichkeit!«

So'n Racker!

Wir gingen weiter.

Das der Tag. Grimmig trug die Abendröte auf, racheglühend geohrfeigt die Himmelswange. Der Wolken Flucht vor der jauchzenden Brandfackel. Nur die dunklen Stürme der Sorgen fühlen so dringend.

Nun erst die Nacht. Das gute Herdfeuer geht schlafen. Aber diese Gluten?

 


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