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Die Grävenburg

Den Zigeuner-Rentmeister sah ich wenig mehr. Nur hier und da auf dem Felde, in der nahen Kreisstadt Höxter begegnete ich ihm. Immer nahm ich sein böses Gesicht mit wie einen Schatten: einen Schatten, den ich bedauerte.

Von Herzen bedauerte. Fast achtete in seiner Verworfenheit.

Achtete als meinen Gegensatz.

Echte Menschen haben den Himmel in sich und sehen so die Welt als Himmel.

Dann gibt es andere, die haben die Hölle in sich und sehen nun die ganze Welt als Hölle.

Und so eine recht tiefe finstere Hölle, quälend wie gequält, war Rotnacht, der Zigeuner-Rentmeister.

Und er konnte nicht anders sein:

Bei seinem Wesen, bei seinem Schicksal.

Dem Schicksal, wie sein Wesen es gerufen.

Denn das gleiche wird vom gleichen angezogen.

Ja, dieser Mann des Hasses, dieses Geschöpf der Feindseligkeit, hatte eine Liebe genährt, gehegt, aber in diesem Giftboden war sie zu Wahnwitzigem geworden, das giftiger war denn Haß.

Und er litt, er quälte sich hinein in seine abgebrochene Leidenschaft: eine Leidenschaft, die nur Leidenschaft war, ohne Grenze, ohne Erfüllung.

Er stand vor mir.

Wachsend.

Verwachsend.

Ich sah vor mir, wie alles so kam und ihn unter sich nahm. Weihnachtsabend: Weiße weite Schneegebreite, darüber geronnen tiefschwarze, vor Schwärze fast glänzende Nacht.

Und da sucht einer Wärme draußen, in der Schenke, die er daheim – am Herde, am leeren Herde nicht findet. So liest sich ein Vögelein von Dornen die Wolle zusammen zum Neste, die eine dicht vorbeistreifende Herde dort gelassen.

Und allmählich wirkte es: besonders die Cognac schmauchen, schmauchen wie kleine trübe Feuer auf und lagern über Hirn und Blut so einen süßlich wohligen Rauch.

Auch das gibt Wohlwollen, Mitgefühl, doch ein künstliches, gleichsam entartetes. Das ist die Stimmung, die zum Traktieren bringt, da will man die ganze Gaststube bewirten. Aber immer nur in dem Stoffe, den man selbst genossen hat: in geistigen Getränken.

Würde jemand, ein armer Teufel zum Beispiel, statt dessen ein Butterbrot verlangen: welch eine Empörung, welch ein Unwille!

Trinken aber kann er, trinken, bis er unterm Tische liegt, alles auf Kosten des Animierten, der seinerseits weiter animiert.

Des alten Barons von Hassenburg Drang war damals in anderer Richtung gegangen. Er fand in dieser Stimmung den verstoßenen Zigeuner: da lohte auf einmal alles in ihm. Undeutlich, aber gewaltig. Er fühlte sich in der weiten Weltstimmung des trunkenen Königs. Ein Wohltäter wollte er sein. Nicht so ein Wohltäter mit einem Zehnpfennigstück, nein, etwas ganz Außerordentliches, etwas geradezu Unerhörtes.

Da war dieser Knabe, jeder würde ihn von sich stoßen wie ein widerliches Tier, wie eine Kröte. Überall würde er umhergeworfen werden, würde stehlen müssen, meistens im Gefängnis sein und dann irgendwo am Wege hinter der Hecke eingehen.

So gerade nahm er ihn. Nahm ihn, wie er da war: verlumpt und verwildert, mit sich nach Grävenburg.

Wer wollte ihm was?

Er war sein eigener Herr.

Und die Kinder?

Pah, die hatten den Schnabel zu halten!

Und das Vermögen?

Nun, viel war es gerade nicht, aber es würde schon reichen! Wer hätte je gehört, daß jemand vom Wohltun arm geworden wäre?

Und er war ungefähr so alt wie sein Junge. Höchstens ein oder zwei Jahre jünger. Das gab gute Gespielen.

