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Die neunte Vision: Der Turm der Kirche.

1. Dann sah ich jenseits der Säule der Menschheit des Erlösers einen hell erleuchteten Turm, der an jener südlichen Stelle des Gebäudes an die Steinmauer stieß, so daß er von außen und von innen gesehen werden konnte. Im Innern betrug die Breite überall 5 Ellen, die Höhe vermochte ich jedoch nicht zu unterscheiden. Zwischen jenem Turm und der Säule der Menschheit des Erlösers war nur der Grund gelegt, die Mauern darüber fehlten noch; so erschien dieser Raum leer und unvollendet. Lang war er eine Elle. Auch der Turm war noch nicht fertig gestellt; viele Arbeiter waren unablässig damit beschäftigt, ihn schnell und klug zu bauen. Ringsum die Spitze reihten sich sieben Schutzmauern von wunderbarer Stärke. Vom Innern des Gebäudes aber schien mir bis zur Turmhöhe eine Treppe hinanzuführen. Auf dieser Treppe sah ich eine große Menschenmenge auf allen Stufen stehen. Sie hatten feurige Gesichter und weiße Gewänder; an den Füßen aber trugen sie schwarze Schuhe. Manche waren von gleicher Art, andere größer und leuchtender. Sorgfältig betrachteten sie den Turm. Im Norden des Gebäudes sah ich dann Welt und Menschen, die von Adam ausgehen. Sie traten in das Gebäude ein und gingen hinaus. Die Eintretenden trugen ein weißes Gewand. Sie waren voll Freude darüber und wollten es gern behalten, einige von ihnen aber waren wie durch Last und Schwierigkeiten traurig und wollten sich dessen entkleiden. Gütig sagte jene Tugend einem jeden, welche ich vorher als das Wissen Gottes hatten nennen hören: »Betrachte und bewahre dein Kleid, das du trägst.« Manche sah ich durch diese Worte gleichsam gezüchtigt, und es schien sie das Gewand noch mehr zu belasten; diese behielten es mit Mühe an. Wieder andere rasten auf diese Worte hin und warfen es in Wut von sich, kehrten zur Welt zurück, aus der sie gekommen waren und beschäftigten sich mit vielfachen unnützen Dingen und Eitelkeiten. Eine Reihe von ihnen aber kehrte doch wieder zum Gebäude zurück und bekleidete sich aufs neue mit dem Gewand, das sie fortgeworfen hatten. Andere wollten nicht zurück und blieben schamlos in Blöße in der Welt. Die häßlichsten und schmutzigsten Gestalten, von Wut entbrannt, kamen von Norden und stürzten sich von da aus auf das Gebäude; johlend drangen sie zum Turm, als wenn Schlangen zischelten. Manche ließen von ihrer Unsinnigkeit ab, wurden rein; es gab aber auch solche, die in Sünden und Schmutz verharrten. In dem Gebäude, gegen den Turm zu, gewahrte ich noch 7 Säulen aus weißem Marmor, die wundersam rund gedreht standen. Sie waren sieben Ellen hoch. Die Spitze trug eine eiserne runde Täfelung, die sich geziemend zur Höhe reckte. Oben darauf stand eine sehr schöne Gestalt, deren Blick auf die Menschen in der Welt gerichtet war. Ihr Haupt leuchtete wie ein Blitz,, so daß es mir nicht recht sichtbar war. Ihre Hände ruhten ehrfürchtig auf der Brust; die Füße verschwanden in der Täfelung. Wie ein Kranz umsäumte ein heller Lichtstreifen ihr Haupt. Ein goldenes Gewand trug sie, von dem ein Band von der Brust bis zu den Füßen herab hing, das mit kostbarsten Edelsteinen von grüner, weißer und roter Farbe, die Purpurblitze durchzuckten, geziert war. Sie schrie zu den Menschen in der Welt: »Ihr Säumigen, weshalb kommt ihr nicht? Ihr müßt eilen und auf Gott eure Hoffnung setzen, daß er euch hilft!«

2. Außerdem sah ich noch drei andere Gestalten auf dem Boden des Gebäudes stehen; alle wandten sie sich zur Säule der Menschheit des Erlösers und zum Turme. Jene eine, die zu den Säulen hinanschritt, war so groß, daß fünf Menschen Platz genug gehabt hätten.

