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Die alte Karoline war je mehr, je länger zu einer Eule geworden. Wenn man sie ansah, glaubte man, sie müsse krächzen. Das ganze Gesicht wie ein Herd mit Löchern für viele Töpfe. Alles welk und seit Jahrzehnten abgeblichen, auch die Treue, die tägliche Gewohnheit kaum ein Verdienst, ein freies Wollen mehr ein Zeichen verkalkter Seele. Alles Leben aber, alle Helligkeit und Schärfe hatten sich in diese klar ausdruckslosen Augen, diese Raubtieraugen ohne Beute zurückgezogen.
Puljohann war schon längst schlafen gegangen. Er hatte gemeint: sie mögen sehen, wie sie reinkommen. Das tut ihnen gut, den Herumtreibern. Die alte Karoline aber war zu ordnungsliebend, so etwas zuzulassen. So spähte sie nun mit ihren Eulenaugen scharf in die Gegend des Waldes: von dort, von Norden her mußten sie ja kommen. Der Wald war sowieso der Deckmantel ihrer Nichtsnutzigkeiten, »ihrer Unduchten«, wie Karoline sich ausließ. Es wurde später und später. Die Schule ihrer Ungezogenheit: der Wald schien sie heute mächtig lange festzuhalten.
Ob sie nachsitzen mußten darin?
Stockfinster: nur in der Ferne, als ob Streichhölzer angerieben wären.
Allmählich stach wie eine feine Spitze auch in der verknöcherten Seele Karolinens etwas wie Unsicherheit: ob sie sich verlaufen hatten? Ob ihnen was passiert war? Sie mußte sich fester auf den Knüppel stützen, mit dem sie den beiden einen warmen Empfang zugedacht hatte. So alte Diener sind eine ganz besondere Sorte: die Umrisse und Obliegenheiten ihrer Stellungen haben sich bei ihnen verwischt. Sie verrichten alles, sind Gebieter und besorgen, stellen Erzieher vor und kehren die Stuben.
Ob sie hineinginge, den Puljohann weckte, und beide sich auf die Suche machten? Doch sie hörte schon den Puljohann knurren, weil sie ihn belästigte und im Schlafe störte – zögerte darum.
Nun horchte sie schärfer auf und legte den Kopf mit dem Ohr auf die Seite, von wannen das Geräusch noch sehr ferner Tritte kommen mußte.
Ja, es kam näher. Aber nur einer. Wie sich bald nach Gangart und Umrissen herausstellte; der Knabe.
Karoline vergaß ganz, über ihn herzufallen, vor Schrecken entfiel der Stecken ihrer knotigen Hand: »Wo ist die Mille?«
Mit verächtlichem Tone rief der Junge:
»Wo sollte sie sein? Auf Thienhausen natürlich! Bei Doktor Weber. Kaum waren wir heraus aus dem Dinge, zogen wir Schuhe und Strümpfe aus und liefen barfuß. Wie wir das immer machen, wenn wir draußen sind und keiner uns zusieht. Und da sind wir gelaufen, sagich dir, gelaufen bis weit hinter Kargensiek. Von da in den Wald. Da haben wir Vogelnester gesehen, auch ein wildes Schwein, ein paar Hasen, ja, auf einer großen Wiese mitten im Holze einen Rehbock mit einer ganzen Masse Ricken und zwei kleine Kitzchen. Und einem Eichhörnchen sind wir nachgeklettert bis obenhin auf die Spitze der Tanne. Die Milla auch, ich sage dir: die kann klettern wie eine Katze, und da oben schrie sie auf einmal ›au!‹ Da hat sie sich was Spitzes in den Fuß getreten von so einem abgebrochenen Teigen. Na, ich half ihr runter und stützte sie, aber es wurde immer schlimmer. Dann trug ich sie mal ein bißchen; aber das dauerte nicht lange. Dazu ist sie zu schwer. Wir kamen nicht weiter, und mit dem Stützen, das half auch nicht viel. Sie mußte doch auftreten, und tat sie es auch so ganz leise: es mußte ihr doch furchtbar weh tun. Schuh und Strümpfe hatte ich ihr natürlich gleich wieder angezogen, auch ihr ein paar Wegerichblätter unter die Sohlen gebunden. Aber das ging immer wieder los. – Da blieb denn nichts anderes übrig, als ich mußte sie nach Thienhausen bringen, daß Doktor Weber ihr den Fuß wieder heil machte. Er war schon ganz geschwollen zuletzt. Doktor Weber ließ mir ein tüchtiges Butterbrot geben und was zu trinken. Dann sagte er: ›Junge, es ist schon neun Uhr; mach, daß du nach Haus kommst, und sage deinen Eltern, daß deine Schwester hier bleiben muß. In drei bis vier Tagen kann sie, falls nichts passiert, wieder bei euch sein.‹ Ich sagte: ›Ich habe keine Eltern, und das ist auch nicht meine Schwester.‹ Da hat der Doktor gelacht und mir die Hand auf den Kopf gelegt. ›Ganz gleich, mein Junge! Dann gehst du eben zu ihren Leuten und sagst es denen. Daß sie sich um das Mädchen nicht ängstigen. Und nun mach dich auf die Strümpfe: eins – zwei – drei –.‹ Bin ich aber gerannt! Verlaufen hab ich mich. Es ist gewiß gar nicht mehr so früh!«
Karoline stand mit offenem Munde da: »Kiners, nee so wat!« Sie ging mit ihm ins Haus. »Nun hast du wohl tüchtigen Hunger«, meinte sie in der Küche.
»Na ja, es macht sich: wir haben da im Holze ordentlich Brombeeren gegessen und an den Hecken Johannisbrot gepflückt – aber, wenn man so eine Tour gemacht hat, dann will man doch noch was Richtiges haben.«
Karoline, die in ihrer Aufregung ihren Zorn vergessen hatte, trug nun auf, was sie für die beiden hingestellt hatte, ohne etwas zu sagen. Nur daß sie von Zeit zu Zeit ihr »nee so wat« wiederholte.
Der Junge aber aß für zwei.
Als das Mädchen nach einigen Tagen wiederkehrte, war sie nicht mehr zu erkennen. Sie hatte einen Einblick getan und erzählte nur immer, wie fein es bei Doktors gewesen sei.
Sie weigerte sich, mit ihrem Gespielen weiter umherzustreifen, weil sich das nicht passe, erklärte ihm auch, sie könne nicht eher mit ihm umgehen, als bis er selbst anständig geworden sei.
Das Wildlingsleben hatte einen Riß bekommen.
Und der war nimmermehr zu heilen.
Eigentlich schade darum: es wäre der beste Weg gewesen, der der natürlichen Entwicklung.
Den sollte man immer gehen, gehen bis zu Ende: nicht abbrechen auf einmal, und dann mit Kultur beginnen!
Wie das mit unserem Heidentum war, mit Brauch und Sprache: man hätte das wachsen lassen sollen, nicht abschneiden.
Wahrscheinlich wären wir religiöser als heute alsdann.
Es ist sonderbar: wo etwas schön ist, fällt man gleich darüber her, es zu Ende zu bringen, zu zerstören, zu fälschen.
Es wäre nicht so vieles häßlich, wenn wir nicht so manches verdorben und häßlich machten.
Und törichterweise sind gerade die Glückskinder, denen nun alles zugute kommt, am meisten darüber aus, den Zauber, den sie haben könnten, zu brechen: die Kinder wollen erwachsen sein, das Volk schämt sich seiner tiefschönen Bräuche und daseinstärkenden Gepflogenheiten.