Und sein Junge war so'n störrischer, so'n Windhund. Da mußte dann der kleine Zigeuner vorteilhaft auf ihn einwirken: der hatte schon viel mitgemacht, war in seinem Wesen älter und verständiger. Das sah man, wie er gleich still und folgsam wie ein Hündchen sich erhoben hatte und mitgegangen war. Wie er immer sich bemühte, gleichen Schritt zu halten, trotzdem er sehr erschöpft sein mußte! Wie er erst auf Zureden, da Hassenburg die Mattigkeit des Knaben wahrnahm, es wagte, die Hand auf den Arm seines Pflegevaters zu legen. Dann aber innig und leise sich anschmiegte.

Es kam anders.

Zwar das Mädchen, die Ludmilla, die etwa ein Jahr jünger sein mochte als der Kleine, zündete gleich in ihren mehr scharfen als lebhaften schwarzen Augen zwei Freudenfeuer an, da ihren verwundert verschlafenen Blicken der zerfetzte, aber schlanke und schöne Knabe, der so was seltsam, märchenhaft Scheues und Wildes hatte, als Spielkamerad vorgestellt und ihrer geschwisterlichen Freundlichkeit und Verträglichkeit mit hier unnötigem Nachdruck anempfohlen wurde.

Anders der Knabe Walter, mein Baron. Dessen Seele war schon zu erwachsen, er hatte schon Verständnis und Empfindung für die kümmerlichen, immer mehr niedergehenden Vermögensverhältnisse der Familie. Er sah in dem Zigeunerbuben nicht den Gespielen, sondern den drohenden Miterben. Und es brach von Stund an ein tödlicher, unerbittlicher Streit, eine den jungen Baron immerfort zu neuen Gewalttätigkeiten gegen den Eindringling anstiftende Feindschaft zwischen ihnen aus. Diese wurde durch die geradezu unsinnige Anhänglichkeit der Schwester nicht gerade gemindert. Im Gegenteil: nun trat auch noch zwischen den Geschwistern eine Abneigung ein, die tieferen Grund hatte als die gewöhnlichen Streitigkeiten, wie sie bei Kindern meistens die Regel sind; eine Abneigung, die schlimmer war als das Naturgesetz des Hauses, der geschwisterlichen Zänkereien, das fast etwas Gesundes hat.

So war denn in dieser Kinderwelt eine Spannung, die durchaus nichts Kindliches mehr an sich hatte und die zu verhängnisvollen Äußerungen führen mußte.

Von alledem merkte der, der alles dieses angerichtet hatte, der Vater, nicht das mindeste. Ward er hin und wieder Zeuge, zufällig Zeuge, weil sein Sohn den jüngeren Pflegebruder schlug oder trat, da machte sich sein Ärger in einer derben Züchtigung des »gefühlsrohen Burschen« Luft. Und alle diese Züchtigungen sparte der Rachegeist des immer mehr erbitterten Walter nur dazu auf, um die Summe in neuen, ausgesuchteren und versteckteren Mißhandlungen und Kränkungen des »Taternbengels« gewinnbringend anzulegen.

Der schnell alternde Mann hatte geglaubt, mit diesem wilden Sohn ferner Ebenen ein Leben und Jubel ins Haus zu bringen, das seit dem Tode seiner Frau so grämlich dalag – und nun hatte er tobenden Zorn und verhaltene Feindseligkeiten mit heimgebracht. Nun fühlte er sich noch einsamer, noch verbitterter als früher. Seine Kinder waren ihm entfremdet. Denn auch das Mädchen vergaß jetzt die gelegentlichen Zärtlichkeiten und innigen Gefühlsfeuer, deren das häusliche Leben so sehr bedarf, und wandte alles, ihren ganzen, jeden herrisch zu Füßen haltenden Sinn, dabei aber auch die gelegentlichen unwiderstehlich auftretenden Anwandlungen, lieb zu sein, opferwillig und hingebend, ihrem Gespielen zu.