3. Die andere Gestalt aber schien dreiköpfig, nämlich mit einem Haupt an der gewöhnlichen Stelle und je einem auf beiden Schultern. Das mittlere überragte jene beiden anderen.

4. Der Turm, der sich im Süden an die steinerne Gebäudemauer anlehnt, erscheint deshalb so erleuchtet, weil er vom heitersten Licht der Menschheit des Sohnes Gottes bestrahlt wird.

5. Die Breite des Innern beträgt 5 Ellen, weil die innere Schau und die Betrachtung durch die fünf Sinne unter Eingießung des hl. Geistes mit allen jenen Tugenden, welche das wahre Lamm ihnen offenbart, zur Ehre des Lammes, ihres Bräutigams, zurückgegeben wird.

6. Die Höhe erscheint unermeßlich, weil die Höhe und die Tiefe der göttlichen Weisheit und des Wissens im kirchlichen Werk die Schätzung des gebrechlichen und sterblichen Menschenherzens übertrifft.

7. Zwischen dem Turm und der Säule der Menschheit des Erlösers siehst du nur den Grund, die Mauern fehlen noch, und deshalb sieht der Ort unvollendet und leer aus; er mißt eine Elle, um zu zeigen, daß in der Kirche, die meinem Sohne vermählt ist, das hehre Lob noch im Wissen Gottes verborgen liegt, wie in einem festen Grund; es liegt noch nicht im vollendeten Werk, sondern ruht einstweilen uneröffnet in den Menschenherzen.

8. Die sieben Schutzmauern in der Höhe, die mit bewundernswerter Festigkeit gebaut sind, sollen dartun, daß die Kirche mit den sieben unüberwindlichen Gaben des hl. Geistes begabt ist.

9. Im Innern des Gebäudes siehst du eine Leiter bis oben hinauf, weil in dem Werk, das der himmlische Vater nach göttlichem Plan durch seinen Sohn wirkte, viele Stufen zusammengehören in dem einfachen und höher hinauf schreitenden kirchlichen Bau, nämlich um bis zur Höhe der himmlischen Geheimnisse zu gelangen, welche die Kirche stärken und schirmen.

10. Daher tragen sie auch feurige Gesichter, weiße Gewänder, aber schwarze Schuhe, weil in ihrem Geiste, d. h. dem der apostolischen Führer, der schauende Glaube lebt; ihr Gesicht erscheint deshalb entflammt, weil sie durch die Glut des hl. Geistes an einen Gott glauben. Das Gewand ist weiß, weil sie in der reinsten Klarheit guter Werke vor Gott und der Welt leuchteten; schwarz jedoch sind die Schuhe, denn die Wege des Unglaubens und vielerlei schmutzigen Verbrechens ungläubiger Völker mußten überschritten werden, die sie durch ihr Beispiel zum Weg der Gerechtigkeit, wenn auch mit vielen Schwierigkeiten, umwandelten, auf daß sie das Ziel erreichten.

11. Im Norden des Gebäudes siehst du die Welt und Menschen, welche aus Adams Samen hervorgehen, zwischen der leuchtenden Mauer des schauenden Wissens und dem Kreis um den Thronenden eilends herumgehen. Das bedeutet, daß die Welt und die ihr gehörigen Menschen durch die Schuld der ersten Eltern in fleischlichen Begierden weilen.

12. Daher betreten und verlassen auch zahlreiche durch die Mauer des schauenden Wissens das Gebäude zwischen dem Turm des vorbereitenden göttlichen Willens und der Säule der Gottheit des Wortes, wie eine Wolke auseinander flieht, hierhin und dorthin. Jene, die ihrer Wollust folgten in böser Begierlichkeit, treten heraus. Jene sind's, deren gedankliche Schnelle sie bald zum Guten, bald zum Schlechten führt. Eine andere Schar wiederum erscheint traurig und von Schwierigkeiten gebeugt, so daß sie sich des Gewandes entledigen wollen, da sie von einer sehr schweren Last gedrückt und auf schwierigen Wegen behindert sind. Nicht alle tun es ihnen aber gleich, sondern mehrere werden wie rasend, legen das Gewand voll Wut ab, kehren zur Welt zurück, aus der sie kamen, und lernen viele unnütze weltliche Dinge. Sie wollen vom katholischen Glauben in ihrem eitlen Irren nichts mehr wissen und führen böse Werke aus, die zum Tode gereichen. Einige von ihnen aber kehren zum Gebäude zurück, bekleiden sich wieder und lassen so vom Wege des Irrtums und nehmen das göttliche Werk wieder in sich auf.

