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Alarm

Wie rasend bellte Karo mitten in der Nacht auf. Sein altes Ohr hatte durch den wütenden Sturm, der ein Gewitter davonjagte, wie man wohl einen zornmütigen Menschen aus dem Hause weist, Schritte gehört und Pochen.

In einem Nu war der Traum von allen den Knochen, den guten Knochen, die er hier im Hause hin und wieder gehabt, von den noch bessern Abfällen in der Glanzzeit des Wirtshauslebens – aber auch von allen Püffen und Knüffen, die er erhalten –, dann angenehmer: von den kleinen Obstdieben, den Landstreichern und Hausierern, die er hatte beißen dürfen – in einem Nu war dieser Traum abgeschüttelt, gleich einer alten Decke, und Karo stand, wie man aus dem Bellen hörte, in atemlos geifernder Wut gegen die Tür und gierte nach den Waden, die er jenseits wußte.

Fluchend und brummend erhob sich Puljohann: »Na ja, sachte an, ich komme ja schon!« gerade als ob der Hund es hätte hören und verstehen können.

Auf dem Flur bewehrte er sich mit einem riesigen Besenstiel, den die alte Karoline da vergessen hatte, und öffnete die Tür.

Zuvor hatte er angefragt: »Wer ist da? Was ist denn noch los? Zu so nachtschlafener Zeit weckt man doch keine Leute auf!«

»Der Depeschenbote!« hatte es geantwortet.

Nur widerstrebend, mißtrauisch und unsicher ließ sich der Schlüssel im Schlosse drehen.

Der Wind warf sich mit einer Heftigkeit auf die eben geöffnete Tür, daß sie dem alten Knecht aus der Hand flog und der ganze Anprall durch das Haus ging, daß alle Türen heulten. Die Nacht warf ihr Unheimliches, ihre greifbare Finsternis, ihre langgezogenen Klagelaute hinein in die menschliche Behausung; ihre prasselnden Tropfen, in denen die Wolken des Schicksals niederkamen vom Himmel zur Erde, gleichsam als habe sie irgendwo in der Ferne etwas vernommen und das müsse sie hier wiederverkünden, und das würde auf die Wolken der Seele drücken und auch diese in Tropfen herniederziehen.

Puljohann hatte den Hund beim Halsband genommen und hielt ihn daran mit der Linken fest, mit der Rechten nahm er ein bleiches Papier in Empfang, das ihm der Bote einhändigte: »Für den Herrn! Schreckliches Wetter!« Dann war er auch schon fortgetrabt.

»Sofort kommen – Ludmilla auf den Tod.«

Wie eine fast unverständliche betäubende Botschaft wiederholten sich vor ihm immer wieder diese Worte.

Was ist da zu machen?

Vor allen Dingen anspannen!

Ob er Weihnacht benachrichtigt, mitnimmt?

Aber was sollte er da?

Er ist nur im Wege. Der Kurdirektor weiß nicht, was das soll.

Aber vielleicht will Ludmilla ihn noch mal sehen!

Vielleicht ist es gut für sie.

Es ist am besten: man sagt ihm Bescheid.

Dann kann er sich selbst entscheiden. –

 

Walter stand an ihrem Bette. Neben ihm der Kurdirektor.

Ernst und wie streng, streng zu Schicksal und sich sah die Kranke vor sich hin.

Und wenn von nebenan ein ganz leises, leises Wimmern ertönte, so richtete die Kranke ihre Blicke von der Seite dahin, schmerzlich und zornig gezogen. Ihr schwarzes Haar verlor sich unter ihr wie ein Mantel. Es schien gar kein Schein mehr darin zu sein, keine Welle: nur Angst und peinliche Spannung.

Das Haar hat mehr teil an der Seele, als du denkst. Mit leiser Stimme wiederholte Walter seine Mitteilung: »Weihnacht ist da. Soll er hereinkommen?« Ihre Augen wanderten ratlos im Kreise, dann nickte sie.

Nickte noch einmal. So ging denn Walter, ihn holen aus dem Amtszimmer des Kurdirektors, worin er so lange gesessen: Starrend auf die schwelende Küchenlampe, die man ihm in der Eile hierhergesetzt, eine qualvoll blutig schwadenpuffende Flamme, leidend und gequält vom schwarzen Rauch der Angst und dröhnender Wildheit eingezwängter Seele der Qual, das Eigene in Fremden suchen zu müssen.

Nicht mit leisen Schritten, sondern fest auftretend in Eile und Bestimmtheit folgte Weihnacht seinem Herrn.