Nur beim Zigeunerknaben blieb die letzte Wärme seines ersterbenden väterlichen Sinnes zugewandt. Denn dieser war immer um ihn, sah ihm jeden Wink von den Augen ab, ließ sich ruhig von Walter quälen, ohne sich zu wehren, obgleich er sich stark herausgemacht hatte und mit seiner Sehnenkraft leicht den altern Genossen hätte bewältigen können. Hassenburg hielt das für Sanftmut: konnte er doch nicht ahnen, daß es Rache war, berechnend seine Rache; daß der Beleidigte es vorzog, statt selber zu vergelten, eine stärkere Gewalt vergelten zu lassen und dadurch die Sünde zu verstärken. Im übrigen war der Knabe wirklich dankbar und liebevoll. Dankbar und anhänglich an seinen Retter, liebevoll und willfährig gegenüber seiner kleinen launischen Göttin.

Und da man den alten Hassenburg eines Morgens tot im Bette gefunden, die geleerte Kognakflasche neben sich, nachdem der vom alten Diener, vom Puljohann schnell gerufene Arzt einen Herzschlag und den schon vor Stunden eingetretenen Tod festgestellt hatte, da war alles, was menschlich zart in dem hassend aufgewachsenen Zigeunerknaben geblieben war, war diese Wärme, die ihn unter den Menschen fühlend erhielt, erloschen.

Das Begräbnis war klein und dürftig. Reiche Familienglieder waren nicht da. Der Adel der Umgegend hatte sich von dem herabgekommenen Manne entfernt gehalten und beteiligte sich nicht. Beteiligte sich nicht, trotzdem dieses Geschlecht das aller-, allerälteste war auf weite Strecken hin und wahrscheinlich von den alten Sachsenherzögen abstammte.

So besorgten also die Dienstboten das Leichenbegräbnis dieses in Staub gesunkenen Herzoggeschlechtes. Nicht in die Kirche, die vor reichlich siebenhundert Jahren ein Schwalenberger gestiftet und reich beschenkt hatte, kam dieser späte Sprosse eines wie ihre Burgen, ihr Mauerwerk verwitternden Geschlechtes, zu ruhen; sein großer Stein mit Gestalt und Wappen und streitartigen Randbuchstaben bezeichnete seine Stelle. Nein, er kam zu ruhen mitten unter die Tagelöhner und polnischen Arbeiter, die hier eine Tagelöhnerin geheiratet hatten und von den vielen Kindern, die ihnen der Herr schenkte, die meisten wieder verloren, weil es den Kleinen an Pflege fehlte. Indessen ruhen kann man überall, und ein schöner Flecken war dieser kleine Kirchhof, der um die ziemlich neue Gotik der katholischen Kirche wie ein Garten sich breitete.

Und es war auch ein Garten: der Pfarrgarten.

Auf runden Rabatten die farbige Wehmut der Aster: sie nehmen das Leben, wie es ist, und machen daraus, was daraus zu machen ist – duftlos, aber bunt.

Bunt ist das Leben angelegt, und der Mensch strebt aus allen Kräften, es eintönig zu machen, Charakter hineinzubringen: ausgebleichte Astern!

Auf den meisten kleinen Gräbern, den Kindergräbern, lagen Äpfel und Birnen, reife und unreife: Früchte oben und Früchte unten.

Der recht bewußt in die Brust sich werfende Gockelhahn auf der Spitze des Turmkreuzes sah, wenn er beständiges Wetter

anzeigte, gerade hinein in den steilansteigenden Semiramis- Garten des über die Straße hinliegenden Kaufhauses und spiegelte sich in den klaren Scheiben des kleinen Treibhauses. Und wenn er darin die dicken Kürbisse und die wie ein Ball gestickten Melonen erblickte und sich darüber, wie er noch blank – war blank, wie an jenem Tage, da man ihn heraufgebracht vom Kupferschmied, wie dieser unangenehme nässende Wind ihm noch keinen Rost hatte anhängen können –, dann freute er sich und fühlte das Bedürfnis, ein lautes Kikeriki auszustoßen.