13. Es stürzen sich auch schmutzige, tiefschwarze Gestalten wütend von Norden auf das Gebäude und den Turm. Sie schmähen ihn beim Vordringen und johlen, als wenn Schlangen zischeln. Dies soll jene verbrecherischen Menschen versinnbilden, die unter der Einwirkung fröhlicher Stumpfheit in der Schwärze teuflischen Verlangens Gott anblicken. Sie wollen Amt und Kirche, die von Gott bestimmt sind, verschlingen und mit rasender Wut bedrängen, gleichsam wie die alte Schlange täuschendes Zischeln von sich gab.

14. Die sieben weißen Säulen aus Marmor von wunderbar geschnörkelter runder Form, die zwischen dem Gebäude und dem Turm der Kirche stehen, sind ein Sinnbild des hl. Geistes, den der allmächtige Vater zu Schutz und Zier der neuen Braut als siebenfache Gegenwehr gegen alle Widrigkeiten gab. Die runde Form ohne Anfang und Ende bezeichnet die höchste endlose Macht. An der Spitze sieht man eine runde Täfelung, wie aus Eisen, die sich passend etwas nach oben erhebt, denn sie bedeutet in ihrer Klarheit die unbesiegbare und unverständliche göttliche Macht, die jene schützt und mit feinster Rechtmäßigkeit zum Himmel trägt, die sich durch die Gnaden des hl. Geistes fleischlichen Begierden entwinden.

15. Oberhalb der Täfelung siehst du eine prächtige Gestalt stehen, denn die Kraft war im höchsten Vater vor aller Schöpfung. Sie blickt zur Welt, weil sie jene, die ihr folgen wollten, mit ihrem Schutze beschirmt und leitet. Ihr Haupt leuchtet so hell wie der Blitz, so daß ich es nicht ganz erkennen kann, weil die Gottheit in ihrer strahlendsten Helle schrecklich ist für jegliches Geschöpf. Die Hände ruhen züchtig auf der Brust, weil die Kraft der Weisheit sich klug beherrscht und ihre Werke so leitet, daß ihr niemand sowohl an Klugheit noch Gewalt widerstehen kann. Ihre Füße sind deinen Blicken in der Täfelung entzogen, weil ihre Tiefe im Herzen des Vaters für alle Menschen verborgen liegt, und ihre Geheimnisse nur Gott enthüllt sind. Auf ihrem Haupte hat sie einen Reifen, der viel Licht ausstrahlt, wie einen Kranz, weil die Majestät Gottes ohne Anfang und ohne Ende ist und so von der blendenden Helligkeit der Gottheit überfließt, daß die sterblichen Gemüter in ihr zurückgeworfen werden. Von der Brust bis zu den Füßen gleitet ein mit kostbaren grünen, weißen und roten Edelsteinen besetztes Band herunter, weil von Anbeginn der Welt an die Weisheit zuerst ihr Wirken zeigte, bis zum Ende der Zeiten sich ein Weg hinzieht, der mit heiligen und gerechten Geboten geschmückt ist. Zuerst erschien nämlich die Weisheit in der grünen Pflanzung der Patriarchen und Propheten, die in sorgenvoller Arbeit unter Seufzen mit leidenschaftlicher Heftigkeit nach der Menschwerdung von Gottes Sohn verlangten; dann erstrahlte sie in der blendenden Zier der Jungfräulichkeit Mariens; darauf in unerschütterlichem, blutgerötetem Glauben der Märtyrer, schließlich in leuchtender Betrachtung der purpurnen Liebe, in der Gott und der Nächste durch die Glut des hl. Geistes geliebt werden muß.