Kaum aber betrat er das Gemach, worin er des Bettes seiner Jugendgeliebten ansichtig ward, als er mit einem Satz wie ein reißendes Tier darauflosstürzte, die ihn fest und bekümmert Ansehende aufriß von ihrem Lager und sie mit stürmenden Küssen würgte und immer wieder würgte. Als er von ihr ließ, lag sie wie tot da.

Aber sie sah ihn dankbar an, mit Augen, in denen die Feuchtigkeit des Lebens gerann.

Für immer gerann.

Um nie wieder zu schillern im Spiel der Empfindung.

Der Kurdirektor war hinausgegangen.

Er hatte seine Frau verloren und erfahren, daß es nicht seine Frau war.

Er hatte noch seinen Verlust verloren.

Nicht, daß es ihn besonders gekränkt hätte.

Nur dumpf machte es ihn. Dumpf, so dämlich vor sich selbst.

Weihnacht aber lag vor dem Lager der Toten, seine Hände hatte er über die Laken gelegt, unter denen nun ein wahrscheinlich mehr und mehr erkaltendes Gebilde lag, das nunmehr keinen Sinn mehr aufwies. Es war wie ein Spiel – nein, nicht wie ein Spiel, ein Spiel hat immer noch Sinn und Schönheit, es ist Verstand darin und Einbildung.

Hier aber, das ist wie 'ne Kritzelei.

Eine Kritzelei, wie man sie wohl in müßigen Stunden auf das Papier wirft, wenn man lange zu warten hat. Wenn Sinn und Geist leer, ganz leer sind, nichts, gar nichts darin ist. Wenn man sich selbst um die Ohren schlagen möchte. Und diese blödsinnige Kritzelei kann einen so aufbringen, daß man immer und immer wieder die Messer wie zerfetzensfreudige Zacken gegen sich selber kehrt und in dem wühlt, was man übereingekommen ist, Seele zu nennen.

Was das für ein Ding eigentlich ist, weiß keiner.

Daß es aber sehr weh tun, sehr verheert werden kann und übel zugerichtet, daß es von Grand auf verwüstet werden kann bei uns und anderen, das weiß man leider Gottes nur zu wohl.

Ja, wo die Seele erfunden ist, da zählt man den Menschen entweder ganz und gar nicht, oder man stellt ihn so hoch, daß wir ihn selber gar nicht mehr verstehen. Man findet dann irgendwo, wo es ist: man findet dann: dieses Ding, die Seele hat ja gar nicht so viel Wert. Für sich ist sie nichts, fast wie nichts. Sie ist nur da, mit ihr zu lernen. Der Mensch aber, das, worauf es ankommt, das ist so hoch, daß es ihm ganz gleich ist, ob dem Seelchen was weh tut oder nicht.

Wird in die Seele eine Wunde gerissen, das ist, als ob man sich einen Riß in den Rock irgendwo holt. Man ärgert sich ja ein wenig, daß das Kleidungsstück ruiniert ist. Besonders, wenn die Mittel knapp sind, um ein neues anzuschaffen: aber zum Verzweifeln ist die Sache nicht.

Vielleicht indes ist der Schaden an einer Seele dem Menschen nicht einmal so empfindlich wie uns der Schaden an einem Kleidungsstücke. –

Alle verhielten sich still, keiner sprach ein Wort. So schrecklich war der Verzweifelte in der Verzerrung, im Todeskampfe seiner Leidenschaft anzuschauen. Keiner wagte hinzusehen, wie die Zähne knirschten und schnatterten, wie der Mund unregelmäßige, eckige Gestalt annahm, wie die Augen sich spannten und sich wanden.

»Oh, du Bestie!« – sein Schmerz meinte nicht die Tote, meinte das Schicksal.

Dann sprang er auf und eilte hinaus. Mehrere Tage hindurch sah man nichts von ihm.

Dann kam er zurück: ganz verwüstet, peinlich gefestigt in seinen mit Zwang an den Schmerz gehefteten Zügen, dort wo sie bleiben sollten für und für: ein lebendes Denkmal der Toten, ein stöhnendes, ein schreiendes – ein hassendes.

In ihrem Namen wollt' er hassen alle, die um sie gewesen, in ihrem Namen sie verderben.

So wollte er ihr zeigen, was sie ihm gewesen.

Wie vieles sie an ihm verlor!

Welchen Schatz an Liebe, wo nun so ein Schatz von Haß war.

Das wollte er ihr zeigen.

In diesem Sinne ihr leben.

 


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