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Der Weg voneinander

Diese kleine Verwundung hatte bei Ludmilla gewirkt, wie eine Stigmatisation, eine äußere Stigmatisation. Dieses Wundmal, das sie oben auf dem Baume erhalten hatte, verwandelte die kleine Ludmilla nicht, schattierte sie aber so nachdrücklich, daß sie und andere diese Schattierung für eine Verwandlung nahmen und als solche respektierten.

Manierlicher mochte die Kleine geworden sein, wenn sie nun auf sauberes Gewand und gesträhltes Äußere hielt – besser, eigentlicher, mehr sie selbst ward sie dadurch nicht. Im Gegenteil enger, leerer.

Dieses naturgemute Tummeln da draußen, diese fröhlich wilde Kameradschaftlichkeit, diese Weißglut seelischer Zuneigung, die sie nun als überwundene Schwäche, als läppische Spielerei mit Freuden von sich abgelegt fand, war etwas Unersetzliches, Unwiederbringliches.

Mochte sie nun auch mehr über Büchern hocken – nein: manierlich dahintersitzen, mehr mit ihnen sich spreizen, als daraus das andere Buch, das Buch ohne Seiten und Buchstaben, das Buch der beiden Leben – in ihnen und außen – die sie vereinen wollten, das wäre für sie viel wirksamer gewesen.

Nun aber ging sie gespreizt auf der Höhe ihrer Eitelkeit, einer nichtigen Einbildung, und er grollte die letzte Gesellschaft des Lebens hinab in seine aufzischende Seele. Und auch da wuchs sie noch, diese seine unselige niedergefallene Liebe. Je mehr sie wuchs, um so mehr zerriß sie; je mehr sie sich ausbreitete, um so mehr quälte sie ihn und andere.

Und um nicht gequält zu werden, um nicht zu fühlen, wie er gequält wurde, deshalb verletzte er andere, wo er nur konnte. Um nicht selbst verachtet zu werden – vielmehr um die Verachtung, die nun von allen Seiten auf ihn, den Schutzlosen, fiel, nicht zu empfinden, mußte er hassen.

Nein: nicht hassen, nicht diese jämmerliche Auskunft verächtlich machen, alle verächtlich machen ihm gegenüber, mit denen er zu tun hatte: nur das konnte helfen. Selbst Ansehen gewinnen und die Speise des Ansehens: das Geld, das kalte Metall der Verachtung.

Und hierzu hatte sein verstorbener Pflegevater ihm noch das Mittel an die Hand gegeben, da er bestimmte, sein Pflegesohn Hans Weihnacht – diesen Namen hatte er ihm geben lassen solle womöglich auf einer Rentei im Verwaltungswesen sich ausbilden und alsdann seinem Sohne als Rentmeister geregelte Bewirtschaftung seines leider verschuldeten Gutes ermöglichen. Versäume Hans Weihnacht diese Ausbildung, so habe er keinen Anspruch mehr auf Gut und Lebensunterhalt. Weigert sich Walter, den gehörig vorgebildeten Hans Weihnacht anzustellen, so entfalle das Erbe auf Ludmilla.

Hans Weihnacht, der sich später im Grimm über seinen feierlich frommen Namen, als er seiner Feindseligkeit überallhin Zügel schießen lassen konnte, Rotnacht nannte, kannte diese Bestimmung.

Indes sie war nicht allzu leicht zu verwirklichen.

Wie sollte er mit seiner dunklen Vergangenheit und Abstammung, so ganz ohne Vorkenntisse, ohne Fürsprache und Bekanntschaft, eine Stelle als Schreiberlehrling auf einem Rentei-Bureau finden: eine Stellung, die immerhin schon als Vertrauensposten behandelt wurde.

In seinen schlaflos wilden Nächten eröffnete sich ihm endlich eine Aussicht: aber diese Aussicht ging wie mitten durch ihn, durch sein eigenes Herz hindurch.

Seine Verbitterung mußte er allen und jedem gegenüber in geschmeidige Freundlichkeit, seine knurrige Zurückgezogenheit in höflich auftretende Beflissenheit verwandeln. Den Unterricht, den er früher geflohen, nun mußte er ihn demütig und bittend aufsuchen. Aufsuchen bei dem Lehrer, den er, seitdem er der Schule entlassen war, nicht mehr gegrüßt.

Und dann seine Kleidung! Die Mittel, die dafür vormundschaftlich zugebilligt wurden, waren sehr karg bemessen. Der vorhandene Bestand war so verwahrlost, daß sich in diesem Anzüge kein empfehlender Weg machen ließ. Erst wenn im nächsten halben Jahr sein nächster Anzug fällig würde, erst dann konnte er Schritte tun für seine Zukunft, Schritte für seine Rache.

Bis dahin aber – das Hundeleben, wie er es bisher geführt: wie er es nun haßte!

Dann aber – dann aber sollten sie sehen!

Sein Peiniger und das hochmütige Ding da!

Nicht umsonst stammt man aus dem wandernden Volke!

Alle seine Instinkte, alle seine Witterungen sind noch vorhanden. Sie sind nicht erstorben in dieser langen Abwesenheit, sie schlafen nur, brauchen nur angeregt werden, um zu erwachen mit unhemmbarer Glut, die durch lange Verhaltenheit nur neue Nahrung gefunden.

 


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