16. Noch siehst du auf dem Grund des Gebäudes drei andere Gestalten, weil diese Tugenden das Irdische mit Füßen stoßen und Himmlischem nachfolgen. Sie bedeuten die drei Werkzeuge, mit denen die Kirche in ihren Söhnen das Ewige erstrebt. Die beiden anderen stehen seitwärts, weil die Liebe zu Gott und dem Nächsten mit ihrer Ermahnung aufs innigste miteinander vereint sind. Sie wenden sich alle zur Säule der Menschheit des Erlösers und zum schon genannten Turme, weil sie mit gleicher Einmütigkeit dartun, den Sohn Gottes als wahren Gott und wahren Menschen in der Kirche anzubeten und zu verehren.

17. Die an den Säulen schräg aufsteigende Gestalt bedeutet die Gerechtigkeit Gottes, weil sie nach der Weisheit durch den hl. Geist in den Menschen mit all ihrer Gerechtigkeit wirkt. Sie nimmt den Raum von fünf Menschen ein, weil das menschliche Vermögen mit den fünf Sinnen in der Weite des göttlichen Gesetzes sich bewegt. Sie ist auch so schlank, daß ich ihre Länge nicht genau zu unterscheiden vermochte. Sie durchblickt das ganze Gebäude, weil sie, in ihrer Ausbreitung den Menschenverstand übertreffend, aufwärts zu den himmlischen Dingen strebt. Ihr großer Kopf und ihre scharfen Augen bestrahlen den Himmel. Sie ist so licht und hell wie eine heitere Wolke, weil sie in der weißen Reinheit gerechter Menschenseelen wohnt. Das menschliche Äußere würde nicht zu ihr passen, weil sie mehr dem Himmel angehört als der Erde.

18. Die erste Gestalt an ihrer Seite zeigt die Kraft. Nach der göttlichen Gerechtigkeit erhebt sie sich wie die Fürstin vor dem Angesicht des Himmelskönigs. Sie tritt bewaffnet auf. Der Helm, das Zeichen der Kraft, zum Heil der Gläubigen, schmückt sie. Durch den Panzer, d. h. das christliche Gesetz, wird gerechterweise der Pfeil teuflischer List zunichte gemacht. Die Beinschienen zeigen an, daß man auf rechtem Wege, d. h. nach der Lehre der hervorragenden Lehrer wandeln muß. Die Armschienen aber, daß die Gläubigen ihre größten Taten in Christus vollenden. In der Rechten schwingt sie ein gezücktes Schwert. Unter ihren Füßen siehst du sodann einen schrecklichen Drachen zertreten, weil sie durch den rechten Weg die alte schauervolle Schlange ihrer Macht unterwirft.

19. Die letzte Gestalt bedeutet die Heiligkeit, weil auf den mit Kraft geführten Kampf gegen den Teufel die Heiligkeit die Menschen zu Himmelsbürgern ziert. Sie ist dreiköpfig, weil sie auf dreifache Art die Vollendung schafft. In gerechtem und würdigem Handeln muß Gott als das Haupt aller wahren Freuden gefürchtet und verehrt werden. Das mittlere Haupt überragt jene beiden seitlichen Köpfe, weil jener, der der Richter über Gute und Böse ist, alles überragt. Der mittlere und der rechte Kopf leuchten so stark, daß deren Helligkeit deine Augen blendet, und du nicht sicher erkennen kannst, ob sie nach männlicher oder weiblicher Art gebildet sind. Wieso? Die Heiligkeit ist auf ihrem Höhepunkt, im Glücke ewiger Wonne so vom Licht der göttlichen Gnade übergossen, daß der menschliche Verstand die Tiefe ihres Geheimnisses nicht begreifen kann. Das linke Haupt ist etwas dunkler und nach Frauenart mit einer weißen Hülle verschleiert, weil sich die Vollendung, die sich kräftiglich aus Liebe zu Gott bezwingt, beim anstürmenden Kampf mit dem Teufel in demütigster Unterwerfung in der strahlenden Schönheit christlichen Streites dem göttlichen Erlöser mit frommen Seufzern anempfiehlt.


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