Aber auch nach Westen hin hatte der Hahn Beschäftigung, da suchte er über die erst grünen, dann blauen und immer feiner blau sich hinziehenden Wälderhöhen den Hermann zu entdecken, der ihm von der Grotenburg aus als Erkennungszeichen sein Schwert entgegenstreckte.

Und glaubte er ihn gefunden zu haben, da mußte er sich wieder drehen, und alles war weg.

Man sollte es gar nicht für möglich halten, daß jemand dieser kleinen freundlichen, bescheiden tiefgelagerten Kirche etwas zuleide tun konnte. Und doch geschah es: alle paar Jahre wurde mal eingebrochen bei ihr. Eingebrochen um ein paar Groschen Büchsengeld!

Warum lag sie aber auch so ohne Aufsicht, so allein auf der Seite der Straße, wo sonst keine Häuser mehr standen?

Hier sieht der alte Hassenburg mit seinem verlorenen Gesichte, das auf der vergilbten Photographie, die der Baron zum Glück erst dann wieder fand, in diesen Tagen erst, als sein angesammelter Ingrimm gegen den Vater verdunstet war, das auf dieser verschollenen Darstellung vor Gutmüdigkeit fast ingrimmig erschien, hier sieht er seiner Urständ entgegen, während sein Sohn, sein verlorener Sohn, hier brav mit sich nach oben ringt.

Er hatte einen schweren Kampf, aber schon wieder Zuversicht: so muß es ihm gelingen!

Das war eine wilde zuversichtslose Zeit, als der alte Herr gestorben.

Zwar hatte der alte Puljohann, der im Laufe der Zeit immer mehr nach vorn sich krümmte und von seiner kleinen Gestalt so immer mehr verlor, seinen Dienst nach wie vor versehen – den Lohn Heß er stehen, wie er sagte –, auch hatte die alte Karoline, die schon seit mehreren Jahren das goldene Kreuz der Kaiserin für fünfzig Jahre treuen Dienstes seltsam genug auf ihrem verschossenen, aus Schwarz vor Alter ins Bräunliche vergilbten Gewände stolz in die Kirche trug, ihren Dienst als Mädchen für alles fortgeführt: aber das war nur Gewohnheit, keine Pflege. Walter hatte der Vormund auf einige Zeit auf eine landwirtschaftliche Schule geschickt.

Das Mädchen blieb im Hause. Für ein Pensionat reichte es nicht. Genug, daß der Junge soviel kostete. Doch das mußte sein. Um das Gut imstande zu halten, mußten landwirtschaftliche Kenntnisse gewonnen werden. Und so wuchsen denn der Zigeunerknabe und das Mädchen auf wie die Wilden. Höchstens, daß sie des Mittags da waren zum Essen, dann des Abends, so daß das Haus zur rechten Zeit zugemacht werden konnte – eine andere Hausordnung gab es nicht. Der Knabe war schon der Schule entlassen, das Mädchen hatte sich dieser Fessel noch ein Jahr lang zu fügen; und sie tat das widerwillig genug!

Sonst aber waren sie frei. Frei wie der junge Morgen, der juchzend seinen Hut in die blaue Luft wirft.

Es war eine schöne Zeit: dieses wilde Jahr. Diese Tage der Hagerose. Sie wurden sinnig und still voneinander, lernten von ihrer Wildheit mehr, als sie je in Schulen hätten lernen können. Lernten das Leben.

Nur daß sie's nicht deuten, nicht halten konnten. Daß sie zu wild waren, aus ihrer Wildheit das Gesetz zu machen: die Schönheit.

Diese Schicht der Besonnenheit fehlte ihnen.

Und weil sie soviel auszukundschaften, Wald und Umgebung zu durchleben hatten, weil ihre Lebensgeister sich recht austobten und nicht zur Ruhe kamen, deshalb wurden sie sich über das Widerstreiten in ihnen niemals klar. Was sich in Ruhe bei ihnen gegeneinander gewandt hätte, da draußen ward es ihnen zu Mut und Unternehmungslust.


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